Ideologische Kapriolen

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Der Begriff „falsches Bewusstsein“ verärgert die Vertreter der neuen Intelligenz sehr. Wer ist überhaupt berechtigt zu bestimmen, was ein falsches Bewusstsein sei, fragen sie und fügen mit Emphase hinzu, dass, sobald sich ein Bewusstsein so, wie es zutage tritt, herausgebildet habe, es auch authentisch sei.

Über die irrationale Wut hinaus, dass der Begriff von Marx stammt, rührt der Widerstand gegen ihn von der freiwilligen Hinnahme des (vermeintlichen) Verlustes eines jeden Kriteriums für die Bestimmung dessen her, was annehmbar, wünschenswert oder gar wahr sei. Die Behauptung, derzufolge man zumindest im Nachhinein die Lüge benennen kann, die dem Bewusstsein der Menschen in einem bestimmten historischen Augenblick zugrunde lag (z.B. die Begeisterung von Millionen für einen Krieg, der einen ganzen Kontinent zugrunde gerichtet hat; das enthusiasmierte „Ja!“-Gebrüll als Antwort auf die Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“; oder – auf ganz anderer Ebene – die Überzeugung von Juden in den 1930er Jahren, dass Hitler nur eine vorübergehende Randerscheinung sei und dass es für einen Juden möglich wäre, in Deutschland zu überwintern, bis „der Sturm vorbei“ ist), lässt die den Begriff des falschen Bewusstseins Abweisenden zwar für einen kurzen Moment stutzen. Aber sie finden bald schon zu ihrem freudig-selbstgefälligen Relativismus zurück, sobald man sie mit der Behauptung konfrontiert, dass falsches Bewusstsein im Hinblick auf das richtige Leben sich auch in weniger dramatischen, gleichsam „normalen“ Zusammenhängen herausbilden mag, oder – wahlweise – in Zusammenhängen, die mit ihrer ideologischen Ignoranz nicht recht vereinbar sind, z.B. das falsche Bewusstsein, von dem die öffentliche Legitimation durchdrungen ist, die den Handlungen der Regierung, der Armee, des „Siedlungswerks“ und dergleichen mehr staatlicher Institutionen zuteilwird, deren Existenzberechtigung wie ihre Taten für sie nur authentisch und folglich auf keinen Fall falsch sein können.

Ideologischer Partikularismus

Dabei wird auch oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Aus modischer Verzweiflung am Universalismus ist der partikulare Diskurs über ethnische und kulturelle Identitäten zum Ziel und Zweck des emanzipatorischen Kampfes mutiert. Dabei vergisst man aber, dass sich der Kampf ums Partikulare in der Verkleidung eines Anspruchs aufs Allgemeine stets im Rahmen hegemonialer Herrschaftsapparaturen zuträgt. Der Kampf erweist sich somit nolens volens als Affirmation des Hegemonialprinzips.

Solange die Überlappung von Klasse und Ethnie fortbesteht, ist der Kampf um die Befreiung der ethnisch-kulturellen Identität zwangsläufig auch Ideologie einer Reproduktion der Klasse. Daran trägt der Postmodernismus keine geringe Schuld. Eine seiner eklatanten Prostitutionserscheinungen manifestiert sich in der aufwallenden Aggression gegenüber jeglicher Hierarchisierung der Kunst als „hoch“ oder „niedrig“. Ein Aufschrei des Entsetzens über Elitismus löst sich, apodiktische Aussagen über die Relativität von Urteilskriterien und demonstrative Verachtung des der hierarchisierenden Rubrizierung innewohnenden Anachronismus.

Die Aufwallung hält unversehens inne, sobald man zur Erörterung der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft übergeht (zuweilen wird man gar dafür gerügt, dass man „Politik“ ins Gespräch einbringt). Und merkwürdig: Was für die neuen Kulturrelativisten im Kunstbereich annehmbar ist, gar die freudig-regressive Abschreibung jeglicher intellektueller Verantwortung ermöglichen mag, ist für sie im Bereich der Wissenschaft inakzeptabel.

