Adorno, der Marxist

Bild: Hermann/Pixabay.com

Warum Marcuse in Adorno „einen der ganz wenigen, die die Marxsche Theorie in ihren tiefsten Intentionen weiterbetrieben haben“, erkannte

 

Kurze Zeit nach Adornos Tod am 6. August 1969 gab Herbert Marcuse ein Interview zum Andenken an seinen Freund und Kollegen. Er hatte sich zu diesem Gespräch nicht zuletzt mit dem Ziel bereit erklärt, die falsche Deutung der zwischen Adorno und ihm zuletzt aufgetauchten Differenzen aus der Welt zu räumen.

Er betonte die nie erschütterte Gemeinsamkeit und Solidarität, die es zwischen ihnen gegeben hätte. Gefragt, worin diese Solidarität bestanden habe, sagte Marcuse: „Ich glaube, es gibt niemanden, der so wie Adorno der bestehenden Gesellschaft radikal gegenüberstand, der sie so radikal gekannt und erkannt hat.“ Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis in Adornos Verhalten verstand er als einen „temporären Rückzug“ auf das „reine Denken“, aber nur um „allmählich und so wirkungsvoll wie möglich das Bewußtsein der notwendigen Veränderung wieder zu entwickeln und damit die notwendige Veränderung vorzubereiten.“

Auf die Nachfrage, ob die Wirklichkeit keine Praxis mehr zulasse, antwortete Marcuse, dass in diesem Punkt in der Tat eine der Differenzen zwischen Adorno und ihm gelegen habe. Davon ausgehend, dass der Spätkapitalismus Formen der Repressionen entwickelt hat, welche die in der Marxschen Theorie traditionelle Praxis der Veränderung unmöglich zu machen scheinen, fügte er die bemerkenswerte Erläuterung hinzu:

„Ich denke hier besonders an die Integrierung weiter Schichten der Bevölkerung, besonders an die Integrierung der Arbeiterklasse in das bestehende kapitalistische System in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Das heißt aber, daß das geschichtliche Subjekt, das gesellschaftliche Subjekt der Revolution offenbar nicht mehr da war, oder offenbar nicht mehr oder noch nicht aktiv war. An dieser Stelle war er [Adorno] orthodoxer Marxist. Ohne eine Massenbasis in den ausgebeuteten Klassen ist eine Revolution unvorstellbar. Und weil diese Massenbasis in der gegebenen Situation gerade in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht sichtbar war, hat er sozusagen die Umsetzung der Theorie in die Praxis vertagt.“

So interpretierte Marcuse auch Adornos Konflikt mit den linksbewegten Studenten gegen Ende seines Lebens: Adorno habe in der Studentenbewegung „keine gesellschaftsverändernde Kraft“ gesehen und deshalb ihren „Aktionismus“ abgelehnt. Er sei der Ansicht gewesen, dass „Aktionen, die keinen gesellschaftlichen Boden haben, auch keine gesellschaftliche Kraft haben können“, mithin „nicht Ausdruck der Hoffnung, sondern Ausdruck der Verzweiflung“ seien. Und so sah Marcuse in Adorno „einen der ganz wenigen, die die Marxsche Theorie in ihren tiefsten Intentionen weiterbetrieben haben. Die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft und ihre Negation ist durch sein Werk in allen Bereichen der Kultur sichtbar gemacht worden.“

Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?

Nicht von ungefähr meinte Adorno bei seinem Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag im Jahr 1969, welcher der Erörterung des Zustands entwickelter Gesellschaftssysteme gewidmet war, der „mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse nicht Vertraute könnte auf den Verdacht geraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit; Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob die gegenwärtige Phase nun Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft heißen solle“.

Ob es dabei dem mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse sehr wohl Vertrauten heute anders gehen mag, darf bezweifelt werden. Aktuelle Kodeworte wie Globalisierung, Zivil-, Konsum-, Medien-, gar „Spaß“gesellschaft indizieren ein genuines Bedürfnis, offensichtliche Transformationen, die moderne Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten weltweit durchliefen, begrifflich zu fassen, kaschieren jedoch nicht minder den Umstand, dass sich am Wesen dessen, was im Begriff als obsolet abgetan wird, nichts Grundlegendes geändert hat.

Trotz aller Umbenennung ist der (Spät-)Kapitalismus samt der ihm einwohnenden Herrschafts-, Ausbeutungs- und Manipulationsmechanismen mitnichten aus der Welt geschafft, sondern unterläuft lediglich einen euphemistisch modifizierten Absegnungsdiskurs, der sich gerade im Nomenklaturstreit (der freilich heute kaum noch „Streit“ genannt werden kann; das reale Kräfteverhältnis der objektiven Weltlage hat sich auf den agonalen theoretischen Diskurs merklich ausgewirkt) als Ideologie höchster Stufe erweist.

