Israel in der historischen Sackgasse

 

Tel Aviv. Bild: Alexey Bogoslavsky/CC BY-SA-4.0

Gibt es eine Lösung für den Nahostkonflikt? Will man überhaupt eine Lösung anstreben? Eindeutig ist die Antwort darauf nicht.

1994 darf für ein entscheidendes Jahr in der zeitgenössischen israelischen, mithin der israelischen-palästinensischen Geschichte erachtet werden. Es ist das Jahr, in welchem sich der Oslo-Friedensprozess noch in anfänglicher Blüte befand, ein Jahr – das darf man im nachhinein behaupten –, das noch hoffen ließ, daß unter Yitzhak Rabin und Yassir Arafat der blutige Konflikt zwischen Israels Juden und den Palästinensern an sein Ende gelangen könnte.

Was beide Staatsmänner auszeichnete, war die, gemessen an der gewaltdurchwirkten historischen Beziehung beider Völker, nicht selbstverständliche Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Friedenslösung. Es gehörte Mut dazu, diese Verhandlungen zu vollziehen, denn es ging um nicht weniger, als um die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates, mithin um die Räumung der von Israel besetzten Gebiete, um den Abbau der Siedlungen, die Lösung der Jerusalem-Frage im Sinne der Hauptstadt beider Staaten und um die politische Lösung des Rückkehrrechts der Palästinenser.

Der Rabin-Mord

Was für ein Risiko dabei der israelische Premierminister einging, sollte sich schon im nächsten Jahr erweisen: Am 4. Novermber 1995 wurde Yitzhak Rabin von einem nationalreligiösen Fanatiker am Ende einer Friedenskungebung in Tel Aviv ermordet. Dieses Attentat darf als eine schicksalsträchtige Wende in der gesamten politischen Ausrichtung Israels angesehen werden. Denn nicht nur mündete die Bewältigung der Katastrophe bald genug in vermeitlich „reflexive“ Fragen, ob man nicht mit dem Frieden „zu schnell vorgegangen“ sei; ob Rabin nicht doch „Verrat am Zionismus“ begangen habe; ob es angehe, dass israelische Linke Israels politische Rechte pauschal verurteile. Sondern der gesamte öffentliche Diskurs mündete alsbald im Postulat der „nationalen Versöhnung“, was nichts anderes bedeutete, als dass der israelischen Rechten eine Art Absolution erteilt wurde.

Rabin, Clinton und Arafat 1993. Bild: White House

Nicht von ungefähr verlor Shimon Peres die nach einem halben Jahr erfolgten Knesset-Wahlen. Vergessen war, welche Hetze führende Rabbiner der Siedlerbewegung betrieben hatten (eine Hetze, die bis zur expliziten Rechtfertigung des potentiellen politischen Mordes reichte); welche aufwiegelnde Reden Natanjahu, der künftige Premier, vor fanatisierten Anhängern gehalten hatte; welche perfide ideologische Umdeutung des Verbrechens zunehmend stattfand. Wenn man heute in Israel Yitzhak Rabin und seine Gesinnungsgefährten als die „Oslo-Verbrecher“ apostrophiert, so hatte diese Metamorphose vom betrauerten Märtyrer zum verfluchten ideologischen Täter in jenen Jahren ihren Beginn.

Die Folgen

Heute, im Jahre 2021, lassen sich die strukturellen Folgen und Auswirkungen dieser Entwicklung in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten ziemlich genau aufzeigen und benennen. Denn nicht nur kollabierte der Oslo-Prozess im Jahr 2000 und die zweite palästinensische Intifada brach aus, sondern – damit einhergehnd – auch die Friedensemphase der 1990er Jahre verblich nach und nach, bis sie vollends erlosch, nicht zuletzt, weil das von Ehud Barak in die Welt gesetzte Ideologem, es gebe auf der palästinensischen Seite „keinen Partner“ für den Frieden, eine breitwillige Aufnahme und Verbreitung im israelischen Politdiskurs erfuhr.

Worüber man sich aber zunächst keine (bzw. nur von wenigen angerissene) öffentliche Rechenschaft ablegte, war die Sackgasse, in die Israel mit dem politisch zunehmend verfestigten Abschied von der Suche nach Möglichkeiten zur Beilegung des Konflikts geriet.

Israel steht vor der historischen Entscheidung zwischen der Zwei-Staaten-Lösung, d.h., der Lösung des Konflikts mit den Palästinensern durch Anerkennung eines von den Palästinensern errichteten souveränen Staates an der Seite Israels, und der Lösung des Konflikts durch die Errichtung eines binationalen Staates, eines Staates also, in dem Juden und Palästinenser als gleichwertige Bürger gemeinsam leben würden.

