Stadt, Land, Stress

Bild: Yasuo Kida/CC BY-2.0

In Städten häufen sich die psychischen Störungen. Die Hinweise häufen sich, dass die Belastungen des Stadtlebens das Gehirn schädigen.

Wie groß der optimale Wohnort ist, darüber gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Die Einen träumen vom Leben auf dem Lande, die Anderen zieht es in die Stadt. Meinen persönlichen Eindruck, dass erstere meist Männer, letztere überwiegend Frauen sind, bestätigen Umfragen nur zur Hälfte: Bei beiden Geschlechtern bevorzugt ein Drittel das Landleben, aber Frauen möchten viel lieber in der Groß- statt in der Kleinstadt wohnen.

Das sind zunächst einmal nur Geschmacksunterschiede. Der Wunsch nach viel Platz, Garten und Geborgenheit steht gegen das Verlangen nach kurzen Wegen, Arbeitsplatznähe und Abendunterhaltung. Bei der Abstimmung mit den Füßen gewinnt sowieso die Stadt. Weltweit wohnt mittlerweile nur noch weniger als die Hälfte der Menschen in Städten, Tendenz steigend. In Deutschland sind es schon über 84%.

Ökologisch betrachtet, ist das eine vorteilhafte Entwicklung. Stadtbewohner haben kürzere Wege: Alle Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten liegen in der Nähe, ebenso meist der Arbeitsplatz, so dass Pendeln entfällt. Für die kurzen Wege brauchen die Städten zudem oft genug kein Auto: Das Netz öffentlicher Verkehrsmittel ist eng geknüpft, Fahrradwege sind meist vorhanden. Auch die Heizkosten sind geringer, denn Städte sind im Durchschnitt mehrere Grad wärmer als das Umland, und in Wohnblocks sind die Wärmeverluste geringer als im Einfamilienhaus. Provokant folgert der Harvard-Ökonom Edvard Glaeser: Wer die Umwelt liebt, wohnt in der Stadt.

Jüngst sekundierte ihm die Soziologin Christine Hannemann und erklärte apodiktisch: „Ein Mensch gehört in die Stadt.“ Ihre Gründe bleiben mir leider unbekannt, weil sie hinter einer Bezahlschranke stecken. Aber es ist zu vermuten, dass es gleichfalls soziologische, ökonomische, ökologische Gründe sind.

Jedenfalls keine psychologischen.

Kein guter Wohnort für die Psyche

Denn die Psyche des Menschen sperrt sich hartnäckig gegen das vermeintlich gute Leben in der Stadt. Es ist ein seit vielen Jahren oft replizierter epidemiologischer Befund, dass nahezu alle psychischen Störungen in der Stadt erheblich häufiger auftreten als auf dem Land: Das Risiko dafür, an einer Stimmungsstörung oder Angst- und Zwangserkrankung zu leiden, ist für Stadtbewohner um rund ein Drittel höher als für Landbewohner. Bei der Schizophrenie verdoppelt sich das Risiko sogar. Nur beim Substanzmissbrauch ist der städtische Vorsprung nicht signifikant (man denkt an Schützenfeste und Stiefeltrinken), und es gibt meines Wissens nur eine Erkrankung des Gehirns, die auf dem Land häufiger auftritt: die Parkinson-Krankheit. Diese Auffälligkeit hat auf die Spur von Pflanzenschutzmitteln, insbesondere Rotenon, als mögliche Verursacher der Krankheit geführt.

Aber zurück zu den psychischen Störungen: Bedeutet das, dass Stadtleben krank macht? Zunächst selbstverständlich nicht. Es handelt sich nur um eine Korrelation. Sie erklärt sich wenigstens zum Teil auch dadurch, dass Menschen mit psychischen Problemen in die Städte ziehen. Auf dem Lande ist die Stigmatisierung psychischer Störungen oft stärker, so dass Betroffene geneigt sind, die Anonymität der Stadt zu suchen. Überdies finden sie hier leichter medizinische Hilfe, während auf dem Lande die psychiatrische Versorgung dünn und die Wartezeiten lang sind.

