„Wallstreetbets“- wirkungsvoller als Occupy

 

Bild: bantersnaps/Unsplash.com

Der Aufstand der Kleinanleger hat gezeigt, dass man die großen Börsenspekulanten mit ihren eigenen Waffen schlagen kann und wie fragil die Finanzmärkte sind.

Es gibt Soziolog*innen und Ökonomen, die glauben, dass die von Rosa Luxemburg formulierte Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ nicht auf Barrikaden, nicht in Parlamenten oder auf Plätzen, sondern an der Wall Street zur Entscheidung steht. Die aktuelle Entwicklung des bisher noch kleinen Crashs „Reddit“ gegen „Hedgefonds“, widerlegt sie zumindest nicht.

Doch drehen wir zunächst die Zeituhr ein wenig zurück. Als die Finanzmärkte 2008 in der Immobilienblase zusammenbrachen, initiierte der leider zu früh verstorbene anarchistische Theoretiker Daniel Graeber den Slogan, „Occupy the Wallstreet – we are the 99%“.

Tatsächlich kam es zu einer internationalen Massenbewegung – in Frankfurt war das Blockupy – gegen die Spekulanten, Hedgefonds und Private Equity-Gesellschaften. Vor allem junge Menschen, die sich um ihre Zukunft betrogen sahen, besetzten Parks, Börsenplätze, öffentliche Räume und organisierten große Demonstrationen. Selbst Regierungen fühlten sich aufgerufen und versprachen die „Massenvernichtungswaffen“, wie Warren Buffet sie mit Recht nannte, nämlich jene gehebelten Derivate, die maßgeblich zum Einsturz der Finanzmärkte beitrugen, zu verbieten. Die Banker zogen sich erst einmal zurück, gelobten Besserung und verhielten sich zunächst reumütig.  Leerverkäufe, Optionen und Optionsscheine, Hebelzertifikate, Zinsdifferenz Spekulationen sollten der Vergangenheit angehören.

Die Politik hat sich für die Ohnmacht gegenüber den Börsen und Banken entschieden

Geschehen ist fast nichts. Die Banken wurden auf Kosten der Steuerzahler*innen gerettet, es gelang sogar, die Finanzkrise als Staatsschuldenkrise umzudeuten. Die Händler*innen und Spekulant*innen kamen zurück in ihre Büros und begannen gegen genau die Staaten zu spekulieren, die sie eben noch vor dem sicheren Untergang bewahrt hatte.  Aus der umgedeuteten Finanzkrise zur Eurokrise und Staatsschuldenkrise folgte eine rigide Austeritätspolitik, um die „Märkte“ zu beruhigen. Die Südeuropäer, allen voran Griechenland als Exempel, wurden mit elenden Erpressungen gezwungen, die Vorgaben der Troika umzusetzen. Die Märkte erholten sich und begannen bis zur Pandemie eine Rally, die die Wenigen noch reicher und die Vielen noch ärmer machte.

Man muss keine Zynikerin sein, um rational zu analysieren, dass in dieser Phase die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in Parlamenten, sondern an den internationalen Börsen verhandelt und entschieden wurden. Nicht die Streiks vor den Werkstoren, nicht die Demonstrationen auf den Plätzen oder die Wahl linker Regierungen wie in Griechenland brachten die Verhältnisse zu Tanzen. Die Politik entschied sich für die Ohnmacht gegenüber den Börsen und Banken.

Flashmobs gegen Hedge-Fonds

Doch aktuell geschieht etwas, womit die Finanzindustrie nicht gerechnet hat. Die „Schwarmintelligenz“ der Kleinanleger*innen schlägt zurück. Die Börse ist in Aufruhr. Hedgefonds taumeln und die Nervosität, dass ein neuer Crash bevorstehen könnte, verunsichert.

Dabei begann das Spiel ganz im Sinne der Finanzindustrie: Während der Pandemie interessierten sich immer mehr Studierende und Gelangweilte für die Börsen. Die Flat-Broker-Portale schossen wie Pilze aus dem Boden. Dabei sein,  einmal mithandeln an der Börse für wenig bis gar keine Gebühr, am besten auf dem Handy wie an einer Spielkonsole, das spülte Geld in den Markt.