Die Möglichkeit, dass ihre Aggression gegenüber der Postulierung von Hierarchie in der Kunst sich als Ideologie einer selbstverständlichen Hinnahme der hierarchischen Gesellschaftsorganisation erweisen mag, kommt ihnen dabei gar nicht in den Sinn. Im Gegenteil – je erregter sich die Aufwallung im einen Bereich gebärdet, desto stärker nimmt sie ab und versumpft in der Indifferenz gegenüber dem anderen. Eine gewisse Überraschung überkommt die Aufwallungsfreudigen dennoch, wenn ihnen plötzlich bewusst wird, dass die Debatte über dieses Thema selbst eine „hohe“ ist.

Analogie als Ideologie

Vieles ist schon über die in die Ideologie des Endes aller Ideologie ganz und gar eingetauchte Analogie zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus geschrieben worden, eine Analogie, die das (ideologische) Ziel besitzt, die historisch feindlichen Lager zu einem zusammenzuschweißen.

Der Beginn dieser Analogie-Tradition lässt sich bis auf private Äußerungen Martin Heideggers Ende der 1940er Jahre zurückverfolgen. Sie setzte sich dann unterschiedlich fort – in der Totalitarismustheorie Hannah Arendts in den 1950er Jahren, im Vergleich zwischen Auschwitz und dem stalinistischen Gulag, den Ernst Nolte Mitte der 1980er Jahre propagierte, in der Analogie zwischen „roter“ und „brauner“ Vergangenheit, die sich nach der Vereinigung beider deutscher Staaten Anfang der 1990er Jahre einer gewissen Popularität erfreute, und in den Debatten über das „Schwarzbuch des Kommunismus“.

Es lohnt sich indes, einen Aspekt dieser Analogie erneut hervorzuheben, der unter den Ruinen der ideologischen Polemik verschüttet geblieben ist: Ein Marxist kann das Regime der historischen Sowjetunion aufs schärfste kritisieren, ohne auch nur einen Deut der Kapitalismuskritik, der er anhängt, revidieren zu müssen. Man kann aber kein Nazi oder Neonazi sein und zugleich das nationalsozialistische Regime des Dritten Reichs verurteilen.

Während der Marxsche Kommunismus sich noch nirgends auf der Welt verwirklicht hat (der „real existierende Sozialismus“ war ja keiner, auch nicht nach der Auffassung seiner Führer von Lenin bis Gorbatschow), hat sich der Hitler-Staat von Anbeginn als das konstituiert, was er zu werden versprach. Die Frage, ob Auschwitz ein Teil seines ursprünglichen Plans war, ist für den hier erörterten Zusammenhang irrelevant: Die innere Logik der Nazi-Ideologie barg die Möglichkeit von Auschwitz in sich; und in jedem Fall steht der Holocaust in keinem logischen Widerspruch zum Wesen des Nazismus. Der Gulag hingegen inhärierte weder in der Vergangenheit noch inhäriert er heute der dem Marxschen Klassenkampf-Postulat zugrunde liegenden Logik – er steht, ganz im Gegenteil, in eklatantem Widerspruch zu Marx’ Gesellschaftsbild, einschließlich seiner Revolutionstheorie.

Es ist an der Zeit, jene, die sich übers Grauen des Kapitalismus (ideologisch) zu beruhigen vermögen, indem sie die stalinistischen Gulags zum Argument gegen den Kommunismus erheben, erneut daran zu erinnern, dass der Marxismus eine Theorie der menschlichen Befreiung von historischen Gesellschaftsgebilden der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Entfremdung bietet, während der Nationalsozialismus in seinem Wesen nichts anderes ist als eine (auf dem „Führer-Prinzip“ basierende) Herrschaftsideologie, eine Weltanschauung, die einer unumstößlichen Rassenhierarchie, dem Antisemitismus, der „Volkshygiene“, der Verfolgung eines (abstrakt konstruierten) „Feindes“ und seiner Vernichtung das Wort redet. Das ist wahrlich nicht dasselbe – außer vielleicht für jene, die meinen, dass sich das „Reich der Freiheit“ bereits im Kapitalismus verwirklicht habe.

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