Nach dem Waffenstillstand: Netanjahu und Hamas erklären sich zum Sieger

Ministerpräsident Netanjahu auf der Pressekonferenz nach dem Waffenstillstand. Screenshot aus IsraeliPM-YouTube-Video

Moshe Zuckermann aus Tel Aviv sieht keinen Sieger, profiliert habe sich aber Hamas, die Netanjahu weiter braucht. Er hat nun wieder Chancen, eine neue Regierung bilden zu können.

 

In der Nacht gab es den erwarteten Waffenstillstand. Beide Seiten haben sich als Sieger bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Moshe Zuckermann: Es ist jedes Mal so, dass nach einem Waffenstillstand, der meist durch Druck von außen, also von den USA oder den Vereinten Nationen, zustande kommt, beide Seiten sagen, sie hätten einen Sieg erzielt. Klargestellt werden muss, dass von einem Sieg für die Hamas sowieso nicht die Rede sein kann, wenn Gaza halb in Schutt und Asche gelegt wird. Man darf aber auch auf der anderen Seite nicht aus dem Auge verlieren, dass Israel mit seiner weit überlegenen und bestausgestatteten Armee, die eine der stärksten der Welt ist,  mit einer Guerilla-Armee kämpft und es nicht geschafft hat, den Raketenbeschuss zu stoppen. Das kann die Hamas für sich verbuchen: Ihr habt uns bombardiert, Gaza in Schutt und Asche gelegt, aber ihr habt uns nicht zum Schweigen gebracht.

In der israelischen Presse ist nicht zuletzt von Militärexperten zu lesen, dass Israel zwar groß angibt, was es geleistet hat, aber das seien nur Halbwahrheiten. Netanjahu hat auf einer Pressekonferenz beispielsweise gesagt, das Tunnelsystem der Hamas seit weitgehend zerstört worden, 100 km habe man vernichtet. Zerstört wurde vermutlich nur ein Bruchteil des unterirdischen Systems. Wenn man sich gefeiert hat, weil Hochhäuser zerstört wurden, dann wurde aber nicht nachgewiesen, dass dort wirklich Hamas-Einrichtungen waren.

Ohne jetzt zu sagen, dass die eine oder die andere Seite gesiegt hat, so muss man aber feststellen, dass Israel die Hamas nicht bezwungen hat. Dazu muss man aber auch sagen, was wir schon in den früheren Gesprächen festgestellt haben, dass Israel kein Interesse daran hat, die Hamas ganz niederzuschlagen. Israel will die Hamas erhalten. In einer Zeitung wurde geschrieben, Hamas und Netanjahu seien Verbündete. Hamas braucht Netanjahu, der braucht die Hamas. Daher war auch nicht zu erwarten, dass es zu einem entscheidenden Schlag kommt.

Ist denn die Hamas jetzt in Bezug auf die Fatah und die israelischen Araber gestärkt?

Moshe Zuckermann: Hamas ist aus dem Waffengang verstärkt in dem Sinne hervorgegangen, dass sie gekämpft und sich profiliert haben, während die anderen nichts weiter gemacht haben. Aber wenn die einen Raketen auf die Zivilbevölkerung schießen und Israel mit der stärksten Luftwaffe der Region letztlich auch die Zivilbevölkerung bombardiert, ist das alles andere als ein großartiger Erfolg, auf den man stolz sein kann. Objektiv betrachtet ist die Hamas aus dem Kräftemessen gestärkt hervorgegangen, was das Ansehen und die Profilierung anbelangt. Hamas wollte aber den Waffenstillstand, Israel auch, wie lange dieser aber anhalten wird, steht in den Sternen.

Politisch wird sich erst einmal nichts ändern?

