Kollektives und Individuelles in der Musik

Bild: tanzania/gemeinfrei

 

Gibt es einen spezifischen Niederschlag der Kategorien des Individuellen und Kollektiven in der Musik? Zwei Beispiele.

 

Insofern das Individuelle und das Kollektive ein polares Gegensatzpaar bilden, darf behauptet werden, dass sich in der Musik das volle, von diesen gegensätzlichen Polen umfasste Spektrum abbildet. Musik kann zum einen sowohl für den Praktizierenden als auch für den Hörenden ein individuelles Erlebnis par excellence bewirken: der vor sich hinsummende Straßenpassant, das selbstverloren trällernde Kind, der in der Feldeinsamkeit vor seiner Herde flötende Hirte, wie denn der für sich selbst Klavier spielende Hausmusiker – sie alle kennzeichnet ein spezifisches Beisichsein, das in keinem anderen Kunstmedium so ausgeprägt ist wie in der Musik.

Musik kann aber zum anderen das prononcierte Medium kollektiver Kunstpraxis sein, und zwar sowohl in der Ausführung als auch in der Rezeption: von den Kleinformen des musikalischen Ensembles der Kammermusik oder der Popband bis hin zum voll ausgebildeten philharmonischen Orchester bzw. großen Chor – sie alle haben die kooperierende Versammlung von Menschen zur Voraussetzung, die in der kleinen Zuhörerschaft des bürgerlichen Salons, im Großpublikum des Konzertsaals oder auch in der riesigen Stadionmasse des Rock- oder Popkonzerts ihre Entsprechung finden mag.

Diese strukturell bewirkte Dimension des Individuellen-versus-Kollektiven ist in der Form des Konzerts für Soloinstrument und Orchester der klassisch-romantischen Epochenfolge zur gereiften Ausprägung gelangt, die ihre außermusikalische Grundlage wohl in der Heraufkunft der bürgerlichen Gesellschaft hatte: Dem zum Ideal dieser neuen Zeit erhobenen selbstbestimmten Individualsubjekt stand die sich objektiv bildende moderne Massengesellschaft gegenüber, wobei das Individuum als solches nur mit Bezug aufs überindividuell Kollektive gedacht werden konnte. Was die klassische Soziologie als das Problem von Individuum und Gesellschaft zu apostrophieren pflegte, ging in die Konzertform als künstlerisches Prinzip eines dialektischen Konkurrenz- und gleichzeitigen Synthesenverhältnisses von Solopart und orchestralem Tutti ein.

Die Neunte

Im letzten Satz der Neunten von Beethoven ist dieses dialektische Grundverhältnis zur höchsten inhaltlichen wie formalen Einheit geronnen. Beethoven begeht dabei einen revolutionären „Tabu“-Bruch: In die autonome Sphäre der „kollektiven“ Instrumentalmusik – die der klassischen Symphonie – schleust er nicht nur Vokales ein, sondern rekrutiert zu diesem Zweck ein Gedicht: Schillers „Ode an die Freude“. Dieses Poem ist bekanntlich eine einzige Huldigung ans menschlich Kollektive bzw. an den Eintritt jedes Einzelnen in den universellen Menschheitsbund.

Mit dem Überschwang eines allumfassenden Verschwisterungspathos heißt es parolenhaft „Seid umschlungen Millionen!“, und schon die berühmte erste Strophe verweist aufs Emanzipative des Kollektiven: „Freude, schöner Götterfunken, / Tochter aus Elisium, / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligthum. / Deine Zauber binden wieder, / Was die Mode streng getheilt, / Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt.“

Interessant ist nun, was Beethoven mit dieser Kernaussage musikalisch anstellt: Er legt das in der Symphonie Gesungene wechselweise in den Mund von vier Solosängern und einen großen gemischten Chor (so als sollten parallel dazu im Bereich der Instrumentalmusik das Streichquartett und das große Orchester miteinander vereint werden). Ein Einzelner ist es, der zur Ton-Harmonie aufruft: „O Freunde, nicht diese Töne! / Sondern laßt uns angenehmere / anstimmen und freudenvollere.“ Was sich im weiteren Verlauf dieses Schlusssatzes variationenreich entfaltet, kulminiert im ekstatischen Chorgesang: Das Kollektive wird in diesem grandiosen Schlusssatz – auch von der Musikstruktur und -form her – als humane Vergemeinschaftung von autonomen Einzelmenschen begriffen. Sowohl in der Wortaussage als auch in der Anordnung des musikalischen Materials vollzieht sich das hohe Aufklärungsideal einer Synthese von Individuum und Kollektiv.

