Spiel mit Nawalny

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Ein Plädoyer für einen medialen Nichtangriffspakt.

Wir haben ein Problem in Europa. Als jemand, der zwischen Russland und Deutschland lebt, befinde ich mich auch in der medialen Reichweite beider Länder und kann vergleichen, was die jeweiligen Mainstream-Medien übereinander berichten. Dass es sich dabei um zwei verschiedene Welten handelt, liegt auf der Hand. Doch diese zwiespältige Situation wird langfristig ein schlechtes Ende finden, wenn wir nicht endlich Verantwortung übernehmen und der emotionalen Manipulation, die mit uns betrieben wird, den Kampf erklären.

Das neueste Beispiel für die Konfrontation zwischen „Gut” und „Böse“ liefert der Fall Nawalny. Lassen Sie uns ins Stadion gehen und das Spiel verfolgen. Auf dem Feld müssen Sie sich ein Tor vorstellen, über dem in großen Buchstaben „Kreml” prangt und vor dem der Präsident der Russischen Föderation steht. Das Tor der anderen Mannschaft, mit dem Schriftzug „Westen“ versehen, wird verteidigt von Angela Merkel, NATO-Generalsekretär Stoltenberg oder einem Ersatztorwart aus den USA. Was denken Sie nun, welche Rolle Nawalny in diesem Spiel einnimmt? Ist er ein Stürmer? Der Mannschaftskapitän? Vielleicht der Trainer? Meiner Auffassung nach ist er der Ball, den die beiden Teams kicken – mit dem Unterschied, dass der Kreml auf das Tor des Westens zielt, der Westen aber auf den Torhüter selbst. Die Fans beider Seiten sitzen währenddessen oben auf den Tribünen und feuern ihre Mannschaft an.

Für Fußballfans ist der Stadionbesuch mit starken Gefühlen verbunden: Sie springen vor Freude auf, wenn Ihr Team ein Tor erzielt, brüllen den Schiedsrichter an, wenn er einen Fehler zu ihren Ungunsten gemacht hat, und sind bei einer Niederlage am Boden zerstört. In dieser emotionalen Hinsicht sind sich alle Fußballfans ähnlich. Ich behaupte nun, dass die gleichen, polarisierenden Mechanismen auch bei der Wahrnehmung der echten Welt eine Rolle spielen.

Der Kreml hatte noch vor einiger Zeit sehr schwache Fans. Viele waren beschämt, sich über die Erfolge Putins zu freuen. Andere hatten Angst vor negativer Resonanz in den sozialen Medien. Aber Putins Fan-Block ist mittlerweile deutlich repräsentativer als vor ein paar Jahren, auch wenn der Westen das nicht wahrhaben will.

Werfen Sie einen Blick auf die folgende Tabelle, welche die wesentlichen Unterschiede in der öffentlichen Meinung zusammenfasst:

Die Liste ließe sich fortsetzen. Aber wo zwischen diesen beiden Extremen liegt die Wahrheit? Und warum fallen sie so weit auseinander? Die Gemengelage kommt einem Informationskrieg gleich. Propaganda nimmt Einfluss auf unsere Emotionen, heizt sie auf und polarisiert, bis wir uns kaum besser verhalten als Hooligans, denen der Sieg ihres Teams wichtiger ist als das faire Spiel.

Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Ich bin kein Anwalt und daher auch nicht in der Lage, eine juristische Einschätzung der Strafe Nawalnys oder der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu liefern. Der Weg, den ich vorschlage, ist aber ohnehin ein anderer: Anstatt uns mit Einzelfällen aufzuhalten, sollten wir eine breitangelegte und vor allem ausgewogene Diskussion führen. Das Problem dabei ist, dass es momentan in Deutschland kaum jemanden gibt, der bereit wäre, sich auf redaktioneller Ebene mit Russland an einen Tisch zu setzen. Meine Landsleute sind der Überzeugung, dass der deutsche Mainstream schlichtweg Angst vor der Wahrheit hat – und die hierzulande geläufigen Propagandavorwürfe lediglich die Furcht verschleiern, dass das russische Narrativ der Realität entspricht.

