Lass den Geist wandern

Bild: Stux/Pixabay.com

Zu gehen, spazieren, wandern, laufen versetzt das Gehirn in einen besonderen Zustand – und der bewirkt viel Gutes.

Paul Preuß, Hermann Buhl und Ueli Steck sind abgestürzt, das zählt nicht. Aber Luis Trenker starb mit 97 Jahren im Bett, Heinrich Harrer mit 93 ebendort (aber in einem anderen), Anderl Heckmair brachte es auf 98 Jahre und Edmund Hillary auf 88. Und Reinhold Messner erfreut sich mit 77 Jahren bester Gesundheit und baut ständig neue interessante Häuser.

Bergsteigen verhilft zu einem langen Leben. Während Tennisspieler einen Tennisarm kriegen und Radfahrer Hodenkrebs, Fußballer schon mit Mitte Dreißig (und Balletttänzerinnen mit Mitte Zwanzig) altes Eisen sind und Bodybuilder körperliche und geistige Wracks, verhält sich der Wanderer wie der Duracell-Hase: . . . läuft und läuft und läuft . . .

Wir Menschen sind damit nicht allein. Für ein ebenso entzückendes wie aufschlussreiches Experiment stellten niederländische Forscher ein Laufrad, wie man es im Tierbedarfshandel bekommt, draußen ins Freie. Über eine daneben angebrachte Kamera konnten sie beobachten, wer es benutzte. Das Laufrad entwickelte sich binnen Kurzem zur In-Location: Mäuse kamen regelmäßig zum Training vorbei, auch Ratten, gelegentlich ein Frosch, und sogar einige Nacktschnecken drehten sehr gemächlich ihre Runden. Als gäbe es nicht genügend Platz zum Joggen auf der Wiese!

Nicht nur des Müllers Lust

Anscheinend macht Laufen Spaß. Es kann ja im Laufrad noch weniger als auf der morgendlichen Joggingrunde darum gehen, unterwegs neue Informationen zu ergattern, Futter zu finden oder ein begehrtes Ziel zu erreichen. Offensichtlich geht es um die pure Lust am Lauf, um reine intrinsische Motivation. Der Weg ist buchstäblich das Ziel. Unbewusst und ungelernt scheinen Menschen und andere Tiere zu wissen, dass die Fortbewegung ihnen guttut.

Dass das für den Körper gilt, ist trivial (sieht man einmal von den Knien ab . . . und dem Rücken . . . und überhaupt scheint mir der Segen des Radfahrens noch untererforscht. Aber das nur nebenbei). Die Forschung hat die alte Faustregel von den 10.000 Schritten pro Tag vor wenigen Jahren nahezu bestätigt: Je mehr Schritte Seniorinnen täglich zurücklegten, desto geringer war ihr Risiko, in den nächsten vier Jahren zu sterben, bis zu einer Sättigung bei ungefähr 7500 Schritten. Leidenschaftliche Wandersleut dürften jedenfalls darüber liegen, und anstrengendes Gehen war auch etwas wirksamer als geruhsames Schlendern.

Was für den Rest des Körpers stimmt, gilt auch für das Gehirn. Im Alter schrumpft es normalerweise. Aber ältere Menschen, die ein Jahr lang jeden zweiten Tag vierzig Minuten lang stramm spazieren gingen, waren danach nicht nur fitter als zuvor, sondern hatten sogar einen etwas größeren Hippokampus. Bei der Kontrollgruppe, die nur ein wenig Dehnung und sanftes Krafttraining machte, verkleinerte sich diese Struktur in den Schläfenlappen, die bedeutend ist für räumliche Orientierung und Gedächtnisbildung, hingegen in demselben Maße. Dass sich das auch positiv auf das Gedächtnis auswirkt, hat sich zumindest bei Mäusen gezeigt.

Geh aus, mein Herz, und suche Freud

Die Wohltat des Wanderns gilt aber auch für die Seele. Selbst dann, wenn man sich nicht bis zum Runner’s High steigert, bessern Gehen und Laufen die Laune.

