„Haste mal ne Milliarde?“

Bild: Jaz Bronstein/CC By-SA-4.0

Brandbrief zur Bundestagswahl im Namen vieler Band- und Leiharbeiter

 

„Haste mal ne Mark?“, fragen viele von uns, die vor Corona noch ein paar Euro verdient haben. Das war lebenswichtiger Lohn, nur kein sicherer. Wir hätten ihn in der Krise dringend gebraucht. Eine Krise überlebt man ohne Lohn ziemlich schlecht. Wir aber haben gedacht, sie brauchen uns. Da haben wir uns getäuscht: Sie wollten uns nur als Ballast schnell loswerden, wenn es ernst wird.

Sie haben im ersten Krisen-Jahr insgesamt fast 300.000 Leiharbeiter entlassen. Als Covid-19 die Lungen der Menschheit bedroht hat. Als die Atempest ausbrach. Spätestens da war klar, dass sie gut vorgesorgt hatten. Lange vor Corona haben die einflussreichen Politiker und die reichen Investoren etwas Neues angepriesen: die sogenannten „atmenden Fabriken“, ebenso wie „atmende Schlachthöfe“.

Erfinder war der VW-Manager Peter Hartz, der auch Hartz IV für uns erfunden hat: Seine „atmenden Fabriken“ haben sich aber zu perversen Werken und Schlachthöfen entwickelt, die Arbeiter, je nach Bedarf, „ein- oder ausatmen“. Wir waren diese „atmende Reserve“. Denn sonst, so heißt es, „verderben“ die Leiharbeiter wie die Schweine, die sich in einem Schlachthof stauen. Arbeiter und Schweine „verderben“ in einer Krise allzu schnell die Kosten, wie „Gammelfleisch“, das nichts einbringt. Sie konnten uns, als Geliehene, ganz billig, ohne Entschädigung, entlassen.

Es war unsere falsche Hoffnung gewesen, dass wir Deutschland am Laufen halten, als Ersatz-Arbeitsarmee, als flexible Eingreiftruppe. Es war leider ein Missverständnis zwischen uns und den Fabrikbetreibern, den Milliardären wie z.B. den Porsches, Piechs oder Tönnies‘ und den Politikern, die das alles verantworten.

Dabei haben Hunderttausende von uns jahrelang geschuftet, ohne krank zu werden. Nein, ehrlich gesagt, waren wir zwar krank, und haben aber trotzdem weiter geschuftet – um nicht als „Verdorbene“ Kosten zu verursachen. Weil wir ganz einfach die Hoffnung hatten, dass wir irgendwann einen echten Job kriegen, keinen „atmenden“, flexiblen Schweinejob.

Die Milliardäre aber haben jetzt in der Krise durchgeatmet, dass sie uns los sind, ähnlich wie das Virus. Uns aber fällt das Atmen schwer und wir kriegen kaum Luft – aus Ohnmacht und Wut. Jetzt wissen wir endgültig: Wir waren Ersatz- oder Scheinarbeiter. Eigentlich waren wir nichts. Wir sind eine Art ohnmächtige Geisterarmee geworden.

Ein paar französische Kollegen haben uns gesagt, dass das nicht nur in Deutschland so läuft. Sie haben erzählt, dass ihr Präsident Macron im Fernsehen erklärt hat, dass es Bürger gibt, die was leisten, aber dann noch andere: Das wären sogenannte „Riens“, also Nichtswürdige, Nichtsnutze oder so was. Das hat er zwei Jahre vor Corona seinen Bürgern erklärt.

Eines aber haben wir als „Riens“ oder Nichtsnutze mit den Milliardären gemeinsam: Wir setzen alle paar Jahre alles auf eine Karte – besonders, weil wir im Gegensatz zu ihnen nichts zu verlieren haben. 2018 ist dann Hunderttausenden von „Riens“ der Kragen geplatzt. Sie sind gegen ihren „König Macron“ auf die Straßen gegangen: Sie haben die Gelbwesten-Revolte ausgerufen und ganz Frankreich geflutet und lahmgelegt. Sie hatten die Nase voll, eine Geisterarmee und arme Schweine zu sein, die keiner mehr braucht oder sieht. Zuletzt haben sie Paris besetzt und um ein Haar den Elyseepalast gestürmt. Fast wäre „König Macron“, der Führer der Reichen und Einflussreichen, darüber gestürzt. Und nicht er, sondern die Coronawelle hat die Gelbwesten-Proteste unter sich begraben.

Seitdem sind er und viele Einflussreiche in Europa auf der Hut. Denn die Gewinner der Krise haben auf ihren eigenen Erfolg und zugleich auf uns als Verlust gewettet. Sie haben auf fallende Leiharbeiterzahlen gewettet – so wie man auf fallende Kurse und auf Katastrophen wettet und damit doppelt und dreifach gewinnt: Die Aktien und Immobilienpreise explodieren seit vielen Monaten, während Millionen von uns sich verschulden. Wenige werden im Schlaf reicher, aber viele von uns bringt das um den Schlaf.

Die ganze Krise hat sich, wie es aussieht, für die Wenigen mehr als gelohnt. Der Amerikaner Jeff Bezos und der Franzose Bernard Arnault haben vor ein paar Tagen eine neue Schallmauer durchbrochen: die 200 Milliarden-Marke an Privatvermögen. Das ist eine Summe, die noch kein Mensch zuvor besessen hat. Und die keiner ausgeben kann. Noch niemals in der Menschheitsgeschichte haben die oberen Schichten weltweit sich so bereichert und werden gleichzeitig so bewundert.

Wegen dieser Krisenbilanz sind manche von uns so frech, dass sie inzwischen auch mal die Hand aufhalten und fragen: „Haste mal ‚nen Euro?“ Aber die Gewinner der Krise sind uns auch da voraus. Zum Beispiel fragt einer der reichsten Männer der Welt, der Amerikaner Elon Musk, ganz ungeniert in Berlin an: „Habt Ihr mal ‚ne Milliarde?“ Und er kriegt die auch, die Milliarde, aus hart erarbeitetem und erspartem Steuergeld, für seine Fabrik in Brandenburg. Und deshalb will sich heute jeder Politiker mit jemandem wie ihm sehen lassen. Sogar im Wahlkampf.

Mit uns dagegen nicht. Wir sind und bleiben nichts, ja wir sind als Verschuldete weniger als das. Wir sind tatsächlich nichts anderes als die Schweine für die atmenden Schlachthöfe, für die atmende Kapitalwirtschaft. Bis man uns nicht mehr braucht und wir restlos verdorben sind. Bis viele von uns aus Wut und Empörung ausbrechen. Und darum warnen die Reichen und Einflussreichen mit Recht vor einer neuen Gelbwestengefahr in Europa.

Aber noch bleiben wir Millionen Wütenden und Ohnmächtigen unsichtbar. Wir sind unsichtbare Bürger, Ersatzbürger geworden, die man nur bei Bedarf braucht. Zum Beispiel dann, wenn gewählt wird. Aber wir warten nicht auf den Wahltag, sondern darauf, wenn wieder unsere Stunde kommt.

 

Lange hat 2016 die erste deutsche Band- und Leiharbeitergewerkschaft SOCIAL PEACE gegründet und ist ihr Vorsitzender. Außerdem rief er 2018 als bayerischer Vorsitzender der Sahra-Wagenknecht-Bewegung AUFSTEHEN zum ersten demokratischen Gelbwestenprotest in Deutschland auf. Im Juli erschien sein Buch: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Ein Insider entlarvt die neue Geld- und Politikkaste“.

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