In den USA sorgte ein neues Traderportal für den Handel mit Aktien mit dem Namen des guten Räubers Robinhood für Furore. Ohne Handelsgebühren kann man zu jeder Zeit, an jedem Ort, handeln. In Deutschland war das Pendent Trade Republic, hier kostet die Order auf dem Handy nur 1 €. Die neuen Plattformen gelten als Gamechanger, die besonders jungen Menschen den Zugang an die Börsen schmackhaft machen. In Finanzblogs und YouTube-Kanälen wurden sie quasi als „Free Lunch“-Portale gefeiert und empfohlen.

Womit freilich niemand gerechnet hatte, war die Organisationsfähigkeit der Kleinanleger. In dem Social Media Board Reddit und auf Facebook stimmten sie sich ab, um es den großen Hedgefonds mal zu zeigen. Sozusagen Flashmobs gegen Hedge-Fonds heißt das neue Spiel. Normalerweise gelten sie als „dummes Geld“.

Ihr Kampf um die moralische Vorherrschaft an der Wall Street richtete sich gegen die Leerverkäufe und  gegen zwei besonders verhasste Fonds: Melvin Capital und Citron Research. Beide waren in der Aktie Game Stopp engagiert. Die Aktie war zu 150% leer verkauft. Schon dieser Tatbestand verstößt gegen die Regularien der Börsenaufsicht. Aber das kümmerte diese nicht – bis zu dem Tag des Gegenangriffes.

Vereinfacht gesagt, leihen sich die Hedgefonds die Aktien eines entsprechenden Unternehmens, das sie für überwertet ansehen. Sie verkaufen die geliehenen Aktien, um sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie tief genug gefallen ist, wieder zu kaufen. Läuft es gut, besteht der Gewinn aus der Differenz des Verkaufs z.B. für 100 € und des Rückkaufs für 20€. Damit lässt sich Kasse machen. Geht aber die Rechnung nicht auf und die Kurse steigen wider Erwarten, sind sie verpflichtet, Sicherheiten zu hinterlegen und die Aktien an einem festgelegten Zeitpunkt zu kaufen. Das kann dann teuer werden. Und genauso ist es bei Game-Stop und anderen leerverkauften Aktien in den letzten Tagen geschehen. Man nennt das einen  Short-Sqeeze, der teuer werden kann.

Die Kleinanleger haben in einer konzertierten Aktion alle auf dem Markt angebotenen  Aktien von Game Stop gekauft. Der Kurs explodierte. Die Parole hieß: „hold the Line“. Zu deutsch, „verkauft nicht“.

Das Imperium schlägt zurück

Die Hedge-Fonds gerieten unter Druck. Melvin Capital stand vor dem Konkurs und wurde mit 2,75 Milliarden Dollar von Citadel Hedgefonds gerettet. An diesem Punkt wird es spannend wie in einem Krimi. Der Retter ist  nämlich Partner der vorgeblich auf Seite der kleinen Leute stehenden Handelsplattform Robinhood. Diese wickelt alle Geschäfte über Citadel Securities ab. Man muss keine Verschwörungstheoretikerin sein, um zu ahnen, dass Citadel das Ganze als Lawine auf sich zukommen sah und deshalb Einfluss genommen hat.

Robinhood und Trade Republic sowie andere Flat Broker sperrten ihre Plattformen mit der Begründung, es gebe technische Schwierigkeiten. Game Stop und andere leerverkaufte Aktien konnten nicht mehr gekauft werden. So konnten die Hedgefonds sich einstweilen retten. Facebook reagierte ebenso und schloss eine Robinhood Gruppe mit 120.000 Mitgliedern, die ihre Investitionen abstimmten. Das Imperium schlägt also zurück.

Was haben denn Leerverkäufe mit uns zu tun, fragen sich Leser*innen, die weder Aktien noch Derivate kaufen oder besitzen. Sehr viel, lautet die Antwort. Am Beispiel der umgedeuteten Staatsverschuldung der Immobilienkrise 2008 kann man verdeutlichen, dass diese Finanzkrisen und „Börsenspiele“ nach „unten“ ausschlagen können.

Nachdem die ersten Rauchschwaden der Finanzkrise 2008 verzogen waren, spekulierten die Hedgefonds und andere Anleger mit Leerverkäufen der Staatsanleihen. Die Zinsen der Anleihen, insbesondere in Südeuropa, stiegen dramatisch. Die Staaten konnten diese nicht mehr bedienen. Der Euro stand kurz vor dem Zerfall.

