Die Kommunen sind das Herz der Demokratie – Dirk Neubauer im Interview

Dirk Neubauer, Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg, über die Kritik am politischen und Parteiensystem, die Beteiligung der Bürger, warum die AfD so stark wurde und er in die SPD eingetreten und gerade wieder ausgetreten ist.

 

Dirk Neubauer, 1971 in Halle/Saale geboren, ist Bürgermeister der Stadt Augustusburg mit 4500 Einwohnern in Sachsen. Parteilos gestartet, trat er der SPD bei, um zu zeigen, dass das politische System von innen heraus zu verändern ist. Der Journalist volontierte bei der Mitteldeutschen Zeitung, arbeitete als Reporter und Beauftragter für digitale Medien, war Marketingverantwortlicher für „Jump“ und „Sputnik“ beim MDR und beriet danach Zeitungsverlage zum Thema Digitalisierung. 2019 erschien sein Buch „Das Problem sind wir“. Kürzlich ist er aus der SPD wieder ausgetreten. Anlass zu einem Zoom-Gespräch war sein neues Buch „Rettet die Demokratie! Eine überfällig Streitschrift“. Das Gespräch wurde am 20 Mai geführt.

Gerade kam Ihr neues Buch „Rettet die Demokratie“ heraus und Sie sind aus der SPD ausgetreten. Was war denn der maßgebliche Grund für die Entscheidung? Sie hatten ja bereits eine massive Parteikritik im Buch formuliert, aber eher an eine Reformation gedacht. Aber an eine Reformierbarkeit scheinen Sie nun ja nicht mehr zu glauben.

Dirk Neubauer: Das ist eine lange Geschichte, die schon mit den Koalitionsverhandlungen begann. Ich hatte schon gezweifelt, ob ich diesen Spagat zwischen eigener Glaubwürdigkeit und dem, was hinten herauskommt, noch leisten kann. Das setzte sich durch die Pandemie bis dazu fort, dass wir in Sachsen angefangen haben, eine andere SPD als  im Bund zu sein. Alles, was der Bund entschied, aber was hier nicht passte, wurde auf die da oben verschoben. So, als hätten wir nichts miteinander zu tun.  Irgendwann kann man das nicht mehr wirklich erklären, da es  ja nur eine SPD gibt, die in Berlin und in Dresden mitregiert.

Immerhin gibt es in Ihrer Stadt keinen Stadtrat von der SPD.

Dirk Neubauer: Nein, ich bin hier ja sowieso quasi der Dorf-Sozi gewesen. Unsere Ortsgruppe bestand aus drei Leuten. In den letzten Jahren ist mir der Glauben abhanden gekommen, dass es in den bestehenden Strukturen möglich ist, Dinge zu verändern. Als Kommunalpolitiker bezahlen Sie jeden Tag mit Glaubwürdigkeit. Das ist die einzige Währung, die ich habe. Das ist irgendwann gefährdet.

Als das Signal vom Bund kam, dass unser Covid-Öffnungsprojekt beendet werden muss, war der Punkt erreicht, ab dem es nicht mehr weiter ging. Ich habe das Gespräch mit Bundestagsabgeordneten gesucht, ich habe versucht, das auf Landesebene noch zu verhindern, aber es hat niemand auch nur den Hauch eines Interesses gezeigt. Jetzt ist es für mich ein bisschen leichter, ich bin freier in dem, was ich mache. Und es gibt schon länger Bestrebungen mit einigen klugen Leuten, etwas Neues zu gründen. Das ist also keine Abkehr vom Parteiensystem an sich.

Sie würden also gerne eine neue Partei gründen?

Dirk Neubauer: Möglicherweise. Wir sind am Überlegen. Es wird auf jeden Fall eine Plattform werden, die das Ziel hat, sich ohne ideologische Bremsen  Sachthemen zuzuwenden und es ermöglicht, mit den Menschen diese zu besprechen. Ich habe in den letzten Jahren in der Landespolitik erlebt, dass viele gute Ideen im Gezänk am Kabinettstisch oder im Parteiengezeter versterben – aus purer Eitelkeit der handelnden Personen. Das können wir uns nicht mehr leisten. Wir haben einen Sack voll ernster Probleme, die es zu lösen gilt. Mir wird angst, wenn wir angesichts der Klimaprobleme mit einer an sich gut handhabbaren Pandemie schon ins Straucheln kommen. Ich will mir gar nicht ausdenken, was das mit dieser Gesellschaft werden soll, die immer mehr zerfasert und wo die Streitfronten schonquer über die Kaffeetische der Familien gehen.

Aber weil ich prinzipiell keine anderen Ideen habe als Parteien und repräsentative Demokratie, die auch als geeignet ansehen würde, wenn man es richtig macht, werden wir uns sicherlich hier in geeigneter Form einbringen.

Was ist denn Ihre hauptsächliche Kritik am Parteiensystem? Die Parteiführung besitzt beispielsweise eine große Macht allein schon deswegen, weil sie bestimmen kann, wer und auf welchen Platz auf die Liste zur Wahl kommt. Damit ist die Parteiendemokratie schon gelaufen.