Menschen: „Anhängsel an die Maschinerie“

Adorno hat hierauf im besagten, nunmehr fünfzig Jahre alten Vortrag prägnanten Bezug genommen. Er unterstrich durchaus den objektiv stattgefundenen Wandel im Bereich der Produktionsmittel, meinte darüber hinaus, man dürfe sich zur bündigen Disjunktion von Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft gar nicht nötigen lassen, bestand jedoch vor allem darauf, dass Herrschaft weiter über Menschen durch den ökonomischen Prozess hindurch ausgeübt werde, nur dass dessen Objekte „längst nicht mehr nur die Massen [sind], sondern auch die Verfügenden und ihr Anhang. Der alten Theorie gemäß wurden sie weithin zu Funktionen ihres eigenen Produktionsapparats.“

Und habe sich schon die Verelendungstheorie nicht a la lettre bewahrheitet, „so doch in dem nicht weniger beängstigenden Sinn, dass Unfreiheit, Abhängigkeit von einer dem Bewusstsein derer, die sie bedienen, entlaufenen Apparatur universal über die Menschen sich ausbreitet“. Zwar werden nach Lebensstandard und Bewusstsein „vollends in den maßgebenden westlichen Staaten Klassendifferenzen weit weniger sichtbar als in den Dezennien während und nach der industriellen Revolution“, und doch sind stets noch „die Menschen, was sie nach der Marxschen Analyse um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren: Anhängsel an die Maschinerie, nicht mehr bloß buchstäblich die Arbeiter, welche nach der Beschaffenheit der Maschinen sich einzurichten haben, die sie bedienen, sondern weit darüber hinaus metaphorisch, bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln. Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen.“

Vor allem ging es aber Adorno um den von ihm so bezeichneten „Vorrang der Struktur“, darum eben, „daß Begriffe wie Tauschgesellschaft ihre Objektivität haben, einen Zwang des Allgemeinen hinter den Sachverhalten bekunden, der keineswegs stets zureichend in operationell definierte Sachverhalte sich übersetzen läßt“.

Dieser Vortrag wurde im Todesjahr Adornos gehalten. Man darf ihn im Geiste dessen, was Marcuse an Adorno ausmachte, noch heute als den bilanzierenden Epilog von Adornos durchgehend marxistischem Denken ansehen. Alle Bereiche seines Wirkens – ob Makrosoziologie, Musikphilosophie, politische Psychologie oder  Kulturkritik, ob aphoristische Beobachtungen, historiosophische Betrachtungen oder epistemologische Erwägungen – sind von Grundkategorien Marxschen Denkens durchzogen: seinem geistigen Kampf gegen Strukturen und Muster verdinglichten und entfremdeten menschlichen Daseins.

Adornos Kapitalismuskritik galt den konkreten Auswirkungen des Spätkapitalismus, wie sie von allen Denkern der Frankfurter Schule diagnostiziert wurden, zugleich aber auch dem Kapitalismus als moderne Manifestation dessen, was Horkheimer und er in der „Dialektik der Aufklärung“ analysiert hatten, der repressiven Herrschaft als transhistorisches Muster der Zivilisation, mithin der sich zunehmend verfestigenden Ideologie und ihres Effekts als universeller Verblendungszusammenhang.

Verdinglichtes Bewusstsein

Indes stellte sich bereits im Adorno-Jahr 2003 heraus, dass man bestrebt ist, die Relevanz von Adornos Denken entweder völlig in Abrede zu stellen oder zumindest dadurch zu relativieren, dass man die marxistische Dimension seines Denkens (samt Kapitalismuskritik) sorgfältig entsorgte. Das hatte viel mit dem Niedergang des Marxismus in der Ära nach dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus zu tun; aber es spielte dabei auch ein anderer Aspekt eine gravierende Rolle.

Da nämlich Adorno und Horkheimer sich bereits sehr früh mit dem Antisemitismus (und mutatis mutandis auch mit dem Holocaust), namentlich in der „Dialektik der Aufklärung“, befasst hatten, stieg Adorno in der neuen Ausrichtung einer sich vom Marxismus verabschiedenden, dafür sich umso intensiver der „Bekämpfung des Antisemitismus“ als Praxis der „Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit“ sich hingebenden deutschen Linken zum Kulthelden des zunehmend ideologisch fetischisierten Antisemitismus-Diskurses in Deutschland herauf.

Es ist kaum zu glauben, mit welcher Verve der „neue kategorische Imperativ“ (aus der „Negativen Dialektik“) oder der Begriff des „sekundären Antisemitismus“ über Jahre in der akademischen Forschung und intellektuellen Publizistik verhunzt und willentlich missdeutet worden sind. Aber man versteht eben nicht, was es heißt, dass „in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar“, wenn man nicht begriffen hat, dass dies mit der Kategorie des „verdinglichten Bewusstseins“ aufs engste verschwistert ist, welche Adorno so erklärt:

„Erst haben die Menschen, die so geartet sind, sich selber gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich.“

In jedem dieser Einsichten sind die Marxschen Kategorien notwendig und unabdingbar sedimentiert. Und genau das meinte Marcuse, als er im gerade verstorbenen Freund trauernd „einen der ganz wenigen, die die Marxsche Theorie in ihren tiefsten Intentionen weiterbetrieben haben“, erkannte.

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