„Hauptsache, es wird nicht mehr gekämpft“

 

Taliban nach Einnahme von Zaranj, der Hauptstadt der Provinz Nimroz.

Die Taliban rücken weiter vor, sie kontrollieren bereits große Teil des Landes. Viele Menschen wollen nicht fliehen. „Sie wollen ihre Häuser und ihr Hab und Gut nicht den Taliban und den Flächebombardements, die alles zerstören, überlassen“, sagt ein afghanischer Student.

Sie haben hier alles erobert“, erzählt Sayed Shah Mehrzad am Telefon. Der Arzt aus der nordafghanischen Provinz Baghlan lebt nun mitten im Taliban-Gebiet. Sein Distrikt, die „Fabrik“ – benannt nach einer Zuckerfabrik, die in den späten 1930er-Jahren mit deutscher, tschechischer und britischer Hilfe errichtet wurde – wird mittlerweile vollständig von der radikal-islamistischen Miliz kontrolliert.

Nach kurzen, heftigen Kämpfen verließen die Soldaten der afghanischen Armee sowie Milizen des Inlandsgeheimdienstes NDS den Distrikt und überließen ihn den Extremisten. Seitdem wird in der „Fabrik“ nicht mehr gekämpft. „Die Menschen gehen ihrem Alltag nach und sind froh, dass die Gefechte vorbei sind“, sagt Mehrzad, der seit Jahren praktisch zwischen den Fronten arbeitet. Mal behandelt er die Soldaten der afghanischen Regierung, mal die Kämpfer der Taliban. Ein Arzt dürfe sich keiner Seite anschließen, sondern hätte lediglich eine Aufgabe: Menschenleben retten, so Mehrzad.

Seit mehreren Wochen sind die Taliban in ganz Afghanistan auf dem Vormarsch. Mittlerweile stehen mehr als zweihundert von rund vierhundert Distrikten unter ihrer Kontrolle. Während die Regierung von Präsident Ashraf Ghani immer mehr unter Druck gerät und manch ein Beobachter schon dessen baldigen Fall vorhersagt, haben die Extremisten mehrere Provinzhauptstädte und Grenzübergänge erobert.

Dass mehrere Regionen Baghlans gefallen sind, ist nicht überraschend. Die Provinz gilt seit Jahren als Unruheherd. Hier waren die Taliban schon lange vor ihrem jüngsten Vormarsch aktiv. Nun wird weiter gekämpft. Am Montag verkündete Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed, dass das nächste Ziel die Provinzhauptstadt Pol-e Khumri sei. Gegenwärtig finden dort heftige Kämpfe statt. Einige Stellungen wurden von der afghanische Armee zurückerobert, doch die Lage ist weiterhin unübersichtlich.

Zahlreiche Menschen sind bereits nach Kabul geflüchtet, wo sie meist in provisorischen Flüchtlingslagern verweilen müssen. Die Fahrt mit dem Sammeltaxi nach Kabul kostet normalerweise um die 500 Afghani, etwas mehr als fünf Euro. In diesen Tagen soll sie sich verzehnfacht haben. Viele Menschen können sich eine derart teure Flucht nicht leisten. Das nahegelegene Kunduz wurde von den Taliban bereits erobert. Zeitgleich setzte das US-Militär, welches weiterhin seinen Abzug aus dem Land durchtzieht, B-52-Bomber in mehreren Städten ein. Berichten zufolge haben die jüngsten Operationen beider Seiten in erster Linie Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen. Die amerikanischen Kampfjets haben unter anderem den Markt von Kunduz bombardiert.

In der „Fabrik“, die nur wenige Kilometer entfernt von Pol-e Khumri liegt, herrscht seit der Machtübernahme der Extremisten hingegen Ruhe. Vielen Menschen scheint egal zu sein, wer im Distrikt das Sagen hat. „Hauptsache, es wird nicht mehr gekämpft. Das ist vorerst eine große Erleichterung für uns“, sagt Mohammad Farzad, ein Einwohner der „Fabrik“. Viele Taliban-Kämpfer in der Region kennt Farzad persönlich. „Für die meisten Menschen hier sind die Kämpfer keine Fremden. Dies könnte im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen“, so Farzad.

Von der vorhergesagten Schreckensherrschaft der Taliban ist in der „Fabrik“ noch nichts zu spüren. Die Extremisten haben ihre Flaggen gehisst, Checkpoints aufgestellt und die Einwohner dazu aufgefordert, wie gewohnt ihren Alltag nachzugehen. „Meine Frau ist Lehrerin. Sie übt weiterhin ihren Beruf aus und geht in die Schule“, erzählt Farzad.