Das geht so weit, dass sich sogar Depressionen damit bekämpfen lassen. Zahlreiche Studien haben diese Wirkung untersucht, und eine Metaanalyse (PDF) kam zu dem Ergebnis, dass die Effekte – gerade für die Maßstäbe psychologischer Forschung – mäßig bis stark waren, wenn Patienten über mehrere Wochen hinweg regelmäßig joggten. Man kann daher, so der Titel eines Buches, Laufen psychotherapeutisch nutzen, mit möglicherweise größerer Wirksamkeit als etablierte therapeutische Interventionen. Zumal ja mittlerweile zweifelhaft ist, ob pharmakologische Antidepressiva überhaupt gegen Depressionen wirken („Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich.“).

Wohltuend ist dabei wiederum nicht die Landschaft oder die frische Luft, sondern die Anstrengung. Man kann ähnliche Wirkungen nämlich, wie andere Untersuchungen gezeigt haben, durchaus auch mit dem Fahrradergometer oder Pilates, oder auch mit kraftorientiertem Intervalltraining erreichen. Mens sana in corpore sano, wie schon die alten Römer wussten. (Die das nicht wussten, starben tendenziell jung).

Darüber, warum das so ist, gibt es noch widerstreitende Ansichten. Endorphine und das Runner’s High scheiden aus, wirken sie doch viel zu kurzfristig und werden auch nicht bei allen Übungen erreicht – und wohl kaum beim Wandern. Ein interessanter Zusammenhang besteht darin, dass Laufen bei Labormäusen unter allen bislang untersuchten natürlichen Einflüssen derjenige ist, der die Neubildung von Nervenzellen im Hippokampus am stärksten anregt. Zumindest bei Ratten wurde gezeigt, dass Antidepressiva nur wirken, wenn sie diese Neubildungsrate steigern können.

Das würde auch erklären, weshalb Antidepressiva und Joggen die depressiven Symptome erst nach mehrwöchiger Anwendung verringern, denn es dauert entsprechend lange, bis die neugeborenen Zellen sich etabliert haben. Und vielleicht passt es auch damit zusammen, dass bei Menschen – anders als bei Ratten – nicht nur Antidepressiva nicht wirken (s.o.), sondern vielleicht auch die erwachsene Neuronenneubildung im Hippokampus fehlt („Braucht der menschliche Hippokampus neue Nervenzellen?“). Dann aber wäre weiterhin rätselhaft, weshalb sich trotzdem die Stimmung bessert, wenn man läuft.

Denken auf Wegen und Abwegen

Doch nicht die Stimmung allein profitiert. Auch wenn man es Fußballern und anderen Profisportlern nicht anmerkt, macht uns die Bewegung tatsächlich schlauer. Das nutzten schon die Anhänger des Aristoteles – vielleicht nicht zufällig eines sehr körperlichen Philosophen -, die beim Denken umherwandelten und daher Peripatetiker genannt wurden.

Auch hier gilt: Es muss nicht Wandern sein. Schwimmen macht ebenso akut schlauer, sicher auch Radfahren. Aber man unterhält sich dabei schlecht, und kann auch keine Notizen machen.

Besonders wichtig für das Philosophieren ist, dass wir beim Gehen nicht einfach nur IQ-Tests besser lösen können: Wir entwickeln auch mehr Ideen. Wir werden kreativer. Das gilt besonders beim Spazierengehen im Grünen, denn der Anblick von Natur und Grün beflügelt den Einfallsreichtum. Der Effekt ist aber auch auf einem Laufband zu finden. Ein Spaziergang im Wald inspiriert mehr, als wenn man dieselbe Strecke mit dem Rollstuhl geschoben wird oder auf einem Laufband trabt, beides aber übertrifft noch das Rumsitzen.

Anekdotische Evidenz und die Selbsterfahrung vieler Wissenschaftler bestätigt die anregende Kraft des Spazierens. „Forschung & Lehre“, die Mitgliederzeitschrift des Hochschulverbands, setzte über viele Jahre hinweg jeden Monat einem Professor oder einer Professorin denselben Fragebogen vor. Eine Frage begann: „Meine besten Einfälle habe ich . . .“. Eine Auswertung von über sechzig Fragebögen erbrachte hier an Platz 2 – hinter „bei Nichtstun“, aber vor „unter der Dusche“ – bei immerhin einem Siebtel der Befragten: „beim Spazierengehen / Wandern“.

