Zurück in die Zukunft

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Der Schweizer Autor P.M. über den Bill Gates des 10. Jahrhunderts und das Mittelalter als Metapher für eine Fortschrittskritik

Der Schweizer Autor P.M. (Hans Widmer) veröffentlicht 1996 als Rodulf von Gardau seinen Roman „Die Schrecken des Jahres 1000“ und entwickelt darin ein kritisches Bild der Machtverhältnisse zur Jahrtausendwende. 2020 und 2021 erscheint dieses Buch beim Hirnkost Verlag in einer interessanten Neuauflage im Kleinstformat. Was hätte im ach so schlimmen Mittelalter passieren können, dass so manches akute Problem nie aufgetaucht wäre? Oder anders gefragt: Warum haben wir uns so lange Zeit gelassen?

Die Faszination Mittelalter beschränkt sich heutzutage häufig auf Märkte, die mehr einem Umschlagplatz von Speis und Trank ähneln als einer historisch interessierten Zeitreise. Oder Mittelalterliches taucht in aufwändigen Filmserien wie „Game Of Thrones“ auf. Häufig verkleidet in einer fantasierenden Monsterwelt. Geht es auch anders? „Die große Fälschung“ von P.M. versucht sich an der Frage: „Alle wesentlichen Probleme, die wir heute haben, hatten wir im Kern schon im Jahr 1000. In tausend Jahren wurden sie nicht gelöst, sondern nur verschoben und verschärft. 1000 Jahre Zukunft haben wir schon verloren – ist das nicht genug?“ Es wird also Zeit, zurückzureisen und einige Weichen im Jahr 1000 umzustellen.

Warum das Mittelalter? Wie steht es zu Ihrem anderen Werk?

P.M.: Ich habe altfranzösische Philologie studiert und daher ein gewisses Interesse an diesem dunklen und übelbeleumdeten Zeitalter entwickelt. Ich sehe es als Metapher für eine gewisse Fortschrittskritik. Auch das Phänomen der Klöster hat es mir angetan, sie gleichen ja äußerlich etwas meinen bolos. Der Ritter als „gepanzerter Mann“ passt ja auch zu einer Patriarchatskritik, wie sie etwa von Klaus Theweleit vorgetragen wird. Ritter zu dekonstruieren, heißt Mannsein dekonstruieren.

„Die große Fälschung“ liest sich wie eine retrograde Utopie. Statt in die Zukunft schauen Sie in die Vergangenheit. Worin liegt der Reiz?

P.M.: Nun, die Vergangenheit kennt man etwas besser als die Zukunft. Wenn man dann genauer hinschaut, ist es doch nicht so. Der Reiz besteht natürlich darin, in der Vergangenheit Dinge zu entdecken, die gewöhnlich in die Zukunft gesetzt werden: zum Beispiel, dass Raumschiffe im 9. Jahrhundert landen. Die Spannung zwischen einem Bewusstsein im 21. Jahrhundert und dem Material des 10. macht das Erzählen unterhaltsamer.

Das Jahr kurz vor 1000 war eine bewegte Zeit: Ihr Buch zeigt deutlich, wie raffiniert ein Ritter sein musste, nicht unter das Rad der Geschichte zu kommen! Haben Ihre Ritter ein reales Vorbild?

P.M.: Es gibt keinen konkreten kleinen Ritter – miles rusticus –, der als Vorbild dient. Aber es gab viele solche Kastellane, Bauernritter, die damals in die Klemme kamen. Ich habe Rodulf mitten in das ottonische Reich platziert – irgendwo zwischen Franken und Niederbayern, weil da vieles im Fluss war.

Aus der zunächst fränkischen Revolte wird schnell ein Lauffeuer. Die mittelalterliche Welt war bereits gut vernetzt – zumindest, seit es Räder und Pferde als Zugmittel gab. Zeichnete sich damals eine weitere Globalisierung an, nachdem die antiken Imperien bereits eine erste Globalisierung anstrebten?

P.M.: Der Austausch zwischen dem ottonischen Reich und Byzanz war ja intensiv – Otto II. war mit der byzantinischen Prinzessin Theophanou verheiratet. Gerbert, der Papst des Jahres 1000, hat in Katalonien studiert, das noch maurisch war und sprach wahrscheinlich arabisch. Die Ungarn waren gerade sesshaft und christlich geworden – also auch Verbindung in die östlichen Steppen. Die Handelsrouten bis nach China waren immer offen. Von einer bewussten Globalisierung kann man nicht sprechen, auch wenn natürlich das Christentum einen universalistischen Anspruch hat. Gerbert ist also der Bill Gates des 10. Jahrhundert.