Innerhalb von Städten sorgt dann ein weiterer, diesmal negativer Auswahleffekt dafür, dass Menschen mit psychischen Störungen sich vermehrt in „städtischsten“, am dichtesten bewohnten Vierteln sammeln: Dort sind einfach die Mieten am niedrigsten. Gesunde, leistungsstarke Stadtbewohner ziehen hingegen fort in die besseren Viertel. Eine hohe Dichte von Psychotikern in der Platte muss also nicht bedeuten, dass Beton die Seele schädigt.

Von der Korrelation zur Ursache

Verursachung ist in epidemiologischen Studien immer schwer dingfest zu machen. Saubere experimentelle Ansätze, am besten noch doppel-verblindet und mit zufällig aufgeteilten Stichproben, sind mit Menschen weitaus schwerer durchzuführen als mit Mäusen. Trotzdem sprechen einige Ergebnisse dafür, dass Städte nicht nur psychisch Kranke sammeln wie die Waschschale Goldkrümel, sondern sie auch erzeugen.

Zunächst einmal fällt auf, dass bei all jenen Störungen, die in der Stadt gehäuft auftreten, Stress an der Entstehung beteiligt ist. Das gilt für Angststörungen ebenso wie für Depression und Schizophrenie. Die hohe Menschendichte, der Lärm und die Umweltbelastunten sorgen in Städten für beständigen Stress. Auch die nächtliche Beleuchtung dürfte eine Rolle spielen, stört sie doch den Schlafrhythmus und damit die seelische Funktion.

Das sind dennoch nur Plausibilitätsargumente. Es gibt aber noch direktere Hinweise darauf, dass die Stadt das Hirn belastet. Das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, steigt nämlich mit der urbanen Wohndauer– und zwar nicht nur aktuell, sondern vor allem vor der Pubertät! Je länger jemand bis zum 15. Lebensjahr in der Stadt gewohnt hat, desto mehr läuft er Gefahr, im späteren Leben schizophren zu werden. Die vergehende Zeit sorgt dafür, dass hier Ursache und Wirkung nahezu eindeutig zu erkennen sind.

Stadt der Angst

Wenn die psychische Gesundheit eines Erwachsenen davon mitbestimmt wird, wo er geboren und aufgewachsen ist, dann spricht das dafür, dass die Wohnumwelt seine Gehirnentwicklung beeinflusst hat. Dieser Spur ist die Arbeitsgruppe von Andreas Meyer-Lindenberg in Mannheim nachgegangen. Gesunde Erwachsene wurden leicht gestresst, während sie im Magnetresonanztomographen lagen; dabei wurde nach Gehirnregionen gesucht, deren Aktivität aufgrund des Stresses anstieg. Die Aktivität der Amygdala – des allseits bekannten „Angst-Kerns“ in den Schläfenlappen – war unter sozialem Stress höher bei Großstädtern als bei Dorfbewohnern, Kleinstadtbewohner lagen dazwischen. Als nächstes berechneten die Forscher ein Maß dafür, wie viel Zeit die Probanden in wie großen Städten aufwachsen waren. Dieses Maß hing nicht mit der Amygdala-Aktivierung zusammen. Stattdessen korrelierte es mit der stressinduzierten Aktivität im mittleren Stirnhirn. Dieser Teil des Stirnhirns ist unter anderem damit befasst, die Amygdala unter Kontrolle zu halten.

Unter der Voraussetzung, dass Stadtleben Stress verursacht, belastet es das Gehirn also auf unterschiedliche Weise, je nach Alter: Während des Heranwachsens schwächt es vermutlich die Fähigkeit, Stress und Angst zu bewältigen; später dann verstärkt es die Angst. Das ist eine ungute Synergie, die verständlich macht, warum stressinduzierte Störungen in der Stadt entstehen und ausbrechen.

