Bevölkerung zwischen Fronten

Proteste vor dem Regierungsgebäude in Formosa. Screenshot von YouTube-Video

Im Norden Argentiniens und in Paraguay steigt die Bevölkerung auf die Barrikaden

 

Seit Wochen wird gegen den peronistischen Gouverneur der nördlichen Provinz Formosa, Gildo Insfrán, protestiert, der dort seit einem Vierteljahrhundert wie ein Feudalherr regiert. Während der Coronakrise ließ er kurzerhand die Bundesstraßen wochenlang blockieren und niemand kam mehr rein oder raus.

Auch die Weiterfahrt ins benachbarte Paraguay war unmöglich. Die Polizei verhaftete nachts Personen und sperrte sie in vergitterte „Isolationszentren“, weil sie Kontakt zu Infizierten hatten, ohne richterliche Anordnung, ohne medizinische Mindeststandards und ohne zeitliche Begrenzung. Es kam zu Nervenzusammenbrüchen, eine Gefangene erlitt eine Fehlgeburt. Die UNO, Amnesty International und Human Rights Watch protestierten, und aus Buenos Aires reisten oppositionelle Politiker des rechten PRO an und schwangen plötzlich die Fahne der Menschenrechte.

Die Provinz war schon immer ein Armenhaus, aber mit der Pandemie wurde alles noch viel schlimmer. Monatelang wurden die Leute in ihren Behausungen eingesperrt, bestenfalls, wenn sie nicht in den „Isolationszentren“ landeten. Die Polizei fiel in den Dörfern der Qom ein und verschleppte willkürlich Menschen wegen Verstoßes gegen den Lockdown.

Aber wer nicht vom öffentlichen Dienst lebte, hatte gar keine andere Chance, als sich einen Job und etwas Essbares zu suchen. Und seit einer Woche spitzt sich die Situation täglich zu, nachdem Insfrán überraschend verfügt hatte, wieder zur härtesten Phase des Lockdowns zurückzukehren. 26 positive Corona-Fälle waren aufgetaucht und nun sollen die Leute weitere vierzehn Tage eingeschlossen werden. Doch nun, so hat es den Anschein, hat er die Kontrolle über die Straße verloren.

In Argentinien ist Sommer, im restlichen Land sind die Kneipen wieder offen, Restriktionen kaum zu spüren. Der Lockdown hatte ohnehin kein nachweisbares Ergebnis auf die Virusverbreitung. Und im Norden ist es extrem heiß. Der neue Lockdown hätte vor allem Händler und Handwerker endgültig um ihre Existenz gebracht. Die Polizei versuchte, ihre Proteste niederzuknüppeln, Dutzende wurden verletzt, darunter viele Journalisten. Félix Díaz, Cacique der Qom, erklärte vor den Kameras, dass ihm aus Buenos Aires Unterstützung angeboten wurde, wenn er die „Cámpora” unterstütze, eine Truppe, die vom Sohn der Vizepräsidentin Cristina Kirchner angeführt wird.

Regierung unter Druck

Präsident Alberto Fernández hält sich noch bedeckt. Er sei „besorgt über die Gewalt der Polizei“ meinte er, aber die Provinz unter Zwangsverwaltung stellen, wolle er nicht. Gegen ihn hagelt es aus allen Richtungen Kritik. Nicht nur die (rechte) Opposition nutzt den neuen Impfskandal aus: Im „Vacunatorio Vip“ (einer heimlichen Impfstation für besonders wichtige Freunde der Regierung) wurde unabhängig von Alter, Vorerkrankungen und Beruf das Vakzin Sputnik V verabreicht – eigentlich Privilegienwirtschaft wie immer, aber diesmal war die Empörung in der Bevölkerung groß. Russland liefert viel zu wenig Sputnik V – und dann lassen sich dralle 30-Jährige immunisieren, während hunderttausende Greise seit einem Jahr zu Hause ausharren! Sein Gesundheitsminister musste sein Amt niederlegen.

Und Vizepräsidentin Kirchner macht Druck, weil Fernández nicht schnell genug Straffreiheit für ihre zahlreichen Korruptionsprozesse garantiert, sei es durch Absetzung von Richtern und Staatsanwälten, eine gerade eingesetzte parlamentarische Kommission zur Beobachtung der Justiz oder durch vorgezogene Begnadigung oder Amnestie. Auch die Justizministerin hat gerade entnervt ihren Hut genommen.

Provinzfürst Insfrán ist Parteifreund, die Regierung braucht seine Stimmen. Während der Presse zunächst der Zugang verwehrt wurde, schickte Fernández seinen Menschenrechtssekretär Pietragalla Corti nach Formosa. Der hatte dort nichts zu beanstanden und bezeichnete das Thema als „von den Medien aufgebauscht“. Im Regierungsfernsehen verlor der Moderator Joaquin Sánchez seinen Job, weil er die Geschehnisse in Formosa kritisch kommentiert hatte. Kabinettschef Santiago Cafiero meinte in arroganter Manier, die Regierung müsse sich von niemandem an die Grundrechte erinnern lassen.

Die rechte Opposition nutzt die Unruhen für ihre Zwecke, und diese Parteipolitisierung ist nicht allen recht. PRO-Chefin Patricia Bullrich fuhr mit publizistischem Tamtam nach Formosa und forderte „Menschenrechte“ ein, eigentlich nicht das, wofür sich ihre politische Gruppierung bislang stark gemacht hatte. „Wir machen keine Parteipolitik und gehören nicht zur Opposition“, distanzierte man sich auf einer Kundgebung in Buenos Aires. „Wir wollen einfach wieder in Ruhe arbeiten“, erklärte ihr Sprecher Pablo Siedig, der in Formosa in drei Läden Textilien verkauft, zwei davon musste er im letzten Jahr wegen der Pandemie schließen. Von der Linken ist mi Formosa-Konflikt wenig zu vernehmen.

In Paraguay fordern Demonstranten den Rücktritt der Regierung

Aber die Situation hat inzwischen auf das Nachbarland übergegriffen. Der Río Pilcomayo trennt Formosa von Paraguay, auch ein Armenhaus des Kontinents, jedenfalls für die Mehrheit der Bevölkerung. Dort fehlt ein auch nur halbwegs funktionierendes Gesundheitssystem, viele Paraguayer überquerten traditionell die Brücke und ließen sich im Nachbarland behandeln. Aber die Brücke ist wegen Covid geschlossen. Bisher sind von den über sieben Millionen Paraguayern erst 4000 Personen geimpft worden, und niemand weiß, ob und wann es mehr werden.

 

Durch die Corona-Restriktionen ist der Grenzverkehr zum Erliegen gekommen – und mit ihm auch der Schmuggel von Waren aller Art. Auch das sind Arbeitsplätze. Letzte Woche kam es in Asunción zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, mit Tränengas und Gummigeschossen. Die Demonstranten forderten den Rücktritt der Regierung, bisher ging aber nur der Gesundheitsminister. Aber die Situation ist alles andere als befriedet.

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