Musikalische Flucht

Erlkönig, Elbersdorf: Belvedere, Aussichtsturm Schöne Höhe. Bild: Jörg Blobelt/CC BY-SA-4.0

Welche Mittel stehen der Musik zur Verfügung, wenn es darum geht, Flucht musikalisch darzustellen? Die Kunstmusik liefert dafür beredte Beispiele.

Die künstlerische Darstellung von Fluchtmomenten ist ihrem Wesen nach stets mit dem Problem konfrontiert, dass man nur schwer, wenn überhaupt, den Flüchtenden und die Fluchtursache bzw. den ihn zur Flucht Veranlassenden aus einer und derselben Perspektive zu erfassen vermag.

Das lässt sich selbstredend von den allermeisten Gegenständen der menschlichen Wahrnehmung behaupten; Wahrnehmung ist immer zwangsläufig partiell. Und doch muss diese Grunderkenntnis bei der Darstellung von Flucht besonders hervorgehoben werden, denn es handelt sich dabei um einen Nexus von Bedrohung und der Angst vor ihr, eine Verbindung, die einerseits eine Symbiose herstellt, die sich archaisch im Bild des Verfolgers und des Verfolgten, des Opfers und potentiellen Täters, mithin des Grundverhältnisses von Gefahr und Angst im kreatürlichen Dasein sedimentiert hat. Andererseits ist aber, bei aller Dialektik, letztlich nichts weiter voneinander entfernt als die Perspektive des Bedrohers und des Bedrohten bzw. allgemeiner: zwischen dem Leidtragenden und dem Leid Zufügenden. Die Identifizierung mit dem, der Leid zufügt, und die mit dem, dem Leid widerfährt, sind polar entgegengesetzt.

Das Problem verkompliziert sich gleichwohl, wenn es sich beim aktuell Flüchtenden um einen vorherigen Verfolger handelt, mithin das jetzige Opfer zuvor als Täter auftrat. Bekannt ist das Problem der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg; nicht von ungefähr sollte es Jahrzehnte dauern, bis sich der deutsche (politische) Kulturdiskurs an ihre Leiderfahrung heranzutasten wagte. Wer konnte sich schon erlauben, ehemaligen Nazis mit Empathie zu begegnen?

Nicht minder gravierend mag die ideologische Verdrängung von (historischer) Flucht und deren Ursachen sein: Bis zum heutigen Tag wird in Israel die palästinensische Massenflucht (die freilich zum Teil mit aktiver Vertreibung einherging) im 1948er Krieg – die sogenannte Nakba – aus dem israelischen Hegemonialdiskurs verdrängt, bzw. beruft man sich auf „Flucht“ als einen mildernden Umstand im Vergleich zur „Vertreibung“, weil diese als gleichsam selbstgewählte dem kollektiven zionistischen Narzissmus zuträglicher zu sein scheint.

Was bedeutet das für die musikalische Darstellung von Flucht? Zunächst und vor allem, dass Musik programmatisch werden muss, d.h., dass die musikalischen Mittel zur Darstellung von Außermusikalischem eingesetzt werden, womit sich aber die Frage erhebt, wie sich dies Außermusikalische so kodieren lässt, dass es angemessen ins Musikalische übersetzt werden kann.

Verschiedene Musikepochen haben hierfür, gemäß der inneren Logik ihrer Stilvorgaben, unterschiedliche Lösungen angeboten. Die deutsche Romantik war in dieser Hinsicht besonders ambitioniert. In ihr avancierte die musikalische Nachahmung von Außermusikalischem nachgerade zum Ideal, mithin Laut- und Tonmalerei zur höchsten Kunst. Aber während „Waldruh“, die „Erhabenheit“ des Gebirges oder (besonders beliebt) der Sturm etwa sich relativ leicht musikalisch kodieren lassen, ist dies bei der Darstellung von Flucht an sich nicht gar so leicht zu haben.

Was soll dargestellt werden? Die Angst des Flüchtenden, die Aggressivität des Verfolgenden, die Fluchtbewegung als solche? Es ist davon auszugehen, dass die Schwierigkeiten, die sich bei solch „realistischer“ Vermittlung des Geschehens zwangsläufig ergeben, dazu geführt haben, dass man zumeist Kontext und Attribute der Flucht zur Grundlage ihrer musikalischen Kodierung gewählt hat.

Schubert und Wagner

Als paradigmatisch darf in diesem Zusammenhang Franz Schuberts Vertonung des „Erlkönig“ gelten. Zwar handelt es sich beim Goetheschen Gedicht nicht um Flucht im unmittelbaren Sinne, und doch wird in ihm ein Moment der Getriebenheit, die jeder Flucht (auch) zu eigen ist, thematisiert.

