Neue „Enthüllungen“ über den Nowitschok-Anschlag auf Nawalny

Medien und Bellingcat überbieten sich in investigativen Recherchen und Berichten vom Hörensagen, um Putin für die anscheinend stümperhaft durchgeführte Vergiftung verantwortlich zu machen.

Mit einem Scoop wollen Der Spiegel (Das sind die Männer, die Nawalny töten sollten) mit CNN („Eliteganten“) zusammen mit Bellingcat und The Insider den Fall Nawalny und den russischen Geheimdienst FSB wieder mit angeblich neuen Enthüllungen aufrollen. Ähnlich wie im Fall Skripal werden nun acht mögliche Verdächtige aus einer Gruppe von 15 Männern genannt, die Nawalny seit 2017 beobachtet haben und mit chemischen Experten aus Laboren, die irgendwie mit dem Nowitschok-Programm verbunden sein sollen, in Kontakt gewesen sein sollen. Das Team habe aus „Spezialisten für Toxine und Nervengifte“ bestanden, so CNN.

Sie seien wiederholt zu Reisezielen Nawalnys vorausgeflogen, auch unter ihrem eigenen Namen, und seien nach dem Anschlag aus Sibirien wieder zurückgekehrt. Dass die acht Personen den Anschlag begangen haben, dafür gibt es keine Belege, es handelt sich wie auch bei Verschwörungstheorien üblich um ein Netz von Beziehungen, Reisen und GPS- und Lokalisierungsdaten. Es ist die Methode von Bellingcat, nur Zusammenhängen nachzugehen, die das gewünschte Resultat bestätigen. Nawalny habe auf Fotos keinen der Männer wiedererkannt.

Die Berichterstattung um den mutmaßlichen Nowitschok-Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny war schon weitgehend wieder eingeschlafen, nachdem sie für eine Bekräftigung der Aktivitäten des Reichs des Bösen sorgte und neue Sanktionen sowie den Druck auf Einstellung der Pipeline Nord Stream 2 legitimierte. Die offenen Fragen interessierten nicht mehr, es scheint festzustehen, dass hinter dem missglückten Anschlag wieder einmal die russischen Geheimdienste stecken und letztlich auch der im Westen dämonisierte Präsidenten Wladimir Putin, der für alles direkt verantwortlich gemacht wird, was in Russland geschieht.

In Deutschland hat als erste die AfD gewagt, das von der Bundesregierung gestrickte Narrativ zu hinterfragen. Dabei kam heraus, dass die Bundesregierung nicht willens ist, viele entscheidende Fragen zur angeblichen Beweisfindung zu beantworten. Sie will nicht einmal wissen, wer sich in dem Flugzeug befanden, das den angeblich mit Nowitschok vergifteten Oppositionspolitiker und womöglich kontaminiertes Material wie die vom Nawalny-Team vom Tatort entwendete Wasserflasche nach Berlin brachte. Erklärt wird lediglich, dass es weitere Gegenstände mit Nowitschokspuren gegeben habe. Die Bundesregierung gibt sich auch desinteressiert daran, ob „das medizinische Personal, das Nawalny Ersthilfe leistete, auf Vergiftungsspuren untersucht wurde, Schutzkleidung getragen hat oder Krankheitssymptome“ zeigte. Das ist auch deswegen seltsam, weil Nawalny, den die Kanzlerin dann auch noch im Krankenhaus besuchte, unter erhöhtem Polizeischutz stand und man den Rettungseinsatz dadurch rechtfertigte, dass Nawalny Opfer eines Verbrechens geworden sei (Fall Nawalny: „Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor“).

Zudem werden bislang die russischen Rechtshilfeersuchen verweigert. Die seien an die zuständigen Behörden weitergegeben worden, wo sie noch immer liegen. Nachdem die AfD vorgeprescht war, hat nun auch die Bundestagsfraktion der Linken es gewagt, ebenfalls mit einer Kleinen Anfrage nachzufassen. Offenbar aus Vorsicht, nicht in Misskredit gebracht zu werden, wenn man nach der Beweislage fragt, konzentriert sich die am 9. Dezember eingereichte Anfrage auf die Rechtshilfeersuchen und deren Nicht-Erledigung sowie darauf, ob und mit welcher Begründung Nawalny es ablehnt, russische Behörden im Zuge der Rechtshilfeersuchen zu informieren.

