Belarus: Welche Interessen stecken hinter der Verhaftung des Journalisten Protasewitsch?

Raman Protasevich in einem Video des weißrussischen Fernsehens.

Die Konsequenzen sind vermutlich Wirtschaftssanktionen von den USA und der EU und eine stärkere Abhängigkeit von Russland. Aber auch die bedrängte Opposition wird nun mehr Unterstützung aus dem Westen erfahren.

Am Sonntag zwang eine MIG-29 das Flugzeug von Ryan Air mit dem Journalisten an Bord auf seiner Strecke von Athen nach Vilnius zur Landung in Minsk, offiziell aufgrund einer Bombenwarnung.

Mit diesem Akt hat Staatspräsident Aleksander Lukaschenko die fragwürdigen Praktiken seiner autoritären Herrschaft auf die internationale Agenda gebracht. Die Konsequenzen sind vermutlich Wirtschaftssanktionen von den USA und der EU und eine stärkere Abhängigkeit von Russland. Aber auch die bedrängte Opposition wird nun mehr Unterstützung aus dem Westen erfahren. Und beide haben mit Protasewitsch ähnlich wie mit Alexej Nawalny in Russland einen Helden.

„Ich werde gut behandelt und es erfolgt alles den Gesetzen nach.“  Der Auftritt des 25-jährigen Protasewitsch im belarussische Staatsfernsehen war ein Dokument gelungener Einschüchterung – bezüglich des Verhafteten und als Signal an weitere Lukaschenko-Gegner. Protasewitschs Vater Dsmitrij, der in Breslau wohnt, glaubt, dass sein Sohn vorher geschlagen wurde, um ein solches Geständnis zu geben, auch die Nase sei gebrochen.

Mittlerweile knapp 27 Jahre regiert Aleksander Lukaschenko mit diktatorischen Mitteln die ehemalige Sowjetrepublik. Seit den Protesten gegen mögliche Wahlmanipulation bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen August geht er deutlich rigoroser gegen die Opposition im Land vor, es gibt etwa 400 politische Gefangene, viele Aktivisten sind ins Exil geflüchtet.

Wie Roman Protasewitsch und Stepan Putilo, welche das Nachrichtenportal Nexta auf dem Messengerdienst Telegram gründeten, das sich zum wichtigsten Informationsmedium während der Proteste etablierte. Es wurde im vergangenen Oktober von der belarussischen Regierung als terroristische Vereinigung eingestuft.

„Das Regime glaubt wirklich, dass wir zwei Jungs, 22 und 25 Jahre alt, zu seiner Schwächung geführt haben“, sagte Putilo, der in Polen wohnt, gegenüber der in Warschau herausgegebenen Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Putilo wurde nach seinen Angaben aktuell mit Todesdrohungen von Lukaschenko-Anhängern konfrontiert. Seiner Meinung nach geht die Aktion auf Konto des Diktators, der eine Gelegenheit nutzte.

Um seinen Freund mache er sich Sorgen, im Gefängnis werde nicht nur geschlagen, sondern es würden auch chemische Substanzen bei den Verhören genutzt. In den staatsnahen Medien wird die Verhaftung als Meisterstück der weißrussischen Behörden gefeiert und der Verhaftete als Terrorist geschmäht.

Für Natalia Radina, die Leiterin der oppositionellen Webseite „Charta‘97“ in Warschau ist die Verhaftung ein Hinweis darauf, dass „Lukaschenko ein verrückter Diktator ist.“ Das erklärte sie auf Anfrage. Sie verweist auf die politischen Gefangenen, auf Todesfälle und Folter in den Gefängnissen. Nur konsequente Wirtschaftssanktionen hätten einen Effekt auf die Regierung. Die USA und die EU sollten hier kooperieren, so Radina, welche Belarus nach den Protesten gegen die Präsidentschaftswahl 2010 verlassen musste.