Das Mittelalter eignet sich für beliebig viele Projektionen

Gerade sah ich eine Talkshow mit Ranga Yogeshwar, der warnte: „Wir fallen wieder zurück ins Mittelalter!“ – Ist es so schlimm gewesen? Und woher kommen die Vorurteile?

P.M.: Dieser Yogeschwar ist ein Schwätzer. Wir könnten genauso gut vorwärts in ein neues Mittelalter fallen. „Schlimmer“ als das 20. war wohl noch kein Jahrhundert. Das Mittelalter an sich ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, eine Art historische Vogelscheuche. Seit 5000 Jahren ist die Geschichte schlimm. Die Welt war damals nicht beschränkter als heute. Sie war jung, frisch, „modern“. Die Menschen konnten so neugierig und offen sein, wie sie wollten. Wenn sie sich hinter „Unwissen“ und „Aberglauben“ verstecken wollten, dann war das ihre Verantwortung, nicht „die Schuld der Epoche“. Zu sagen, dass wir erst in der „Aufklärung“ aufgeklärt wurden, heißt all die Millionen, die vorher lebten, zu Vollidiotinnen abzustempeln. Histo-Rassismus. Völlig unkorrekt.

Literatur und TV lieben das Mittelalter als Kulisse. „Game of Thrones“ ist ein bekanntes Beispiel oder „Herr der Ringe“. In den achtziger Jahren begann es mit einer Vielzahl von Filmen. Oder man denke an die Mittelaltermärkte. Welches Bild wird da vermittelt?

P.M.: Ich denke, das Mittelalter eignet sich für beliebig viele Projektionen, weil es sehr widersprüchlich ist. Eine gewisse Sehnsucht nach einfachem Leben, übersichtlicher Technologie, heftigen Emotionen, leeren Flächen usw. spielt da eine Rolle. Auch zaubern zu können, hat für die aktuell ohnmächtigen Massen eine große Attraktivität. Lieber zaubern als eine Gewerkschaftsversammlung.

Im zweiten Buch wird deutlich, hätte es damals gewisse Entscheidungen und Erfolge gegeben, dann hätte unsere heutige Welt anders aussehen können.

P.M.: Die Menschen sind seit mindestens 200.000 Jahren so intelligent wie heute. Sie konnten theoretisch alles erkennen, was erkennbar ist – was ja dann die ersten griechischen Philosophen auch getan haben. Die Erkenntnis, dass die patriarchalischen Gesellschaften eine Fehlentwicklung sind, gab es seit jeher. Ausstiegsversuche gab es immer wieder – die später zu Mischkonzernen pervertierten Klöster sind wohl einer davon. Aussteigen ist jedoch nicht einfach eine Geisteshaltung, sondern muss sich zu einer politischen Technik entwickeln. Organisation ist das A und O, was ja in meiner Geschichte deutlich wird. Geschichte ist keine Entschuldigung.

In Ihrem Roman gibt es soziale Mobilität. In der (historischen) Realität etwa auch?

P.M.: Durchaus. Man denke nur an den Aufstieg der frühen Handelshäuser.

Bei der „Großen Fälschung“ finde ich die lebendige Beschreibung des mittelalterlichen Sozialwesens interessant. Es ist wahrscheinlicher, dass bereits damals die Organisation einer Stadt, eines Dorfs oder einer Burg komplexer war, als das im Populärmythos überliefert wird. Das Mittelalter wird komischerweise auch ziemlich unökonomisch wahrgenommen.

P.M.: Ökonomie ist auch heute noch das „soziale Unbewusste“. Was man in den Quellen sieht, ist eben das Spektakel der Kriege und Fehden unter den „Wirtschaftsopfern“. Die eigentlichen Wirtschaftssubjekte haben keine Dokumente hinterlassen – Pergament war teuer.

Welche Gesellschaftsform schwebt den Revolutionären in „Die große Fälschung“ vor?

P.M.: Es ist die alte egalitäre Vision eines goldenen Zeitalters, die man in fast allen Zivilisationen, meist verdrängt, findet.

Was oder wer ist die Firma, die immer wieder genannt wird?