Und glauben Sie mir, im großen Kontext des „russischen Narrativs“ ist Nawalny überhaupt nicht interessant. Es gibt andere, weitaus wichtigere Themen, bei denen die Angst des Westens vor einer alternativen Wahrheit spürbar ist: Man vergleiche nur die geläufige Darstellung der Polizeigewalt gegen die Proteste in Russland mit dem völligen Mangel an Berichterstattung über Angriffe vermeintlich friedlicher Demonstranten auf die Polizei.

Sollten Sie mich nun empört der Verbreitung von Lügen bezichtigen, dann reproduzieren Sie damit perfekt die Meinung ihres Fan-Blocks – und der andere hält entsprechend dagegen. Brüllt der „West“-Block: „Warum zeigen eure Medien nur, wie die Polizei geschlagen wird?“, schallt aus dem „Kreml“-Block zurück: „Warum zeigen eure Medien nur, wie die Polizei zuschlägt?“ – Sie sehen das Problem.

Zu meinem nächsten Argument möchte ich Ihnen ein kleines Experiment präsentieren. Man stellt dafür einer anderen Person die folgenden drei Fragen, auf die sie blitzartig, ohne nachzudenken antworten soll:

  1. Welche Farbe haben Tomaten?
  2. Welche Farbe hat Blut?
  3. Bei welcher Farbe darf man fahren?

Wenn sie keine Zeit haben, um nachzudenken, antworten die meisten Menschen auf die letzte Frage „rot“. Aus einem ähnlichen psychologischen Prinzip heraus entstehen die Reaktionen auf den Film Nawalnys, der im Zuge mächtiger PR-Aktivität über 100 Millionen Aufrufe bekommen hat. Er spielt mit Ihrer Abneigung gegen korrupte Beamte, kitschigen Luxus und primitiven Geschmack. Und dadurch ist Ihnen die gewünschte Meinung praktisch von vorneherein bereits in den Mund gelegt: „Wer ist der Dieb?“, „Wen hassen wir?“ – wie oben das Wörtchen „rot“, kommt Ihnen hier der Name Putin fast reflexartig in den Sinn. Erwähnungen dieser Personalie sind mittlerweile eher ein Spiel mit assoziativer Nähe und emotionaler Manipulation Ihrer Wahrnehmung als irgendetwas anderes.

Mittlerweile brodelt das Stadion regelrecht: Weltweite Aufmerksamkeit, Politiker fordern den Kreml auf, die Wahrheit über Putins Schloss offenzulegen – 1:0 für den Westen! Und dann direkt das zweite Tor – Nawalny verhaftet, 2:0! Die Tribünen skandieren „Stoppt Nord Stream 2!“ und „Putin muss sich erklären!“

Aber jetzt bewegen wir uns aus dem Dunstkreis der westlichen Medien nach Russland: Das „Kreml“-Team geht in die Offensive! Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als sich herausstellte, dass es sich bei Nawalnys Film um einen Fake handelt. Das Schloss ist eine Baustelle. Es gibt keine „schmutzigen Räume“, kein Tor mit Wappen und keine goldenen Klobrillen. Wohin das Auge blickt nur Zementsäcke und unverputzte Wände. Daher meine Frage an die westlichen Medien: Warum findet diese Darstellung keine Beachtung?

Der Vorwurf Russlands an den Westen ist, dass seine Medien ihre Objektivität verloren haben. Das Gleiche werfen die westlichen Medien auch den russischen vor. Wie kommt es dann aber, dass das Maß negativer Berichterstattung über Russland in den westlichen Medien statistisch betrachtet überproportional hoch ist? Wir haben uns vorgenommen, nicht mit zweierlei Maß zu messen. Daher: Gegentor!

Zurück zum Spiel: Der westliche Fan-Block hat zwischenzeitlich beschlossen, dass die russische Bevölkerung auf die emotionale Manipulation durch Nawalnys Film hereinfällt, denn dort gehen mittlerweile die Leute auf die Straßen – wieder ein Punkt für den Westen!

Doch vergleichen Sie dazu als Kontrastfolie die Behandlung gleichzeitig ablaufender Proteste im Westen – in den USA, Frankreich, Finnland und vielen mehr – und in welches Licht die Polizei dort gerückt wird. Nimmt man diesen Aspekt nämlich hinzu, geht dieser Punkt an das „Kreml“-Team. Der Westen ist voreingenommen, wenn es um Russland geht, schweigt sich aber über die unschönen Dinge, die unter seinem Einfluss geschehen, gerne aus – wie zum Beispiel den Kauf von Energieressourcen aus dem Nahen Osten oder Waffenlieferungen an die Türkei. Die Linkspartei kann meine Worte bestätigen.

