US-Beschwörungsformel für Europäer: „Nichts über euch ohne euch“

Seit Ende Dezember müssen sich viele Frauen für den Militärdienst registrieren lassen, um im Kriegsfall schnell mobilisierbar zu sein. Bild: Ukrainisches Verteidigungsministerium

Biden telefonierte mit Putin, danach mit Selenskij, was die realpolitischen Präferenzen offenbart. Biden soll Selenskij aufgefordert haben, sich vom Oligarchen Kolomoiski  zu distanzieren.

Biden will nun auch den Ukraine-Konflikt im Normandie-Format klären lassen und sich möglichst heraushalten, während die Ukraine gebeten hatte, dass die USA hier mitmischen soll. Nicht vor, sondern nach dem Telefongespräch mit Putin am 30. Dezember telefonierten Biden und Selenskij am 2. Januar miteinander (am 3. Januar sprach Außenminister mit der B9-Gruppe und versicherte transatlantische Sicherheit). Das macht deutlich noch einmal, dass weder Washington noch Moskau mit der EU oder der Ukraine am Tisch verhandeln wollen, auch wenn Gespräche auf Nato- und OSZE-Ebene, wie von Russland vorgeschlagen, geplant sind.

Um die EU nicht außen vor zu lassen, reiste der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell eigens in die Ukraine, um sich hinter diese zu stellen, während Annalena Baerbock ihre Aufwartung beim amerikanischen Außenminister machte (Baerbock: „Werden uns immer engstmöglich mit den USA abstimmen“). Er besuchte mit Außenminister Kuleba auch die Kontakt- oder Frontlinie in Stanytsya Luhanska, wo es einen Übergang zu den „Volksrepubliken“gibt, drohte Russland Konsequenzen an, kam aber im Gegensatz zu Habeck ohne Helm und Schussweste aus. Kuleba zitierte freudig Borrell, der sagte: „Es gibt keine Sicherheit in Europa ohne die Sicherheit der Ukraine. Es ist klar, dass jede Diskussion über europäische Sicherheit die EU und die Ukraine einschließen muss. Jede Diskussion über die Ukraine muss die Ukraine einbeziehen.“ Das wird auch Borrell nicht müde zu wiederholen, ohne in Washington und Moskau Gehör zu finden. Kuleba spricht schon von Appeasement und dass die Ukraine sich selbst verteidigen könne.

Obgleich also Biden mit Putin auch über die Ukraine gesprochen hat, heißt es aus dem Weißen Haus zum Telefongespräch, dass man weiter zu dem Prinzip oder der Formel stehe: „Nichts über euch ohne euch“, auch wenn dies gerade geschehen ist.  Von der Nato-Mitgliedschaft ist in der Mitteilung des Weißen Hauses über das Gespräch nicht die Rede, nur dass die USA entschieden reagieren würden, wenn Russland weiter in die Ukraine eindringt, und dass sie  der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine verpflichtet seien. Es wird auf vertrauensbildende Maßnahmen zur Deeskalation im Donbass und der Umsetzung des Minsker Abkommens im Normandie-Format verwiesen.

Selenskij bedankte sich nach der ukrainischen Darstellung dafür, dass Biden das Prinzip „Nichts über euch ohne euch“ und die europäische Integration unterstütze und dass die USA bei einer Eskalation entschieden reagieren werde. Es gehe schließlich nicht nur um die Ukraine, sondern auch um die europäische Sicherheit und die Weltordnung. Im Hinblick auf Minsk und Normandie habe man die Bedeutung weiterer diplomatischer Bemühungen hervorgehoben, was wohl heißt, dass nun Kiew gefordert ist. Selenskij soll auch über den Fortschritt der wirtschaftlichen Reformen und der Stärkung der Stabilität und De-Oligarchisierung informiert haben. Betont wird, dass das Gespräch „mehr als anderthalb Stunden“ gedauert haben soll, was die Bedeutung der Ukraine und die guten Beziehungen zu den USA herausstreichen soll.

Was wirklich gesprochen wurde, weiß man nicht. Der mit dem Oligarchen und Oppositionspolitiker  Viktor Medvedchuk, der seit Mai 2021 unter Anklage des Hochverrats in Hausarrest ist, weil er Geschäfte mit der Krim gemacht haben soll, verbundene Fernsehsender 112, der wie NewsOne und  ZIK im Februar von Selenskij wegen angeblicher Feindpropaganda sanktioniert wurde, will etwas mehr erfahren haben. Biden habe seine Unzufriedenheit darüber ausgebrochen, dass die Ausschreibung für den Leiter der Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft unterbrochen wurde. Die Amerikaner würden gerne alle Institutionen zur Korruptionsbekämpfung an sich binden. Angeblich wird dies von der Regierung verhindert, weil dann auch gegen korrupte Mitarbeiter aus dem engsten Kreis von Selenskij ermittelt würde.