Das Nawalny-Team lenkte bekanntlich zunächst die Aufmerksamkeit auf den Flughafen, in dem der Oppositionspolitiker einen Tee trank. Dann wurde erklärt, dass der Tatort bereits im Hotel gewesen sei, wo Nawalny – und nur er – durch eine Wasserflasche vergiftet worden sei. Das Team mit Maria Pewtschich erstellte über die eigenmächtige Durchsuchung des Hotelzimmers ein Video, in dem drei Wasserflaschen gezeigt werden. Pewtschich soll eine oder die drei dann nach Omsk gebracht und dann mit dem Rettungsflugzeug nach Berlin gebracht haben. Nach nicht offiziell bestätigten Medienberichten hatte das Bundeswehrlabor auf einer Flasche eine Nowitschok-Verbindung festgestellt, was dann dazu gedient haben könnte, die Verbindung in den Proben von Nawalny nachzuweisen. Aber das sind Spekulationen.

Nachdem diese Geschichte nicht gut ankam, brachte Nawalny eine weitere Version ins Spiel. Man habe das Gift wahrscheinlich auf seine Kleidung aufgebracht. Deswegen habe man diese auch nicht mit dem Rettungsflugzeug nach Berlin gebracht. Das führte nun zu einer neuen Geschichte, die die britische Times am Wochenende auf Grundlage von Informationen von nicht näher genannten Geheimdienstquellen „aufdeckte“. Danach hätten russische Geheimdienstagenten sogar zweimal versucht, Nawalny zu töten. Das zeige, so die Times-Lehre, wie „politische Morde, die häufig im Sowjetzeitalter eingesetzt wurden, wieder eine wichtige Rolle im Repertoire der Einschüchterungstaktiken des Kreml spielen“.

Nach der Times-Story wurde Nawalny zuerst im Hotelzimmer durch ein Kleidungsstück, wahrscheinlich Unterwäsche, vergiftet. Als Nawalny unterwegs war, seien Geheimdienstagenten in sein Hotelzimmer vor dem Abflug eingedrungen. Stunden später brach dann Nawalny im Flugzeug zusammen. Die Piloten, die trotz einer Bombenwarnung, auf einer Notlandung bestanden, hätten ebenso wie die Besatzung des Krankenwagens, die ihm Atropin verabreichten, Nawalny das Leben gerettet – offenbar ungehindert durch den Geheimdienst.

Vor dem Abflug nach Berlin hätten dann Geheimdienstagenten noch einen Nowitschok-Anschlag auf den im Koma im Krankenhaus liegenden Nawalny versucht. Das sollen deutsche Geheimdienstagenten ihren britischen Kollegen gesagt haben. Gescheitert sei das wiederum deswegen, weil Nawalny Atropin verabreicht wurde. Angeblich war Nawalny deswegen unter erhöhtem Polizeischutz in Deutschland, weil man einen weiteren Anschlag fürchtete. Das würde allerdings noch einmal belegen, wie doof der russische Geheimdienst vorgeht, was ja auch schon im Fall Skripal so war.

Der Times-Journalist folgt nicht der mitunter auch geäußerten Ansicht, dass der Geheimdienst nicht gescheitert sei, sondern mit den überlebenden Skripal und Nawalny Abschreckungsbotschaften senden wollte. Nach ihm wollte er Nawalny töten und würde sich so als stümperhaft erweisen. Bei Skripal war die Begründung schon schwer gefallen, warum ausgerechnet der 2004 wegen Hochverrat verurteilte und 2010 aus dem Gefängnis durch einen Austausch nach Großbritannien entlassene Ex-Geheimdienstler noch getötet werden sollte. Nawalny wird entsprechend wie in der Times hochstilisiert. Er sei der einzige russische Oppositionelle, der den Protest zu einer „Massenrevolte“ bringen könne. Nawaly trägt zu dem Mythos bei, wenn er sagt, sein Tod durch Vergiftung wäre „schon immer“ geplant gewesen und dann im August ausgeführt worden, weil Putin Angst bekam.