Ebenso gerne wird ignoriert, wie Nawalny mit den deutschen Geheimdiensten zusammengearbeitet hat; auch hier konnten die Russen eine schlüssigere Argumentationskette aufbauen – mit Hilfe von Gregor Gysi, welcher der deutschen Bundesregierung vorwarf, ihm das Recht eines Parlamentsmitglieds auf bestimmte Informationen weggenommen zu haben: das dritte Tor für das „Kreml“-Team.

Wie lösen wir die gegenseitigen Vorwürfe auf?

Mein Vorschlag wäre, die Probleme zwischen Russland und dem Westen in länderübergreifenden Expertenrunden und unter beiderseitigem Einbezug der Presse zu diskutieren. Proklamieren wir einen Nichtangriffspakt der Informationen! Die Politiker zeigten sich derart zwischen der Informationsagenda der Medien auf der einen und den Geheimdienstdaten auf der anderen Seite gespalten, dass sie beten mussten, nicht in einen echten Dialog treten zu müssen – „echt“, da man zwei gleichzeitig ablaufende Monologe leicht mit einem Dialog verwechseln kann. Einen solchen sollten wir jedoch anstreben. Nur so kann sich der gesamtmediale Sinn für Ethik entwickeln, den wir mehr denn je brauchen.

Und behaupten sie nun, dass dieser Prozess am besten damit beginnt, dass die russischen Medien endlich die Wahrheit sagen, dann möchte ich Ihnen erneut ihre Zugehörigkeit zu einem Fan-Block vorhalten. Ebenso wie die Belege für die russischen Lügen aus dem Westen kommen, stammen die Belege für die westlichen Lügen aus Russland. Daher mein Aufruf, mit dieser Schlammschlacht aufzuhören. Überlegen wir uns stattdessen lieber, wie man diesem Informationskrieg Einhalt gebietet! Betrachten Sie die beiden Pole als gegenseitigen Spiegel. Das Publikum der Deutschen Welle muss die gleichen Ansprüche an Russia Today haben wie das Publikum von Russia Today an die Deutsche Welle.

Schauen Sie in die Zukunft. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Polarisierung unserer Gesellschaft durch Medien und Technologie eine große Tragödie unserer Zeit ist. Wir müssen alles daransetzen, sie abzuwenden, bevor es zu spät ist.

Als Nachtrag noch eine Frage, die viele beunruhigen dürfte

Wer sind die Schiedsrichter in diesem Spiel? Ich habe einmal davon geträumt, dass es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die G7 oder der UN-Sicherheitsrat sein würde. Aber derzeit zieht Russland, die Schaffung eines Gerichtshofs für Menschenrechte außerhalb Europas in Erwägung, während Nawalny vorschlägt, unliebsame Journalisten auf eine Sanktionsliste zu setzen.

Nun frage ich Sie, ob Sie sich wirklich sicher sind, dass Nawalny sich damit nicht einfach seiner persönlichen Feinde entledigen möchte. Und wie sicher sind Sie sich obendrein, dass der Kreml mit westlichen Journalisten genauso umgehen würde? Gäbe man einem Anliegen wie dem Nawalnys statt, bliebe kein Diskurs mehr über „gute“ und „schlechte“ Berichterstattung aus Russland. Die Debatte über Objektivität würde einfrieren und wir wären blind und taub gegenüber der Wahrheit – Russland ebenso wie der Westen.

 

Der Publizist Wladimir Wladimirowitsch Sergijenko wurde 1971 im westukrainischen Lwiw geboren. Seit 1991 lebt er zeitweise in Deutschland. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Anthologien mit Poesie und Erzählungen. In Deutschland ist 2013 sein Buch „Russisch fluchen“ erschienen (Eulenspiegel Verlag). In Russland und im russischsprachigen Europa ist er insbesondere aufgrund seiner Radiosendung „Eurozone“ bekannt, die dreimal wöchentlich im staatlichen Radio „Vesti FM“ läuft. Sergijenko ist als Autor und Politologe regelmäßig zu Gast in Talkrunden im russischen TV. Er trägt die Ehrenprofessur des Moskauer „Institute of World Civilisations“ und ist Mitglied der Schriftstellervereinigung PEN.

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