Bekanntlich übersetzt Schubert den im Gedicht gesteuerten Perspektivwechsel zwischen Vater, Sohn, Erlkönig und Erzähler meisterlich ins Musikalische. Dabei unterlegt er aber den Rede- und Erzählpassagen ein in der Klavierbegleitung fast durchgängig perpetuiertes Begleitmotiv, das sowohl den hastigen Pferderitt als auch die Sturmatmosphäre von „Nacht und Wind“ einfasst. Die Fluchtdynamik ergibt sich aus der psychischen Getriebenheit des seinen Sohn verzweifelt zu retten bestrebten Vaters, der Dauerbewegung des Pferderitts und der Nachahmung des Sturmstimmung.

Des gleichen Mittels bedient sich Richard Wagner bei der Darstellung eines der bekanntesten Fluchtszenen der Opernliteratur. Das Tondrama „Die Walküre“ beginnt mit der Flucht Siegmunds vor der Sippe Hundings, die ihn verfolgt, weil er einige von ihr getötet hat. Was er noch nicht weiß, ist, dass er erschöpft und kraftlos Zuflucht im Hause Hundings finden wird, dessen Frau Sieglinde, wie sich herausstellt, seine Zwillingsschwester ist.

Die komplexen Zusammenhänge, die in inzestuöser Geschwisterliebe und erneuter Flucht kulminieren, mögen hier unerörtert bleiben. Von Belang ist, wie Wagner im Vorspiel zum ersten Aufzug der Oper die Fluchtbewegung musikalisch umsetzt. Auch er wählt eine Sturmnacht zur Szene, auch bei ihm steht die Getriebenheit des Flüchtenden im Vordergrund der Darstellung. Zwar handelt es sich bei der Bewegung nicht um die Geschwindigkeit eines hastigen Pferderitts, Siegmund bewegt sich zu Fuß, aber ähnlich wie bei Schubert werden Schrecken, Angst und Fluchtantrieb durch eine Tremolo-Figur eingeleitet und fast durchgehend dynamisch perpetuiert. Auf eine aufsteigende Figur, die den tobenden Sturm imitierend anzeigt, folgt eine Stakkato-Tonreihe, welche die Fluchtschritte des gehetzten Siegmunds wie sein pochendes Herzklopfen suggerieren.

Dabei geht es aber nicht um eine schlichte „Beschreibung“ des dramatischen Geschehens. Musik besitzt ja ihrem Wesen nach, auch als programmatische, nur beschränkte Fähigkeit zur begrifflichen Informationsübermittlung. Ihre Stärke liegt gerade darin, dass sie Psychisches zu durchdringen, vor allem aber Gefühlswelten hervorzurufen und zu stimulieren vermag. Wer sich auf die Getriebenheit des Vaters bei Schubert und auf die Schreckensflucht Siegmunds bei Wagner einlässt, bangt mit, wird selbst unruhig, ist mitunter von Grauen erfasst. Filmmusik im 20. Jahrhundert hat den künstlerischen (auch manipulativen) Umgang damit zur wahren Meisterschaft gebracht.

Tschaikowsky

Aber Flucht bzw. das In-die-Flucht-Schlagen kann auch Triumph bedeuten. Von selbst versteht sich, dass dabei die Perspektive des die Flucht Verursachenden eingenommen wird. In vielen Schlacht- und Kriegsdarstellungen wird dies zum Prinzip erhoben: Die Scheidung in good guys und bad guys erreicht ihren triumphalen Höhepunkt im Sieg der good guys, zumeist kulminierend in Niederlage und Flucht der bad guys.

Ein spektakuläres Beispiel orchestraler Musik dafür findet sich in der zum Dauerhit der Konzertsäle avancierten Ouvertüre „1812“ von Peter Tschaikowsky. Sie wurde 1882 mit großem Erfolg uraufgeführt und erwies sich in ihrer Rezeptionsgeschichte als eines der beliebtesten Werke des Komponisten, der es selbst aber ganz und gar nicht schätzte und sich darüber abfällig äußerte.

Das Stück beschreibt eindringlich die Invasion Russlands durch Napoleons Heere, die Ängste der betenden Bevölkerung, Schlachten sowie Triumph und Freudentaumel nach dem Sieg. Zur Kennzeichnung der Franzosen verwendet Tschaikowsky die Marseillaise, zu der der Russen die Zarenhymne. Beides übrigens Anachronismen: Napoleon hatte die Marseillaise als Nationalhymne abgeschafft, und die Zarenhymne von 1882 gab es 1812 noch nicht. Das spielt aber keine Rolle. Denn um den Sieg über Napoleon und dessen Flucht, die im übrigen ganz und gar nicht hastig verlief, darzustellen, verwendet Tschaikowsky beim dritten Schlachtbild ein Fragment der Franzosenhymne, um ihr eine absteigende Musiksequenz beizugesellen, die den Rückzug symbolisiert, eine Sequenz, die alsbald von einem von den Russen dominierten Schlachtgetümmel übertönt wird, um dann in einer langen – erstaunlich einfallslosen – sich ewig zu wiederholen scheinenden absteigenden Sequenz die Franzosen gleichsam zu „begraben“, ehe der abschließende Triumphmarsch einsetzt: Die Flucht Napoleons als Sieg des Zaren. Über die politisch-historische Bedeutung dieses Fluchtereignisses möge hier geschwiegen werden.

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