„Ich denke, dass die Aktion von Russland inszeniert wurde“, so Aleksy Dzikawicki, Nachrichtenchef des TV-Senders „Belsat“ in Warschau am Telefon. Darauf weise auch der EU-Gipfel hin, der am Montag folgte. Aleksander Lukaschenko sei so vom Westen stärker isoliert und noch mehr auf die Unterstützung Russlands angewiesen. Die weißrussischen Kräfte kämen gar nicht auf die Idee, eine solche Aktion umzusetzen. „Niemand soll sich sicher fühlen“, sei die Doktrin Russlands gegen seine Staatsfeinde. Mit der Zwangslandung sei dies eindrucksvoll demonstriert worden.

Auch er plädiert für Wirtschaftssanktionen. Belsat erfährt vor allem finanzielle Unterstützung durch Polen, mehrere Journalisten wurden letztens wegen angeblich staatsfeindlicher Aktivitäten inhaftiert.

Die Frage, inwiefern die riskante Aktion allein auf das Konto des belarussischen Staatspräsidenten geht oder ob auch Russland involviert sei, teilt derzeit die Beobachter –  am Sonntag verließen vier russische Staatsbürger in Minsk das Flugzeug, dies könnte ein Hinweis sein. So sieht es etwa der russische Oppositionspolitiker Ija Jaschin, der eine Zusammenarbeit der Geheimdienste FSB (Russland) und KGB (Weißrussland) für wahrscheinlich hält.

Kreml-Sprecher Dmitry Peskov wollte den Vorfall erst nicht kommentieren, erklärte aber am Dienstag, die erzwungene Landung sei „in Übereinstimmung mit internationalem Recht“ geschehen. Eine mögliche Verwicklung seines Landes wies er als „antirussische Obsession“ zurück.

Auch von Russlands Außenminister Sergej Lawrow gab es Unterstützung für Lukaschenko – der Politiker wies auf mögliche Verwicklungen amerikanischer Dienste in angebliche Anschlagspläne auf Lukaschenko.

Auf der anderen Seite nannte Konstantin Zatulin, der Vorsitzende der Duma, des russischen Parlaments,  die Verhaftung „niederträchtig“ und warnte vor „internationalen Komplikationen“, welche Russland schaden würden. Wohl eine Anspielung auf den kommenden Gipfel zwischen Joe Biden und Wladimir Putin, der am Dienstag auf den 16. Juni in Genf festgelegt wurde. Als mögliche Felder der Kooperation gelten nukleare Abrüstung, das Verhältnis zu Iran und Nordkorea.

Zuvor, Ende Mai, ist eine Begegnung zwischen Lukaschenko und Putin angesetzt. Dabei wird der belarussische Politiker, dessen Wirtschaft stark von Russland abhängig ist, auf niedrigere Energiepreise drängen. Das Land mit zehn Millionen Einwohnern ist mit 18,3 Milliarden Dollar Auslandsschulden belastet, wobei Russland Hauptgläubiger ist.

Es bleiben viele offene Fragen. Lukaschenko blieb auch so lange an der Macht, da er eine Balance zwischen Russland und dem Westen schaffte, auch vom letzteren bekam er Kredite. Und gelegentlich erlaubte er sich kämpferische Töne gegen Moskau, beide Länder sind in einem Staatenbund, gegen dessen Umsetzung sich der weißrussische Politiker stets gesträubt hatte.

Zwar erkennt die EU Lukaschenko seit November nicht mehr als rechtmäßiges Staatsoberhaupt an, die bisherigen Sanktionen waren jedoch nur personenbezogen. Zudem  versuchte Lukaschenko die Beziehungen zu Brüssel zu verbessern. So traf sich sein Außenminister Sergej Aleinik Ende April mit Dirk Schuebel, dem Vorsitzenden der EU-Delegation für Belarus, um die gegenseitigen Beziehungen zu stärken. Auch gab es eine medizinische Hilfslieferung der EU zur Pandemie-Bekämpfung.

Nach Einschätzung der „Jamestown Foundation“, veröffentlicht zum gleichen Zeitpunkt, wäre der Diktator bemüht, das Verhältnis zum Westen wieder zu verbessern.  Woher nun der Sinneswandel? Hat Putin Lukaschenko keine Wahl gelassen, um Belarus mehr zu binden? Oder ist Lukaschenko wirklich in Furcht vor der Opposition so radikal geworden, dass er lieber seine Herrschaft durch Sanktionen gefährdet?

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