Boris Godunow

Gleichwohl kann die Konstellation von Individuellem und Kollektivem auch zu einer widersprüchlichen Aussage des Kunstwerks führen. Als Paradebeispiel hierfür darf Modest Mussorgskis Oper „Boris Godunow“ gelten.

Etwas Merkwürdiges widerfuhr diesem Werk im Verlauf seiner Rezeption. Rimski-Korsakow, Mussorgskis enger Freund, erkannte zwar die Genialität der Oper, meinte indes nach Mussorgskis Tod, man müsse ihre stilistischen „Entgleisungen“ ausmerzen, ihre musikalische „Wildheit“ zähmen, sie glätten und verfeinern, und orchestrierte sie entsprechend neu, schnitt ganze Teile aus ihr heraus, fügte eigene Takte Musik hinzu, vor allem aber – wechselte die Reihenfolge des zweiten (vorletzten) und dritten (letzten) Bildes im abschließenden vierten Akt.

Die „korrigierte“ Fassung Rimski-Korsakows erlangte große Popularität und erwies sich als bevorzugte Aufführungsversion auf allen Bühnen der Welt, während Mussorgskis Original über Jahrzehnte in Vergessenheit geriet. Georg Lukács war wohl der erste, der darauf hinwies, dass die Änderung der Szenenfolge im letzten Akt der Oper die Inhalte und die  Botschaft, die Mussorgski in seiner Originalversion zu vermitteln trachtete, ideologisch entstelle: statt der ursprünglich ans Ende der Oper gestellten revolutionären Aufstandsszene der Massen gegen die repressive Bojarenherrschaft – die dramatische Sterbeszene des bis zu seinem Tode von Wahnvorstellungen und großer Gewissenspein geplagten Zaren Boris; anstelle der gesellschaftlich-kollektiven Botschaft, die sich im Freiheitsdrang der „von unten“ rebellierenden Massen manifestiert, wird die Tragödie des Einzelnen, seine „oben“ erlittene individuelle Seelenqual hervorgehoben. E

s gibt gleichwohl einen weiteren, vielleicht wichtigeren Grund, auf Mussorgskis originale Szenenfolge zu insistieren: Die letzte Szene des vierten Aktes (und der gesamten Oper) endet mit dem herzzerreißenden Klagelied des Dorfnarren über das bittere Schicksal von „Mütterchen Russland“ – eine verdichtet stimmige, lyrisch-schöne künstlerische Warnung vor der nach der Revolution eintretenden Unbekümmertheit und der mit dieser einhergehenden Neigung der Massen, wie eine Schafsherde stets wieder einem „falschen Dimitij“ hinterherzulaufen, einem vergötterten charismatischen Führer, der sie mit seinen leidenschaftlichen Sprüchen erhitzt, um sie in die nächste Katastrophe zu stürzen.

Das in betörend schöner Chormusik sich kundtuende Kollektiv der Massen wird also von Mussorgski keinesfalls blauäugig als an sich schon für gut und moralisch gefestigt erachtet; es mag sich regressiv, nicht selten auch grausam verhalten. Und der Einzelne ist nicht nur eigenbezogen mit sich selbst und seiner Gewissensqual befasst, wie der mächtige Zar, sondern kann sich – so in der Gestalt des heiligen Narren – als Verkünder von großer Einsicht und tiefer Wahrheit erweisen.

Auch hier findet sich also letztlich eine dialektische Verzahnung von Individuum und Kollektiv. Denn so wie der Einzelne nur im Verhältnis zum Kollektiv und als Teil von diesem ein solcher sein kann, kann der Chor nur so lange bestehen, wie die Einzelnen sich an ihm um seinetwillen beteiligen. Hinter jeder Arie „lauert“ ein Chor; und jeder im Chor kann potentiell aus diesem heraustreten, um (s)eine Arie zu singen.

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