Die Krise wurde durch zwei Maßnahmen eingedämmt. Zum einen durch die europäische Zentralbank und Draghis legendäres Zitat: „whatever it takes“. Womit klar war, die EZB kauft Staatsanleihen, um den Zins zu senken. Zum anderen durch die brutalen Sparprogramme, die Millionen Menschen in Südeuropa in die Arbeitslosigkeit und Armut schickten. Den Finanzmärkten war das egal.

Die Finanzmärkte reagieren auch jetzt wieder mit großer Verunsicherung. Die Politik verlangt  mal wieder Aufklärung. „Das ist nicht akzeptabel“, meldet sich die  amerikanische linke Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez zu Wort, „wir müssen mehr über die Entscheidung von Robinhood erfahren, Kleinanlegern das Kaufen von Aktien zu verbieten, während Hedgefonds die Aktien nach eigenem Ermessen frei handeln können.“ Ausgerechnet ein ultrarechter  Republikaner, Senator Ted Cruz, stimmte ihr zu. Das ist etwas so, als würde Alice Weidel mit Fabio De Masi finanzpolitisch an einem Strang ziehen.

Was lehrt uns dieser Aufstand der Kleinanleger*innen gegen die Übermacht der Hedgefonds?

Zunächst wird offenkundig, wie fragil die Finanzmärkte noch immer sind, und schon immer waren. Wenn der drohende Ruin eines einzelnen Hedgefonds offensichtlich die Gefahr einer Kettenreaktion beschwört und zu solchen, wahrscheinlich unrechtmäßigen Handlungen der Trader-Plattformen führt, ist Achtsamkeit angeraten. Im Unterschied zu Banken sind die Hedgefonds wenig bis kaum reguliert. Ihre Bilanzen sind quasi unsichtbar, in denen wohl viele Leichen schlummern. Sie bilden keine Rücklagen.

Zweitens geht es auch an den Börsen um kulturelle Hegemonie.  Und dies ist nicht der erste, siehe Wirecard,  und sicher nicht der letzte Finanzskandal.

Politisch ist der Aufstand der Kleinanleger ein (widersprüchliches) Signal. Man kann sicher nicht davon ausgehen, dass die Reddit und Wallstreetbets Community eine Ansammlung linker Börsenguerilleros ist. Vom Nerd über Student*innen, und Spieler*innen, dürfte sich da so ziemlich alles finden. Aber sie haben etwas gezeigt, was bisher unvorstellbar schien. Man kann die Spekulanten mit ihren eigenen Waffen schlagen.

Vielleicht haben sie den alten Mann aus Trier (wieder) gelesen, der ins Stammbuch des Kapitalismus schrieb:

„Unter unseren Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen Produktions-und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions-und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor…. Sie selbst (die bürgerlichen Verhältnisse, die Verf. ) führt also dem Proletariat ihre eigenen Bildungselemente, d.h. Waffen gegen sich selbst zu.“ (Karl Marx, Friedrich Engels, Das kommunistische Manifest).

Mitleid muss man in jedem Fall nicht haben. Wie es weitergeht, kann niemand seriös prognostizieren. Tatsache ist, dass die Finanzmärkte überhitzt und überkauft sind. Wann die Blase aber platzt, weiß niemand. Die Frage wird, wie bei der Pandemie sein, wer die Rechnung bezahlt.

Aber es gibt Zeichen der Hoffnung. Als in der Social-Media-Plattform ein User, sich bei Boys Reddit bedankte, erhielt er die Antwort: “ Mrs. Reddit please“.

Frauen sind also, siehe Rosa Luxemburg, nicht nur die besseren Politikerinnen. Sie sind auch die besseren Anlegerinnen, was übrigens tatsächlich empirisch untersucht wurde. Dann mal los!

 

Anmerkung:  Die Autorin des Textes folgt Reddit auf Twitter und war sehr interessiert an diesem Finanzspektakel, das in den sozialen Medien heftig diskutiert wurde. Dieser Text wurde allerdings mit Menschen diskutiert und besprochen, die etwas von Finanztechnik verstehen. Dank deshalb insbesondere an Klaus-Dieter Stork.

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