Dies könnte sich allerdings bald ändern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Taliban nämlich nicht mit dem Regieren, sondern mit dem Kämpfen beschäftigt. Zahlreiche Kämpfer aus Kunduz oder der ebenfalls angrenzenden Provinz Samangan wurden in den letzten Stunden nach Pol-e Khumri mobilisiert, um die Provinzhauptstadt einzunehmen.

Währenddessen verkündet Ghanis Regierung nahezu täglich, in Baghlan und anderswo „Hunderte von Taliban-Kämpfer“ getötet zu haben. Die meisten Beobachter gehen mittlerweile von Übertreibungen und haltlosen Behauptungen aus. „Bei all diesen Zahlen fragt man sich mittlerweile, warum es überhaupt noch Taliban-Kämpfer in Afghanistan gibt. Laut den Zahlen der Regierung müssten allein in den letzten Monaten Tausende von ihnen getötet worden sein“, sagt Ahmad Zubair, ein Student, der aus Baghlan stammt und mittlerweile in Kabul lebt. Aufgrund der Kämpfe verliert er regelmäßig den Kontakt zu seinen Freunden und Verwandten in der Provinz. „Die Verbindung ist manchmal tot. Sowohl die Taliban als auch die Regierungstruppen schneiden immer wieder das Kommunikationsnetzwerk ab.“, so Zubair.

Viele Menschen sind nicht erreichbar – und viele von ihnen wollen auch nicht fliehen. „Sie wollen ihre Häuser und ihr Hab und Gut nicht den Taliban und den Flächebombardements, die alles zerstören, überlassen“, erklärt Zubair. Zeitgleich fragen sich viele Afghanen, ob derartige Szenarien bald auch die Hauptstadt Kabul erreichen könnten. „Viele Städte haben in den letzten Tagen keinen Widerstand geleistet, sondern sich den Taliban ergeben. Die Taliban haben sich bereits rundum Kabul positioniert. Die Stadt könnte noch vor Weihnachten 2021 fallen. Die Chance auf Frieden schwindet Tag für Tag“, meint Torek Farhadi, ein ehemaliger Regierungsbeamter und politischer Analyst aus Kabul.

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2 Kommentare

  1. Verfahrene Situation
    Deutschland verantwortete die Polizei-Ausbildung in Afghanistan. Dabei rekrutierte man offenbar bevorzugt Pädophile, denen man gestattete, Jungen als „Tanzknaben“ oder „Teejungen“ gefangen zu halten und zu missbrauchen. Manche Kommandeure machten dies sogar zur Bedingung für ihren Dienst. Davon erhoffte man sich, wie es scheint, besondere Loyalität, oder überhaupt Freiwillige im Kampf gegen die Taliban, die diese Praxis verbieten. Auch Mädchen wurden vergewaltigt.
    Gleichzeitig hungern Menschen, während Reinhard Erös zufolge 1.3 Billionen Dollar in korrupten Kanälen versickert sind. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich manche von den Taliban eine Verbesserung der Situation erhoffen.
    Soweit ich mich erinnere, ist schon bei M. M. Kaye in dem Roman „Palast der Winde“ davon die Rede, dass einheimische Verbündete der Briten sich in Afghanistan an Hirtenjungen vergehen.
    Vielleicht sollte man jetzt einfach schauen, dass weitere Kämpfe möglichst vermieden werden und dass die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln etc. sichergestellt ist, und versuchen, sich mit den Taliban zu arrangieren.
    Vielleicht könnte man sich nebenher auch um die Frauenrechte in Dubai kümmern, wo der Emir seine Tochter Latifa Al Maktum, eine Frau Mitte dreißig, brutal gefangenhält: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-07/dubai-prinzessin-latifa-al-maktum-flucht-pegasus-ueberwachung-smartphone/komplettansicht

    Hier einige Links:

    Hier die Präsentation der deutschen Polizeiausbildung in Afghanistan:
    https://www.ez-afghanistan.de/de/project/grundbildung-f%C3%BCr-polizeikr%C3%A4fte

    Hier die ausgebildeten Polizisten:
    Pädophile Tradition «Bacha bazi» wird afghanischen Beamten zum Verhängnis
    Taliban nutzen Kinder-Sexsklaven als Polizisten-Killer
    […]An vielen Kontrollpunkten werden minderjährige Buben von Polizeikommandeuren als Sexsklaven missbraucht – und das nutzen die Taliban aus.
    07.07.2016
    https://www.blick.ch/news/paedophile-tradition-bacha-bazi-wird-afghanischen-beamten-zum-verhaengnis-taliban-nutzen-kinder-sexsklaven-als-polizisten-killer-id5229356.html

