Präludium

Georg Simmel sprach vom Fremden als dem Wandernden. Er meinte dabei nicht den, „der heute kommt und morgen geht, sondern den, „der heute kommt und morgen bleibt, mithin den potentiell Wandernden, „der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. Das mag auch für die Lebensgeschichte eines ansäßig Gewordenen zutreffen. Ich bin 71 Jahre alt, habe bis dato sechs Jahrzehnte meines Daseins in Israel gelebt, ein Jahrzehnt, das zweite meines Lebens, in Deutschland. Bei solchen quantitativen Proportionen sollte man meinen, daß ich in Israel beheimatet bin und Deutschland lediglich eine Episode meiner Biographie darstellt. Dem ist aber mitnichten so, denn ich bin in beiden Ländern der Fremde, der heute gekommen und morgen geblieben ist. Wie geht das?

Nun, nach Israel kehrte ich mit zwanzig aus zionistischen Beweggründen zurück und mußte dann angesichts dessen, was sich in diesem Land politisch und sozial abspielte, ernüchtert erleben, wie mein Zionismus zunehmend verblich, bis ich mich von ihm vollends loslöste. Ich etablierte in Israel meine familiäre Existenz, verfolgte meine berufliche Laufbahn, hatte Kollegen und Kolleginnen, meinen Bekannten- und Freundeskreis – und doch, obgleich ich blieb und nicht weiterzog, habe ich das elementare Gefühl der Gelöstheit des Kommens und Gehens nie ganz überwunden. Im Kopf, wenn ich diesen lapidaren Ausdruck verwenden darf, bin ich der potentiell Wandernde geblieben, mithin zum Teil Fremder im eigenen Land.

Der zehnjährige Aufenthalt in der BRD der 1960er Jahre erwies sich als bestimmend für meine geistige, intellektuelle und kulturelle Entwicklung. Es waren die formativen Jahre, die meine spätere berufliche und öffentliche, meine akademische und politisch-kritische Tätigkeit determinieren sollten. Es waren Jahre der intensiven Aneignung von Bildung, das berauschende Jahrzehnt einer aufbrechenden Jugendkultur und der politischen Sozialisation in einem Deutschland der 68er Bewegung und der Neuen Linken. Die Denker der Frankfurter Schule wurden meine geistigen Väter und die Denktradtion, der sie entstammten, gerann zur philosophischen Grundlage meiner sozialen, politischen und kulturellen Ausrichtung. Ich zog weg von Deutschland, war ein Fremder in diesem anderen Land meines Lebens, und doch blieb ich geistig und kulturell ihm verhaftet.

„Zwischen zwei Ländern“ bedeutet also, in beiden Ländern als Fremder, mithin mit der Gelöstheit des Kommens und Gehens eines Wandernden angelangt und dennoch auf je eigener Weise in ihnen geblieben zu sein. Das prägte auch mein Schreiben. Dabei spielt Historisches eine gewichtige Rolle. Auf beiden Ländern lastet die Erinnerung an die den europäischen Juden im 20. Jahrhundert widerfahrenen Katastrophe; die Shoah hat das kollektive Selbstverständnis und die politische Kultur beider Länder fundamental beeinflußt und eingehend geformt. Kaum ein Deutscher, der Juden „neutral“ zu begegnen vermöchte, kaum ein israelischer Jude, der „Deutschland“ nicht mit einem gewissen Maß an Idiosynkrasie wahrnimmt. Trotz aller Beteuerungen und des zunehmenden Zeitabstandes zum historischen Ereignis kann keines der beiden Länder den Anspruch erheben, sich inzwischen „normalisiert“ zu haben, geschweige denn, die „Normalisierung“ des wechselseitigen Verhältnisses zueinander überhaupt zuzulassen.

Dieses Grundverhältnis verkompliziert sich noch angesichts des Stellenwerts, den der Nahostkonflikt in der Beurteilung Israels in der Welt einnimmt. Die Leiderfahrung der Palästinenser, das ihnen widerfahrene historische Unrecht, vor allem aber das von Israel gegen sie seit Jahrzehnten ausgeübte menschen- und völkerrechtswidrige Besatzungeregime, verschieben, je nach gewählter ideologischer Perspektive, die Koordinaten des Verhältnisses von Opfern und Tätern, von historischen wie aktuellen Leidtragenden und Leidverursachern. Das muß sich zwangsläufig auch aufs Schreiben auswirken: Als Sohn von Shoah-Überlebenden, der im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen ist, aus Idealismus in sein Geburtsland zurückkehrte, um durch die Blindheit dieses Landes gegen das Leid der Anderen bei gleichzeitiger heteronomer Instrumentalisierung des eigenen historischen Leids ernüchtert zu werden, bedarf es eines intellektuellen Jongleuraktes, um der verzwickten Verzahnung all der hier dargelegten Widersprüche und Gegenläufigkeiten gerecht zu werden.

Simmel redete von der „Objektivität des Fremden“ und erläuterte: „Objektivität ist keineswegs Nicht-Teilnahme […] sondern eine positiv-besondere Art der Teilnahme“. Er fügte gar hinzu: „Man kann Objektivität auch als Freiheit bezeichnen. Der objektive Mensch ist durch keinerlei Festgelegtheiten gebunden, die ihm seine Aufnahme, sein Verständnis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren könnten.“ Es ist nun diese „Freiheit“, welche die hier begonnene feuilletonistische Blogrubrik bestimmen wird – sowohl in der Wahl der Themen als auch in den jeweiligen Darlegungen und Deutungen. Dabei soll es nicht nur um Israel und Deutschland, um Juden und Palästinenser, um realen oder vermeintlichen Antisemitismus gehen, sondern nicht minder auch um Kulturelles, um philosophische, soziologische und psychologische Reflexionen über Vergagenheit, Gegenwart und Zukunft.

Hinzugefügt sei, daß Simmel besagte „freiheitliche“ Objektivität problematisierte. Er hob „die Proportion von Nähe und Entferntheit, die dem Fremden den Charakter der Objektivität gibt,“ hevor, eine Proportion, die ihren „praktischen Ausdruck findet in dem abstrakteren Wesen des Verhältnisses [zum Fremden], d.h. darin, dass man mit dem Fremden nur gewisse allgemeinere Qualitäten gemein hat, während sich das Verhältnis zu den organischer Verbundenen auf der Gleichheit von spezifischen Differenzen gegen das bloß Allgemeine aufbaut.“ Das macht die Qualität des Schreibens zwischen zwei Ländern aus, möglicherweise aber auch den Preis, den man dafür zahlt, den Ansprüchen der organischer Verbundenen nicht genügen zu wollen.

 

Blog von Moshe Zuckermann, Tel Aviv
Zwischen zwei Ländern erscheint wöchentlich immer Samstags.

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