Zurückzuführen ist das einerseits wahrscheinlich auf denselben neuronalen Mechanismus, der auch beim Nichtstun und Duschen anspringt: In Muße lässt unsere konzentrierte Aufmerksamkeit die Zügel schießen, und das introspektive Ruhezustandsnetzwerk übernimmt („Ideen aus dem neuronalen Untergrund“). Erinnerungen werden verarbeitet und neu sortiert, und latente Assoziationen leuchten auf.

Schlafen, Wachen, Träumen, Gehen

Damit zusammen geht andererseits ein weiterer Effekt, denn die sich weitende Aufmerksamkeit verändert auch die visuelle Wahrnehmung. Wenn wir ruhig sitzen oder stehen, fällt es uns leicht, uns auf eine Aufgabe zu konzentrieren, auf die wir unsere Augen fokussieren. Die Umgebung wird wirksam aus der Aufmerksamkeit gedrückt. Das ändert sich, wenn wir gehen. Nun gewinnt die Peripherie des Gesichtsfeldes an Wichtigkeit. Die Konzentration auf die Mitte des Gesichtsfeldes lässt nach, was sich auch im EEG beobachten lässt. Ein ähnlicher Vorgang, die latente Inhibition, blendet irrelevante Reize aus, die bereits bekannt sind. Eine geringe latente Inhibition ist aber typisch für sehr kreative Menschen, denn was für die akute Handlungsplanung irrelevant ist, mag sehr wohl hilfreich sein als Inspiration für eine neue Idee.

Wie kreativ Mäuse beim Laufen werden, ist noch nicht bekannt. Auch bei ihnen aber werden Sehreize ganz anders verarbeitet, wenn sie sich auf den Weg machen. Sogleich verdoppelt sich die Rate, mit welche Nervenzellen in der Sehrinde Aktionspotentiale feuern. Das liegt nicht daran, dass die Augen oder andere neuronale Stationen auf dem Weg ihre Aktivität erhöhten, sondern ist eine interne Modulation der Hirnrinde: Eine Sorte hemmender Neuronen hemmt eine andere, so dass im Ergebnis die erregenden Hauptzellen enthemmt drauflos feuern.

Als der Studienleiter, der bedeutende Neurobiologe Michael Stryker aus San Francisco, diese Ergebnisse vor einigen Jahren bei einer Tagung vorstellte, gab er ihnen eine besondere Bedeutung: Es geht wahrscheinlich um mehr als eine gründlichere Verarbeitung von Seheindrücken. Indem die Hirnrinde ihr ganzes Erregungsniveau umschaltet, sobald die Maus zu laufen beginnt, begibt sie sich in einen eigentümlichen, globalen Zustand. Wir haben bislang nur zwei Zustände des Gehirns gekannt – Wachen und Schlafen -, oder drei, wenn man den Schlaf in Tief- und Traumschlaf unterscheidet. Aber gibt es vielleicht noch mehr Zustände, fragte Stryker, die wir noch gar nicht bemerkt haben? Gehen jedenfalls ist so ein weiterer neuronaler Zustand.

Gehen, spazieren, wandern, laufen ist also auch für das Gehirn etwas grundsätzlich Anderes als „vorwärts Stehen“. Es ist von der Unbeweglichkeit so verschieden wie das Träumen vom Tiefschlaf oder der Schlaf vom Wachen. Gehirn und Denken funktionieren auf eigentümliche Weise, wenn wir einen Fuß vor den anderen setzen. Unwillkürlich denke ich an die – auffallend häufig eher fülligen – Fahrer von E-Rollern. Sie berauben sich selbst nicht nur der Fahrsicherheit, Bequemlichkeit, Stauraum und Würde, sondern auch der Aussicht, körperlich und geistig auch im Alter noch hohe Gipfel zu erklimmen.

 

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