Mannheim, ach, Mannheim

Aber die Menschen wollen nun einmal in die Stadt. Umso wichtiger wird es damit, ihnen dort ein gesundes Leben zu ermöglichen. Denn Städte sind ja keine homogenen Ansammlungen. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Villenviertel und Bahnhofstraße. Und diese Unterschiede wirken sich nicht nur auf die Mieten aus, sondern auch auf das Gehirn.

Das hat Meyer-Lindenberg in einer weiteren Studie kürzlich eindrucksvoll sichtbar gemacht (s.a. Telepolis: „Grün für‘s Gehirn“). Die Versuchsteilnehmer bekamen eine App auf ihr Schlauphon, die laufend ihren Standort nachverfolgte und in zufälligen Abständen nach dem werten Befinden fragte. Je mehr städtische Grünfläche sie gerade von ihrem Standort aus sehen konnten, desto besser bewerteten die Probanden ihre jeweilige Laune. Die Parks und Gärten wirkten dabei gerade bei denjenigen Probanden besonders positiv, deren Stirnhirnaktivität eher eine Anfälligkeit für psychische Erkrankungen vermuten ließ. Die aber wohnten vorwiegend ausgerechnet in der zwar bemerkenswert ordentlich strukturierten, aber architektonisch äußerst tristen Mannheimer Innenstadt, und bewegten sich auch überwiegend dort. Gerade diejenigen, denen etwas Grün besonders gut getan hätte, bekamen es kaum zu Gesicht. So dass insgesamt das Auftreten psychischer Störungen gegenläufig mit dem Grünanteil der Stadtviertel korrelierte. Es sind demnach doch nicht nur Auswahl- und Wanderungseffekte, die dazu führen, dass gesunde Menschen in den teuren Vierteln und psychisch kranke in den Mietskasernen hausen, sondern direkte Wirkungen der städtischen Umwelt auf die Seele.

Die Stadt zum Dorf machen

Gesellschaft und Politik haben also die Möglichkeit, sogar Städte zu Orten zu machen, wo man gesund und glücklich aufwachsen und leben kann. Eine aktuelle Studie über Lebenserwartung und Gesundheit in lateinamerikanischen Städten zeigt, wie viel Verantwortung und Macht die Stadtplaner diesbezüglich haben.

Die Studie wertete die Daten von 363 Städten in Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexico, Panama, Peru und El Salvador aus. Es gibt große Unterschiede zwischen den Staaten: Am ältesten kann man in Chile und Costa Rica werden, am jüngsten stirbt man in Mexico und Brasilien. Interessanter aber als die Unterschiede zwischen Ländern sind diejenigen innerhalb von ihnen. Für Männer überspannt die Lebenserwartung in Brasilien etwa neun und in Mexico sogar elf Jahre, je nachdem, in welcher Stadt sie sterben. Der Gesundheit abträglich ist besonders ein Wohnort im Norden Mexicos und im äquatorialen Brasilien. Die Ursachen für vorzeitiges Ableben waren dort v.a. tätliche Angriffe.

Aber die Ursachenforschung ging tiefer, denn Gewaltverbrechen entstehen nicht aus dem Nichts. Aus dem Bildungsniveau, Zugang zu Wasser und Abwasserentsorgung sowie der Übervölkerung wurde ein „social environment index“ berechnet. Dieser erklärte den größten Teil der Unterschiede zwischen den Städten. Je höher der Index, desto seltener fanden Menschen einen gewaltsamen Tod, desto seltener auch starben sie an Unterernährung oder Kinderkrankheiten, und desto älter wurden sie insgesamt.

Über die geistige Gesundheit macht die Studie keine Aussagen. Trotzdem zeigt sie, dass Politiker viel Spielraum darin haben, wie lebenswert und gesund eine Stadt sein kann. Übrigens liegen auch in Deutschland immerhin vier Jahre zwischen dem Kreis mit der höchsten und jenem mit der niedrigsten Lebenserwartung. Städte so zu gestalten, dass man darin gesund bleiben kann, ist eine schaffbare Aufgabe. Wenn viel Grün und viel Platz dabei wichtige Faktoren sind, so ist Stadt anscheinend dann am besten, wenn sie wie Dorf aussieht.

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