Nun also die neue Story über die „mutmaßlichen“ Täter aus den Reihen des FSB, die seit Jahren hinter Nawalny her gewesen sollen. Drei von ihnen seien auch in der Zeit, als Nawalny in Nowosibirsk und Tomsk war, dort gewesen, Alexey Alexandrov (Frolov) habe zweimal sein eigenes Handy benutzt, einmal in der Nähe des Hotels, in dem sich Maria Pewtschich aufgehalten hat, und einmal in der Nähe des Hotels von Nawalny. Dann seien die drei, nachdem bekannt wurde, dass Nawalny überlebt hatte, nicht nach Moskau zurückgeflogen, sondern nach Gorno-Altaisk. Dorthin sei auch Oleg Tayakin, der zur Gruppe gehören soll, aus Moskau gekommen. Angeblich wollte man in dem nahegelegenen „Institut für Probleme chemischer und energetischer Technologien“, das wiederum mit dem FSB-Institut für Forensik in Verbindung stehen soll, Kleidung mit Nowitschok-Spuren loswerden.

Wie die Times wird auch von einem zweiten Anschlag berichtet, aber der soll schon zuvor in Kaliningrad stattgefunden haben, wohin das FSB-Team auch Nawalny und seiner Frau Julia gefolgt sei. Am 6. Juli soll Julia, nachdem das Team kurz zuvor abgereist war, plötzlich erschöpft und desorientiert gewesen sein. Nach Experten, so CNN, seien dies Anzeichen einer leichten Vergiftung (könnten aber auch tausend andere Ursachen haben). Für Nawalny ist klar, dass sie dieselben Symptome zeigte wie er später in dem Flugzeug. Danach habe die Handykommunikation von zwei Dutzend FSB-Mitarbeitern zugenommen.  Und dann soll Nawalny auch noch 2019 auf einem Langstreckenflug dieselben Symptome bemerkt haben.

So werden erst einmal Vermutungen verstärkt, die richtig sein oder ganz daneben liegen können, aber keine Beweise vorgelegt. Und weil zwei Mitglieder der angeblichen Eliteeinheit kurz vor dem Giftanschlag nach Sotchi geflogen seien, wo sich die russische Führungselite gerne im Sommer aufhalte, müsse man auch davon ausgehen, dass die Aktion von ganz oben abgesegnet wurde. Gut möglich, dass Bellingcat und Co. auf der richtigen Spur sind. Gleichzeitig macht miusstrauisch, dass eine angebliche Eliteeinheit des russischen Geheimdienstes so viele Spuren hinterlässt und so stümperhaft scheitern, was auch das angebliche Chemiewaffenprogramm angeht. Das würde eher dafür sprechen, dass das System Putin weitaus schwächer ist, als dies gerne stilisiert und dämonisiert wird.

Für Nawalny liegt alles natürlich auf der Hand. Es können für ihn keine FSB-Mitarbeiter sein, die für Oligarchen oder Beamte handeln, die Nawalny mit seinen Korruptionsermittlungen geschädigt hat: „Eine gesamte FSB-Abteilung unter der Leitung hochrangiger Beamter führt seit zwei Jahren eine Operation durch, bei der sie mehrmals versuchen, mich und meine Familienmitglieder zu töten, indem sie in einem geheimen staatlichen Labor chemische Waffen beschaffen. Natürlich kann eine Operation dieser Größenordnung und dieser Dauer von niemand anderem als dem Chef des FSB Bortnikov organisiert werden, und er hätte es niemals gewagt, dies ohne den Befehl von Putin zu tun.“

 


 

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