Wang Ayi – nur Gott und der Hund zählen

Die Frau aus der Provinz ist das zweite von drei Kindern zu Hause, in der Regel keine Poolposition für den Start ins Leben. Von ihrer Mutter hörte sie unzählige Male, sie sei dumm und für nichts zu gebrauchen. Tatsächlich hat sie etwas Gemeinsames mit Forrest Gump.

 

Sie ist Mitte vierzig, groß und schlank, die Haare hochgesteckt und modisch gekleidet. Das passt gar nicht zu ihrem Beruf – Ayi, eine Art Hausmädchen für wohlhabende Großstädter. Der Aufgabenbereich kann alles umfassen, was mit einem Haushalt zu tun hat, putzen, kochen, Hunde führen, oder auch Babysitten, wenn Babys vorhanden sind. Die Ayis kommen meistens aus den ärmsten Kreisen der ärmsten Provinzen und sehen meistens auch nach jahrelangem Leben und Arbeiten in den Metropolen noch irgendwie bäuerlich aus.

Ihre schicke Kleidung hat Wang Ayi zuerst von einer Kundin geschenkt bekommen, die sie jahrelang beschäftigt und sie so bei Laune gehalten hat. Schließlich können das tägliche Putzen und Kochen auf Dauer ziemlich langweilig werden. Da Wang Ayi sonst kaum gesellschaftliches Leben genießt, zieht sie die hübschen Sachen für die Anfahrt zur Arbeit und die Rückfahrt nach Hause an. Es macht ihr Spaß, neidische Blicke von anderen Ayis auf sich zu ziehen und das Sicherheitspersonal am Eingang zu den Luxus-Siedlungen vorzutäuschen – in ihrem Outfit wird sie eher für eine Eigentümerin gehalten und dementsprechend höflich begrüßt. Zu Hause hat sie noch Parfums und Lippenstifte, die sie aufträgt, um am Wochenende mit ihrem Mann auszugehen.

Ihr Mann stammt ebenfalls wie Wang Ayi aus der Provinz Henan. Solche Ehen sind unter den sogenannten Wanderarbeitern üblich. Entweder kommt man gemeinsam mit dem Partner in eine Großstadt ihrer Sehnsüchte, oder man lernt in der Anfangsphase der Einsamkeit jemanden aus derselben Provinz kennen und lieben, weil man sich zuerst an die Leute aus derselben Gegend wendet, die bereits in der Fremde Fuß gefasst haben. Derselbe Dialekt hält Menschen wie ein Klebstoff zusammen.

Wang Ayi ist das zweite von drei Kindern zu Hause, in der Regel keine Poolposition für den Start ins Leben. Von ihrer Mutter hörte sie unzählige Male, sie sei dumm und für nichts zu gebrauchen. Tatsächlich hat sie etwas Gemeinsames mit Forrest Gump. Wenn sie bei der Familie ankommt, bei der sie gerade eingestellt ist, zieht sie sich um und legt los. Sie staubsaugt, wäscht Wäsche, wischt Staub, bügelt, sortiert die trockene Wäsche, huscht zwischen Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer hin und her und zaubert am Ende des Tages ein Festessen auf den Tisch. Das Handy schlummert die ganze Zeit in ihrer Handtasche. Für chinesische Verhältnisse ist das geradezu ungeheuerlich.

Ihr Arbeitsethos hat dazu geführt, dass ihr nie gekündigt wurde, sondern das Arbeitsverhältnis immer natürlich endete, zum Beispiel wenn die Familie in eine andere Stadt zog.

Nur bei einer ledigen Business-Frau hat sie es kaum ausgehalten. Dabei war ihre Aufgabe recht überschaubar. Da die Dame fast nie zu Hause ihre Mahlzeit einnahm, brauchte Wang Ayi nur die Wohnung sauber zu halten und den Hund auszuführen. Das Unerträgliche war, dass die launische Dame ihren beruflichen Frust oft an Wang Ayi ausließ und sie wegen jeder Kleinigkeit zusammenstauchte. Letztendlich war es der Hund Bueno, der Wang Ayi zum Bleiben „überredete“. Jeden Morgen kurz vor sieben hockte Bueno vor der Tür und wartete darauf, dass die ihm vertrauten Schritte näher kamen. Wang Ayi gab ihm zuerst Hundefutter und als Nachtisch Spitzkohl mit Milch. Dann gingen beide spazieren. Elf Jahre lang.

