Deutschland und die Herrschaft der extremen Mitte

Extreme Mitte? Nach Unterzeichnung des Koaltionsvertrags 2018. Bild: Deutscher Bundestag/Achim Melde

Extremistische Regime der Mitte stehen für globale Erwärmung und massives Artensterben, sie vergrößern die Kluft zwischen den sehr Armen und den sehr Reichen und propagieren ihr Verhältnis zur Welt als das einzig maßgebliche unter den verschiedenen Kulturen und Glaubenssystemen.

Kein anderer Staat als Deutschland eignet sich unter den westlichen Ländern besser dazu, den Begriff der „extremen Mitte“ zu veranschaulichen. Hier besteht die politische Macht seit 2005, und dies offiziell, zumeist aus einem Bündnis der beiden herrschenden Kräfte, die als Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien bekannt sind. Der Sozialdemokratischen Partei auf der einen Seite und dem Zusammenschluss aus Christlich-Demokratischer und Christlich-Sozialer Union auf der anderen Seite ist es gelungen, den Anschein zu erwecken, dass das Land von der Mitte aus regiert wird, ganz im Geiste des Kompromisses, der die individuellen Freiheiten garantiert, die sozialen Errungenschaften schützt und den industriellen und finanziellen Kapitalismus einhegt.

In Wahrheit verfolgen dieser Diskurs und die Politik, die von ihm verteidigt wird, weniger die Absicht, vielfältige Positionen in eine Form kreativer Zusammenarbeit zu bringen, als vielmehr eine extreme, gewalttätige und ungerechte Doktrin als notwendige und alternativlose Entscheidung zu verherrlichen, vor der keine historische Wirklichkeit die Augen verschließen kann. Alle anderen Positionen, so an den Rand gedrängt, werden schließlich als sekundär, idealistisch oder extremistisch angesehen.

Mehr als an anderen Orten lässt sich in Deutschland beobachten, dass sich die extreme Mitte im klassischen Links-rechts-Spektrum nicht verorten lässt, sondern dessen Abschaffung zugunsten einer extremistischen Ideologie vorantreibt, der es auf diese Weise gelingt, sich als notwendig, rational, ausgewogen und daher allein möglich darzustellen.

Politisches Handeln in der extremen Mitte besitzt drei Aspekte.

Zunächst gilt es, sich einem ideologischen Programm zu verschreiben, das in folgenden Punkten besteht: Förderung von Gewinnmaximierung großer Unternehmen; Zahlung von Dividenden an Großaktionäre; Zugang zu Steueroasen im Ausland; Senkung von Steuern, Zöllen und Abgaben im Inland; Umwandlung ökologischer Standards zu bloßen Lippenbekenntnissen; Rückbau des Sozialstaats; Minimierung der Rechte zum Schutz der Arbeitnehmer. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob man sich dann als sozialdemokratisch, sozialliberal, neoliberal oder christdemokratisch bezeichnet, solang derlei Orthodoxie unangetastet bleibt. Diese verschiedenen Hüllen aus Parteibezeichnungen lenken die Menschen von der Tatsache ab, dass die Politik der extremen Mitte insofern extremistisch agiert, als sie zerstörerisch ist, was die Ökologie betrifft, ungerecht, was die soziale Gerechtigkeit anbelangt, und imperialistisch, was die bevorzugten Wirkmaßnahmen angeht.

Mittextremistische Regime stehen für globale Erwärmung und massives Artensterben, sie vergrößern die Kluft zwischen den sehr Armen und den sehr Reichen und propagieren ihr Verhältnis zur Welt als das einzig maßgebliche unter den verschiedenen Kulturen und Glaubenssystemen.

Die Parteien der extremen Mitte sind schließlich auf private und öffentliche Medien angewiesen, die über ausreichend Wirkmacht verfügen, um im Verbund eine Reihe von Labels zu verbreiten, die den öffentlichen Akteuren anhaften. Die Anhänger der herrschenden Ideologie werden immerfort als vernünftige, besonnene, normale, verantwortungsbewusste, gerechte Vertreter der Mitte ausgewiesen, während über all jene, die es wagen, diese Ordnung zu kritisieren oder von ihr abzuweichen, der Bann ausgesprochen wird, sie seien unverantwortliche, anarchistische, paranoide, verschwörerische, idealistische, verrückte oder extremistische Elemente.

In Frankreich stach dieses Vorgehen regelrecht ins Auge. Der Präsidentschaftskandidat François Hollande wurde 2012 unter der Bezeichnung „normaler Kandidat“ gewählt, und zwar mit einem derartigen Erfolg, dass sein Nachfolger ganz offen der Mitte angehören konnte und im Namen eines notwendigen Zusammenschlusses über die traditionellen Parteigrenzen hinausging. So erschien Emmanuel Macron eher wie eine treibende Kraft der Geschichte denn als Verfechter einer missbräuchlichen und rückschrittlichen politischen Haltung.

Zuletzt untermauern die ausgewiesenen Experten, die von den Medien tagtäglich herbeizitiert und in ihren Sendungen und Kolumnen wie auf einem Tablett herumgereicht werden, diese Arbeit der Etikettierung und erklären sie zur schlichten Tatsache. Geradeso, als ob eine Kraft der Geschichte über die Regierungen käme, um sie dazu zu bringen, sich in eine Richtung zu entwickeln, die ihnen zutiefst eigen wäre, so als würde es sich dabei um ihr Schicksal handeln. Ganz gleich ob links oder rechts, Klarheit und Realismus müssten die Oberhand gewinnen, denn es sei an der Zeit, sich mit der Härte der ökonomischen Wirklichkeit und den Zwängen der Geschichte zu messen.

Auszug aus dem gerade im Westend Verlag erschienenem Buch „Die Herrschaft der extremen Mitte“ von Alain Deneault. Extremistische Regime der Mitte sind verantwortlich globale Erwärmung und massives Artensterben, sie vergrößern die Kluft zwischen den sehr Armen und den sehr Reichen und propagieren ihr Verhältnis zur Welt als das einzig maßgebliche unter den verschiedenen Kulturen und Glaubenssystemen. Alain Deneault zeigt Alternativen – gegen das Erstarken von Extremen, gegen eine sinn- und ideenlose Technokratie, die die Welt geradewegs in den Abgrund führt, und für die Nutzung des eigenen Verstandes! Denault ist derzeit Programmdirektor am Collége international de philosophie in Paris und Professor für Soziologie an der Université du Québec in Montréal. 

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