Kampf der Oligarchen

Nach der Generalstaatsanwältin Iryna Venedyktova wurde 2021 gegen 111 Politiker wegen Korruption ermittelt, insgesamt seien es 5500. Im Dezember wurde auch gegen den Oligarchen und Ex-Präsidenten Poroschenko ebenso wie gegen Medvedchuk Anklage wegen Hochverrats und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erhoben. Poroschenko konnte sich gerade noch ins Ausland absetzen, will aber wieder ins Land kommen. Der Vorwurf ist, dass unter seiner Präsidentschaft 2014-2015 und durch Mitwirkung von Medvedchuk Kohle von den „Volksrepubliken“ gekauft worden sein soll (Der ukrainische Präsident scheint gegen die Oligarchen anzutreten).

Auffällig ist, dass Selenskij auch mit einem Gesetz zur De-Oligarchisierung, das im Mai in Kraft tritt, versuchen will, die Oligarchen aus der Politik herauszuhalten, allerdings vor allem dann, wenn sie über Medien verfügen wie Poroschenko und Medvedchuk, der das allerdings abstreitet. Der Eindruck besteht, dass Selenskij etwa den Oligarchen Ihor Kolomoiski, der sich nach der Verstaatlichung der Privatbank und darauffolgenden Anklagen wegen Betrugs ganz nach Israel abgesetzt hat, schützt. Bekannt geworden ist Selenskij als Schauspieler und Kabarettist durch die satirische Fernsehserie „Diener des Volkes“ im Sender 1+1, der mehrheitlich Kolomoiski gehört, den Präsidentschaftswahlkampf von Selenskij unterstützt hatte und Poroschenko kritisch gegenüber stand.

Selenskij ist während des Wahlkampfs mehrmals zu dem Oligarchen gereist und hat sich mit ihm getroffen, er umgab sich mit Kollegen aus dem Fernsehsender, so dass die Vermutung naheliegt, dass er als verlängerter Arm des Oligarchen agiert, der nach dem Putsch im Jahr 2014 kurzzeitig sich als nationalistischer Freiheitskämpfer gerierender Gouverneur des Oblast Dnipropetrowsk war und dort auch das Militär und Milizen wie das rechtsnationalistische Bataillon Dnipro finanzierte. Mit bewaffneten Milizen besetzte er 2015 einige Unternehmen und wurde daraufhin nach einem verlorenen Machtkampf von Poroschenko abgesetzt.

Im April 2021 verhängte die US-Regierung gegen Kolomoiski wegen Finanzvergehen bzw. Geldwäsche Sanktionen. Er soll zwei amerikanische Unternehmen mit betrügerisch von der PrivtBank erhaltenen Krediten in Höhe von Milliarden von US-Dollar gekauft haben. Zudem soll er zusammen mit anderen ein Netz an Firmen in den USA gegründet haben, um die Gelder zu waschen und zu investieren. Es ist also durchaus glaubwürdig, dass Joe Biden, der die Ukraine gut kennt und schon einmal brachial den Austausch des Generalstaatsanwalts erzwang (Ukraine: Die subtile Außenpolitik der USA), gegenüber Selenskij in dem Telefongespräch forderte, sich von Kolomoiski zu distanzieren, wie 112 erfahren haben will. Der Autor des 112-Berichts schreibt:

„Den Amerikanern ist klar, dass der so genannte Kampf gegen die Oligarchen ein Kampf um die Änderung der redaktionellen Politik der Medien ist, die den Reichen gehören, und nicht ein Kampf gegen ein Monopol auf dem Markt für Waren und Dienstleistungen. Offensichtlich ist es für die Vereinigten Staaten einfacher, Selenskij zur Einhaltung der Minsker Vereinbarungen zu zwingen, als der Forderung Russlands zuzustimmen, den Staaten, an die es grenzt, die NATO-Mitgliedschaft zu entziehen und die Länder der ehemaligen Sowjetunion niemals in diesen militärisch-politischen Block aufzunehmen. Wenn es keine Deeskalation im Donbass gibt, werden die Verhandlungen zwischen Russland, den USA und der NATO selbst scheitern. Für die Vereinigten Staaten ist es, zumindest im Moment, von Vorteil, eine friedliche Lösung im Osten unseres Landes zu ermöglichen und Russland zu zeigen, dass es zu Kompromissen bereit ist.“

Tatsächlich dürfte dies die Strategie von Washington sein, die die Alliierten durch die Rhetorik eines harten Auftretens gegen Russland und mit scheinbaren Absprachen beruhigen will, aber vor allem eine Einigung mit Russland erzielen will, um Moskau von China abrücken zu lassen und den europäischen Konflikt zu beruhigen. Größere Forderungen an Russland, abgesehen davon, keine Invasion in die Ukraine zu machen, gibt es nicht. Es wird zwar immer von der territorialen Integrität der Ukraine gesprochen, aber nicht davon, dass eine Einigung erst mit der Rückgabe der Krim möglich würde. Und es wird versprochen, dass jeder Staat, auch die Ukraine, souverän ist und frei entscheiden kann, ob er sich der Nato anschließen will, aber nicht offen versprochen, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird.

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