Es gibt keine andere strukturelle Möglichkeit außerhalb dieser beiden Grundoptionen. Denn die Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung bedeutet die objektive (graduelle) Entstehung einer binationalen Struktur, die, wenn von beiden Seiten akzeptiert, in einen binationalen Staat münden wird; wenn aber von beiden Seiten abgelehnt – und im Hinblick auf die Verfestigung dessen, was im jüdisch-israelischen Diskurs als „demographisch tickende Zeitbombe“ genannt wird, zu einem gestandenen Zustand, in dem Juden eine Minorität im eigenen Land bilden – Israel zu einem Apartheidstaat im vollen Sinne des Wortes werden lassen wird.

Diese letzte Möglichkeit wird von der westlichen Welt längerfristig kaum akzeptiert werden können, von den Palästinensern selbst ganz zu schweigen. Die Isolation Israels würde in diesem Fall Dimensionen annehmen, zu denen im Vergleich der historische Präzedenzfall des internationalen Boykotts gegen den südafrikanischen Apartheidstaates erblassen dürfte, wenn man die geopolitische Expolsivität des israelisch-palästinensischen Konflikts in Kauf nimmt – denn der Nahostkonflikt kodiert mehr als „nur“ ein herkömmliches Menschenrechtsproblem.

Netanjahu und Trump

Diese aufs Strukturelle absehende Darlegung ist gleichwohl zur Zeit dahingehend wirklichkeitsfern, als die Option der Zwei-Staaten-Lösung von Israel in den vergangenen beiden Jahrzehnten durch eine zunehmend intensivierte Besiedlung des Westjordanlandes systematisch unterwandert und ihre Verwirklichung letztlich außer kraft gesetzt worden ist. Zudem hat sich die globale Geopolitik seit einigen Jahren von Grund auf verändert.

Mit Donald Trump hatte Benjamin Netanjahu, zumindest dem Augenschein nach, einen Verbündeten gewonnen, der jeglichen Druck der USA auf Israel in Richtung einer nahöstlichen Friedensinitiative zur Chimäre hat verkommen lassen. Die politische Klasse des Landes rühmte sich, einen „wahren Freund Israels“ im Weißen Haus generiert zu haben. Die Stagnation, mithin der Verzicht auf Frieden, welcher als „Verwaltung des Konflikts“ ideologisiert wird, ist zur erklärten Politik geronnen.

Mit der vor einiger Monaten herbeigeführten Abwahl Netanjahus und dem erfolgten Regierungswechsel hat sich am Problem der Besatzung und des perennierenden Konflikts mit den Palästinensern nichts geändert. Rechte und rechtsradikale Parteien, die die Gründung eines palästinensischen Staates kategorisch ablehnen, bilden den dominierenden Teil der herrschenden Regierungskoalirion. Von dieser Koalition ist keine Friedensinitiative zu erwarten. Netanjahu ist geschwächt worden, aber seine Politik ist geblieben.

Aussichten

Was bedeutet das für die nächsten Jahrzehnte? Wie wird es künftog um Israel bestellt sein? Eine gültige Voraussage darüber muss man sich in der sich beschleunigt dynamisierenden heutigen Welt versagen. Befragen lässt sich gleichwohl die Vergangenheit im Hinblick auf die Koordinaten der künftigen Entwicklung.

Entsprechend gilt es nicht zu erörtern, ob es in den kommenden Jahren einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geben wird (wer weiß das schon?), sondern ob Israel an einem solchen Frieden überhaupt interessiert ist. Und gemessen daran, dass, wie dargelegt, Israel in den seit der Oslo-Initiative vergangenen Jahrzehnten alles daran gesetzt hat, den auf Territorialverzicht basierenden Frieden zu vereiteln, eine Absicht, die sich immer wieder in den Wahlergebnissen niedergeschlagen hat, muss man sich darüber hinaus fragen, ob Israel, im Grunde aber der Zionismus generell, den Frieden mit den Palästinensern je wirklich gewollt hat. Das darf bezweifelt werden. Vor allem, weil die Widersprüche und Aporien der zionistischen Raison d’être und ihrer historischen Verwirklichung zu gewichtig waren, als das sie hätten schlicht eliminiert werden können. Es war eben nicht ein Volk ohne Land in ein Land ohne Volk eingewandert; man gründete den Staat in einer feindlichen Region und beging dabei ein ungesühntes historisches Unrecht.

Das „Sicherheitsproblem“, das zweifellos einen geschichtlichen Wahrheitskern aufweist, war so besehen den realen Voraussetzungen der Gründung dieses Staates gleichsam mit eingeschrieben. Man konnte sich da noch so einreden, man sei mächtig und stark, dem geopolitischen Umfeld überlegen; man mochte sich noch so im „Anrecht“ auf das „verheißene Land“ suhlen und sich des lippenbekenntnishaft proklamierten Strebens nach Frieden rühmen – sicher konnte sich der zionistische Staat seiner historischen Nachhaltigkeit, seines künftigen Bestehens, nie sein. Die Diaspora hat sich im Zionismus erhalten. Sie blieb stets seine – freilich nie selbst eingestandene – alternative Option.

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