Dann zog die Kundin nach Shanghai um. Für Wang Ayi war die Welt zusammengebrochen. Sie kaufte sich selber einen Hund und taufte ihn in „Detektiv Schwarzer Kater“, eine beliebte Figur aus einem Zeichentrickfilm. Als der „Detektiv“ einmal blind wurde, betete sie jeden Tag für ihn. Eine Woche später blinzelte er wieder bei Sonnenlicht.

Gott habe sie nie im Stich gelassen, meint Wang Ayi. Nicht, als sie vor 20 Jahren mutterseelenallein mit hundert Yuan (rund 13 Euro) in der Tasche mit dem langsamsten Zug in die Hauptstadt kam; nicht, als sie einmal drei Wochen ohne Arbeit und Unterkunft war und oft hungern musste; nicht, als 2007 ihr kleiner Stand für trockene Früchte samt Markt geräumt wurde, um olympischen Projekten Platz zu machen. Ohne Gott hätte sie es nicht überlebt.

Wang Ayi ist bereits im Kindesalter Christin geworden. Woran Mutter glaubte, mussten die Kinder selbstverständlich glauben. Gott gab ihr die Geborgenheit, die die Mutter ihr verwehrt hatte. Heute geht sie sonntags zur Messe, manchmal kommt ihr Mann mit. Auch er ist Christ geworden. Der hohe Anteil der Christen unter den Wanderarbeitern ist ein wichtiger, wenn nicht entscheidender Grund für die insgesamt hohe Zahl der Christen in China. (Die chinesischen Offiziellen sprechen von knapp 40 Millionen, während in den westlichen Medien die Rede von über 100 Millionen ist. Das wäre knapp zehn Prozent der Bevölkerung). Der Grund liegt darin, dass sich die Kirche viel um die Bildung der Kinder der Wanderarbeiter kümmert. Das ist aber ein anderes Thema.

Der Mann von Wang Ayi hat eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Vom ungelernten Bauarbeiter hat er sich zum Abteilungsleiter einer Baufirma hochgearbeitet, die die Luxuswohnungen der reichen Chinesen renoviert. Mit anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Wirkungsstätten der beiden Eheleute eng beieinander liegen. Um nicht zu viel Zeit unterwegs zu verlieren, haben die beiden in einer der besten Lage in Beijing eine kleine Wohnung gemietet. Eine eigene Immobilie zu erwerben, scheint bei den astronomisch hohen Preisen in der Hauptstadt noch utopisch. Für ein eigenes Auto haben die Ersparnisse jedoch gereicht.

Ihr Mann sagte ihr, dass sie nicht mehr schuften müsse. Doch sie geht trotzdem jeden Tag putzen, kochen, bügeln, fünfmal die Woche. Sie macht das aus Gewohnheit, und auch um sich einen finanziellen Spielraum zu erarbeiten, damit sie sich selber schicke Klamotten leisten kann. Sonntags, wenn die Kirche coronabedingt geschlossen ist, hört sich Wang Ayi Predigten im Internet an, der Detektiv lauscht andächtig mit.

 

Zhang Danhong, geboren 1966 in Peking, studierte Germanistik an der Peking-Universität. 1988 folgte die Auswanderung nach Deutschland. Nach 30-jähriger Betriebszugehörigkeit kündigte sie Ende 2019 bei der Deutschen Welle. Dort war sie jahrelang stellvertretende Leiterin der China-Redaktion, bis sie 2008 Zielscheibe einer Kampagne wurde und im Zuge dessen ihrer leitenden Funktion enthoben wurde. Mittlerweile lebt sie als Publizistin in Peking.

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