P.M.: Die Firma ist eine organisatorisch verkörperte, personifizierte (firme) Metapher für das, was Hegel vielleicht den Weltgeist nannte: die Logik der Geschichte als Organisation vom Typus CIA, die absolute Weltverschwörung, die sich ad absurdum führt. Ein Geist kann aber nicht handeln, daher die Firmengeschichte. Erzählerisch ist die Firma ein prop.

Bauernaufstände kamen eigentlich erst später, ab dem 14. Jahrhundert, auf. Es gibt jedoch in den Jahren 841-845 in Sachsen den sogenannten Stellinga-Aufstand. Die freien Bauern und Halbfreien erhoben sich gegen den sächsischen Adelsstand, der mit den Franken die Sachsen unterworfen hatte. Sie forderten ihre politische Mitbestimmung zurück, da nach der Eroberung Sachsens durch Karl den Großen z.B. die Thingversammlungen verboten wurden. Auf diesen entschieden sie über Kriegsführung oder Rechtsprechung. Erfolgreich war keiner dieser Aufstände. Bei Ihnen aber doch. Eine Premiere?

P.M.: Dass wir heute Kapitalismus und Klimakrise haben, beweist, dass keiner dieser Aufstände erfolgreich war. Wir wissen aber auch nicht, ob die heutigen Aufstände erfolgreich sein werden – insofern sind wir wieder im „dumpfen Mittelalter“ (vgl. Trump und seine Schamanen und Boogaloo-Brüder). Bei mir kommen ja dann die noch kaum unterworfenen Abodriten zum Zug.

Es geht darum, die Geschichte zu verändern, ihr zu entkommen

Sie nennen im Roman bei den Diskussionen zwischen den Revolutionären bereits Konzepte wie „Pensionskasse“ bzw. „Pensionsanspruch“, „Rente“, „Krankenkasse“ oder „gefülltes Bankkonto“. Wird dadurch nicht die tatsächliche Lage im Mittelalter verschleiert und letztlich auch ein schiefes Bild der Zeit um 1000 AD gegeben?

P.M.: Das Bild von jener Zeit ist gewollt schief, es geht um den Kontrast und die Übereinstimmung zwischen unseren heutigen Sorgen (Pensionskassen) und den damaligen (schlechte Ernten). Ich habe keinen historischen Roman schreiben wollen, sondern einen krass a-historischen. Dazu brauchte ich einige historische Kenntnisse. Ich wollte ja nicht aus Versehen etwas schildern, das tatsächlich stattfand.

Auf der anderen Seite eignet dem Aufstand der Anständigen ein anarchisch-heidnisches Moment an. Ein Widerstand gegen organisierte Religion und Pfründe aufgrund von Vererbung, letztlich: Bequemlichkeit und Ungerechtigkeit, die zum Reicherwerden einiger Reicher führt und zum Ausquetschen der Armen.

P.M.: Ich würde meinen Roman eher als kommunistische Propaganda in Romanform einordnen. Kommunistische Propaganda ist immer und überall hilfreich – solange man nicht selbst darauf hereinfällt. Also: ironische Propaganda, die den Raum fürs Selberdenken öffnet.

Sollen die Leser also aus der Geschichte lernen?

P.M.: Es geht nicht darum, aus der Geschichte zu lernen oder sie zu interpretieren, denn sie war immer die gleiche. Sie ist nicht das, was vergangen und ad acta gelegt ist, sondern das, was wir immer schon – in verschiedenen Formen – tun. Die Geschichte, das sind sozusagen die „Schichten“ in uns selbst. Es geht vielmehr darum, die Geschichte zu verändern, ihr zu entkommen – damals wie heute. Wenn wir nicht eine andere Geschichte für das zehnte Jahrhundert erfinden können, dann es gibt es auch keine andere für das zwanzigste und umgekehrt. Wenn wir keine realistischen Phantasien für ein zehntes Jahrhundert, das aus den ewigen Sachzwängen und Rechtfertigungen ausschert, entwickeln können, dann werden wir auch im zwanzigsten beziehungsweise einundzwanzigsten gefangen bleiben.

Kommt nach den zehn Bänden ein weiterer mittelalterlicher Roman?

P.M.: Ich schreibe an einem Roman, der im Jahr 150.000 in der Zukunft spielt. Bis dahin wird es schon mehrere Mal wieder „Mittelalter“ gewesen sein. Ganze Planeten werden so etwas wie ein Mittelalter einfach zum Spaß spielen. Das Universum ist ein theme park. Das wäre dann die Dividende einer kommunistischen Revolution: Geschichte als etwas, das man ausprobiert wie neue Kochrezepte.

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