Moshe Zuckermann: Doch, politisch hat sich etwas geändert. Wir hatten ja schon darüber gesprochen, dass es auch zu diesem Waffengang gekommen ist, weil Naftali Bennett sich von dem liberal-konservativen Yair Lapid, der die neue Regierung bilden sollte, abgewandt hat, um eine Rotationsregierung mit Netanjahu einzugehen, in der er und Netanjahu sich als Ministerpräsident abwechseln wollten. Bennett ist aber schon bald nach Beginn der Kämpfe wieder abgesprungen.

Jetzt gibt es drei Möglichkeiten: Entweder schafft es Netanjahu, Abtrünnige aus dem Gegenlager auf seine Seite zu ziehen, um doch noch eine Regierung zu bilden. Wenn Yair Lapid keine Regierung aufstellen kann, wonnach es aussieht, besteht die Möglichkeit, ein Gesetz zu schaffen, nach dem der Ministerpräsident direkt gewählt wird. Da hätte Netanjahu die besten Chancen nach Umfragen. Die dritte Möglichkeit wären Neuwahlen im Oktober. Das wäre dann der fünfte Wahlgang innerhalb von zwei Jahren. Israel ist wirklich schon zu einer Bananenrepublik geworden.

Netanjahu bezeichnet die israelische Armee als die moralischste Armee der Welt, weil sie angeblich so präzise feuern und Kollateralschäden möglichst vermeiden will. Kann man das erstnehmen?

Moshe Zuckermann: Nein, das kann man schon seit Jahren nicht ernstnehmen. Das ist das Selbstbild, das sich die Israelis geschaffen haben, obwohl sie in jedem Waffengang gegen einen Gegner, den sie jeder Zeit bezwingen könnten, wenn sie das wollten, Hunderte von Menschen töten, darunter viele Frauen und Kinder. Von einer moralischen Armee kann nicht die Rede sein. Dass man präzisere Waffen hat und in ein Fenster hineinschießen kann, ohne gleich ein Stadtviertel zu zerstören, ist wahr, aber das ist keine Errungenschaft der Moral. Man kann aber auch aus einem anderen Grund nicht von einer moralischen Armee sprechen. Es geht ja nicht nur um die Waffengänge, sondern auch darum, was das Militär ansonsten das ganze Jahr über macht. Das Militär spielt dann die Polizei in den besetzen Gebieten. Was sich dort tagsüber und nachts abspielt, ist alles andere als moralisch. Das ist eine schikanenreiche Barbarei. Auch der Ausdruck, den sich Israel zugelegt hat, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, kann man vergessen. Von Demokratie kann nicht die Rede sein, wenn man 50 Jahre lang eine Besatzung gegen ein Volk, das man knechtet, aufrechterhält. Von einer Demokratie kann unter Netanjahu auch nicht mehr gesprochen werden, weil er die Gewaltenteilung fast demoliert hat und das Kollektivinteresse ganz seinen privaten Interessen unterworfen hat. Man kann sich diese Attribute schenken: Es gibt keine moralische Armee und keine Demokratie im Nahen Osten.

Gerade war der deutsche Außenminister Maas in Israel und hat auch Mahmud Abbas im Westjordanland besucht. Hätte er auch mit Hamas sprechen sollen?

Moshe Zuckermann: Das ist das ganze Elend mit Deutschland, das sich dezidiert auf die Seite von Israel gestellt hat, weil das das Grundverhältnis von Deutschland zu Israel ist. Es ist vollkommen egal, welche völkerrechts- und menschrechtswidrige Verbrechen Israel begeht, immer wird sich Deutschland auf Israels Seite wegen der deutschen Vergangenheit stellen und die Gleichsetzungsidiotie machen, mit der Judentum, Zionismus und Israel gleichgestellt werden. Wenn man dagegen protestiert, dass Israel eine unverhältnismäßige Gewalt gegen Hamas oder Gaza ausführt, ist man gleich Antisemit. Was in Deutschland mit dem Vorwurf des Antisemitismus getrieben wird, hat nichts mehr mit der Bekämpfung des Antisemitismus oder dem Holocaust-Gedenken zu tun.

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