Baltikum – Wer hat Angst vor dem 9. Mai

St.-Georgs-Band. Bild: GuentherZ/CC BY-SA-3.0

Die Polizei wie die Geheimdienste in Riga ebenso wie in Tallinn sind am 9. Mai in Alarmbereitschaft – an diesem Tag feiert Russland den Sieg über NS-Deutschland, der sich zum 77. Mal jährt. Im Baltikum ist dieses Gedenken diesmal besonders unwillkommen.

„Der Zunder ist trocken und ein kleiner Funken genügt, um den Konflikt zum Ausbrechen zu bringen“, warnte der estnische Polizeichef Elmar Vaher.

„Russland hat sich in diesem Jahr erneut als aggressiver Staat etabliert, der bereit ist, das Selbstbestimmungsrecht eines anderen unabhängigen Staates im Namen seiner imperialen Ambitionen offen zu missachten“, sagte der Chef des lettischen Inlandsgeheimdienstes VDD, Normunds Mezviets.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine sind in Lettland und Estland mit ihren russischen Minderheiten jegliche Zeichen, die auf den russischen Angriff in der Ukraine hinweisen, wie etwa das „Z“, verboten. Auch das schwarz-orangene St.-Georgs-Band, das an den Sieg über das Dritte Reich erinnert, darf nicht gezeigt werden. Floristen in Estland behaupteten sogar, sie wurden von der Polizei aufgefordert, keine roten Nelken zu verkaufen, die Blume der Sozialisten. Friedhofsgänge und Kranzniederlegungen sind in beiden Ländern nicht verboten, in Lettland werden sie jedoch offiziell als Provokation angesehen.

Das Lettische Parlament hat festgelegt, dass zweihundert Meter entfernt von sowjetischen Denkmälern keinerlei Manifestationen stattfinden können – um das „demokratische System Lettlands“ schützen zu können. Die Kammer in Riga hat das brisanten Datum als Gegenstrategie zum „Erinnerungstag an die Kriegsopfer in der Ukraine“ erklärt. Die Bevölkerung Lettlands soll dann öffentlich Sympathie mit der dortigen Bevölkerung zeigen.

In beiden Ländern machen die Minderheiten etwa 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung aus. Russische Staatssender sind dort seit Anfang März nicht mehr zu empfangen.  In Lettland hat das Meinungsforschungszentrums SKDS herausgefunden, dass unter der russischsprachigen Bevölkerung nur noch 13 Prozent auf russischer Seite stehen.

In Estland  würden nach dem öffentlich-rechtlichen TV-Sender ERR 25 Prozent der Russischstämmigen Putin unterstützen, die gleiche Anzahl sich gegen ihn aussprechen, der Rest halte sich mit einer Meinung zurück.

Sorgen bereitet im Baltikum die Theorie, dass am 9. Mai der russische Präsident Wladimir Putin der Ukraine offiziell den Krieg erklären und eine Massenmobilmachung veranlassen könnte.

Bereits am 23. April sammelten sich in Riga mehrere hundert Menschen, die unter dem Motto „Russische Stimmen gegen den Krieg“ die Aggression des Kremls scharf verurteilten. In den russischsprachigen Theatern in der ostlettischen Stadt Daugavpils werden derzeit Stücke aufgeführt, die sich beispielsweise mit der Situation im Donbass auseinandersetzen.

Integrativ wirkt der Krieg jedoch nicht. Auch Russischstämmige in Lettland, welche offen den Krieg gegen die Ukraine verdammen, beschweren sich, dass sie sich nun ständig rechtfertigen müssen, so der Theaterdirektor Dmitry Petrenko. Auch manche Letten seien „Putinisten“, da sie ein autoritäres System bevorzugen.

Position beziehen muss die sozialdemokratisch ausgerichtete Partei „Harmonie“, die von Kritikern als verlängerter Arm des Kremls gesehen wird, die jedoch  auch von 2009 bis 2019 mit Nils Usakovs den russischstämmigen Bürgermeister von Riga stellten. „Lettische Russen sind keine russischen Russen, deshalb müssen wir alles tun, um die lokale russische Identität zu stärken“, meinte dieser bei einer Parteisitzung am 1. Mai, bei der er auf Lettisch und auf Russisch sprach. Seine Partei hatte die Invasion in die Ukraine sofort verurteilt.

Entwarnung gibt für den kommenden Montag das „NATO-Exzellenzzentrum für strategische Kommunikation“ in Riga. Der Kreml sei derzeit zu sehr mit der Ukraine beschäftigt, um sich im Baltikum am 9. Mai einzumischen, glaubt Direktor Janis Sarts.

Ältere Menschen in den drei baltischen Ländern, die russischsprachig sind, haben zumeist keine Staatsangehörigkeit, da sie die Sprachprüfung nicht schaffen oder schaffen wollen. Ein Problem, das ebenso wie die Sprachenpolitik immer wieder aus Moskau kritisiert wird. In Litauen machen die Russischstämmigen nur rund fünf Prozent aus, auch dort sind die Behörden auf mögliche Unruhen vorbereitet. Demnächst sollen auf dem Friedhof in Vilnius sowjetische Denkmäler abgebaut werden, was wieder Konflikte hervorrufen wird.

Allgemein ist der 9. Mai kein beliebtes Datum bei ethnischen Balten. Die Sowjetunion nahm nach der Rückeroberung der baltischen Staaten bei Kriegsende Rache an allen, die mit den deutschen Besatzern kooperiert hatten, viele Tausende wurden in Lager deportiert. Der antisowjetische Partisanenkampf, welcher heute dort etwas einseitig verklärt wird, dauerte bis in die Fünfziger Jahre.

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2 Kommentare

  1. Auch im KZ Bergen-Belsen waren Russland und Weißrussland bei dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus ausgeladen. Die Deutschen meinen nun, dass sie selbst besser als Russen und Weißrussen den Opfern derDeutschen gedenken und Kränze niederlegen können:

    „Die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten hatte im Vorfeld die politischen Vertretungen aus Russland und Belarus gebeten, am 8. Mai keine Kränze und Besucher zu schicken. Es sollte verhindert werden, dass die Opfer mit aktuellen politischen Äußerungen zum Ukraine-Krieg instrumentalisiert werden, sagte eine Sprecherin der Stiftung. Stattdessen wollten die Organisatoren selbst Kränze mit weißen Schleifen für die russischen und belarussischen Opfer niederlegen.“

    https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Gedenken-in-Bergen-Belsen-ohne-Russland-und-Belarus,bergenbelsen726.html

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