    Hier die Bilanz:
    „Man habe die Herausforderung „gigantisch unterschätzt“, zitiert der Spiegel den Grünen-Politiker Winfried Nachtwei. Eine hochrangige Delegation von Ministerien, Polizei und Bundesnachrichtendienst hat demnach bereits 2002 nach einer Reise nach Kabul den Ausbildungsbedarf der afghanischen Polizei als „nahezu unbegrenzt“ bezeichnet. Die deutschen Bemühungen waren laut Nachtwei „krass unterdimensioniert“. Nachtwei war von 1994 bis 2009 Mitglied des Bundestags und reiste fast jedes Jahr nach Afghanistan. “
    https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-12/bundeswehr-afghanistan-polizeiausbildung-us-dokumente-versagen

    Film: The Dancing Boys of Afghanistan
    https://vimeo.com/11352212

    “The reason we were here is because we heard the terrible things the Taliban were doing to people, how they were taking away human rights,” said Dan Quinn, a former Special Forces captain who beat up an American-backed militia commander for keeping a boy chained to his bed as a sex slave. “But we were putting people into power who would do things that were worse than the Taliban did — that was something village elders voiced to me.”
    https://www.nytimes.com/2015/09/21/world/asia/us-soldiers-told-to-ignore-afghan-allies-abuse-of-boys.html

    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1082044.taub-fuer-die-schreie-von-teejungen.html

    Under the Taliban, were children safer?
    Interview: Radhika Coomaraswamy, United Nations‘ undersecretary general, special representative for Children and Armed Conflict since 2006.
    https://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/dancingboys/etc/coomaraswamy.html#2

    Pädophilie in Afghanistan: Die Rache trifft die Opfer
    Zwei Aktivisten enthüllten einen Kindesmissbrauchs-Ring in der Provinz Logar. Die beiden wurden festgenommen. Die Täter sind hingegen weiter auf freiem Fuß.
    vom 27.11.2019
    https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2039990-Paedophilie-in-Afghanistan-Rache-trifft-die-Opfer.html

    MOTION FOR A RESOLUTION
    with request for inclusion in the agenda for a debate on cases of breaches of human rights, democracy and the rule of law pursuant to Rule 144 of the Rules of Procedure on Afghanistan, notably the allegations of sexual abuse on boys in Logar Province
    https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2019-0242_EN.html

    Diskussion über Bundeswehr-Abzug
    „In Afghanistan hungern so viele Menschen wie noch nie zuvor“
    Reinhard Erös im Gespräch mit Dirk Müller
    Erös: „Afghanistan ist nach Transparency International das mit Abstand korrupteste Land auf der Welt – korrupt jetzt im Sinne nicht nur politisch korrupt, sondern auch finanziell korrupt. In kein Land der Welt hat der Westen in den letzten 18, 19 Jahren so viel Geld investiert wie in Afghanistan – 1.2 bis drei Billionen, den deutschen Begriff Billionen, 1300 Milliarden Dollar. Das ist der höchste Betrag seit dem Zweiten Weltkrieg, der jemals in ein Dritte-Welt-Land investiert worden ist. Und das Ergebnis ist: In Afghanistan hungern so viele Menschen zurzeit wie noch nie zuvor. In Afghanistan ist in vielen Bereichen die Infrastruktur im medizinischen Bereich, im Erziehungsbereich völlig zusammengebrochen oder wird immer schlechter. Das was man dort reingesteckt hat, landete zu einem gewissen oder einem großen Teil in den Taschen weniger hunderter, weniger tausend Millionäre, Multimillionäre, vielleicht auch Milliardäre, die mit westlichem Geld sich aus Afghanistan entfernt haben und das Geld zum Beispiel in den Emiraten Dubai, Abu Dhabi und so weiter investiert haben. Das ist uns überhaupt nicht bewusst!“
    https://www.deutschlandfunk.de/diskussion-ueber-bundeswehr-abzug-in-afghanistan-hungern-so.694.de.html?dram:article_id=492677

  2. Noch eine weitere interessante Einschätzung von Reinhard Erös:

    NATO-AbzugKinderhilfe Afghanistan: Truppenabzug erhöht die Sicherheit unserer Schulen
    Zumindest in den östlichen Gebieten Afghanistans werde der Abzug der NATO-Truppen die Sicherheit erhöhen, sagte Reinhard Erös von der Kinderhilfe Afghanistan im Dlf. Es sei richtig, das Land weiter humanitär zu unterstützen, die politische Entwicklung des Landes sei aber „Sache der Afghanen“.
    Reinhard Erös im Gespräch mit Tobias Armbrüster
    04.05.2021
    https://www.deutschlandfunk.de/nato-abzug-kinderhilfe-afghanistan-truppenabzug-erhoeht-die.694.de.html?dram:article_id=496667

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