Dirk Neubauer: Das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt, wie ich auch im Buch geschrieben habe. Mir hat noch niemand erklären können, warum wir ein System entwickeln können, in dem eine Zahl X von Kandidaten in einem Wahlkreis direkt zur Wahl gestellt wird. Warum sollte sich nicht jeder Abgeordnete selbst die Zustimmung abholen. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt neben der Begrenzung der Amtszeiten auf zwei Legislaturen. Das ist kein neuer, aber ein sehr guter Vorschlag. Ich fange hier bei mir auch an. Mehr als eine zweite Amtszeit werde ich hier nicht machen. Das wären 14 Jahre als sächsischer Bürgermeister. Was soll mir in 21 Jahren gelingen, was ich nicht in 14 Jahren schaffe?

Darunter entstehen auch ewige Strukturen. Unser großes Problem ist ja, dass die ewigen Parteikarrieren dazu führen, dass Ministerposten nicht mit Experten, sondern mit Gefolgsleuten besetzt werden. Die Administration darunter muss selbständig funktionieren. Wenn eine Frau von der Leyen Verteidigungsministerin ohne den Hauch einer Ahnung wird, dann muss die Struktur darunter den Job machen und sicherstellen, dass das weitergeht, auch wenn Frau von der Leyen, ohne gewählt zu sein, zur EU-Kommission wechselt. Das haben wir uns so gebaut, aber das ist nicht richtig.

Die Leute wollen zudem wieder teilhaben. Die Teilhabebereitschaft wächst – und daneben steht dieser abgeschlossene Bereich, dieser Orbit, in den man nur reinkommt, wenn man einen kennt, der einen kennt, der einen kennt. Das sind inzwischen Fremdkörper. Es gibt eine auch gewollte Distanz zwischen der politischen Welt und  dem, was ich hier jeden Tag erlebe. Man will sich gar nicht mit der Basis belasten und den mühseligen Diskussionen quer durch die Dörfer, aber dann wundert man sich, dass die Leute irgendwann einmal aufwachen und fragen, was denn der Unterschied zwischen SPD und CDU ist und was das für uns bedeutet. Diese Distanz wird heute in jeder Partei ungestraft mit dem Satz beschrieben: Parteipolitik spielt in der Kommune keine Rolle.

Allerdings sagen Sie doch auch, wenn Sie eine neue politische Plattform gründen wollen, dass die nicht ideologisch sein soll. Da sollte dann die politische Orientierung oder die Partei doch auch keine Rolle spielen.

Dirk Neubauer: Ich denke, wir wären gut beraten, wenn wir die ideologischen Anteile, die wir in der Parteipolitik mit uns herumtragen, ein Stück zurücksetzen. Ich mache das mal konkret deutlich an der Situation in Sachsen, die ich jeden Tag erlebe. Warum ist die AfD hier so erstarkt, warum haben wir einen so hohen Sockel an Rechtsradikalen? Das konnte nur funktionieren, weil von Anfang an mit Ausgrenzung reagiert wurde. Mit denen reden wir nicht. Deshalb ist die AfD die führende Kraft in diesem Bundesland. Die tun gar nichts dafür, die müssen auch gar nichts tun. Wir haben sie in eine Ecke gestellt, in der sie nicht erklären müssen, wie sie umsetzen wollen, was sie den Menschen versprechen. Das ist reiner Populismus, weil die Leute mittlerweile so frustriert sind, dass es ihnen egal ist. Sie wollen einfach nur, dass die, die aus ihrer Sicht nicht liefern, was sie erwarten, abgestraft werden. Das ist ein weiterer Fehler, für den wir gesorgt haben, dass wir die Erwartung geschürt haben, Politik müsse den Leuten jeden Tag das bringen, was sie wünschen. Das haben wir 30 Jahre lang gemacht. Das ist hausgemacht.

Dirk Neubauer: Wenn die AfD hier tagt, gehe ich hin. Sie sollten mal sehen, wie entsetzt die sind, wenn ich da sitze. Da kommen Sie sich vor wie der Erziehungsberechtigte.

Es gibt in Ihrer Stadt einen Ortsverband?

Dirk Neubauer: Nein, aber die kommen immer aus Flöha, weil sie hoffen, dass sie irgendwann hier mal Fuß fassen.

Wir haben jetzt auch mal eine Mini-Demo gehabt, wo die Eltern sagen, sie wollen ihr Kind nicht testen lassen. In eine gesunde Schleimhaut gehört kein Teststäbchen. Da schicke ich nicht die Polizei hin, da gehe ich selber hin und sage, dass wir uns inhaltlich nicht einig werden, aber dass sie mal erzählen sollen, wie sie überhaupt auf das schmale Brett kommen. Dann kann man feststellen, dass es vor Ort nach zwei Stunden ausgelutscht ist, weil immer mindestens zwei ausrasten und persönlich werden. Dann sage ich, auf der Ebene muss ich nicht weitersprechen, aber dann gibt es danach 10 Einladungen zum Kaffee auf die Terrasse oder nach Hause zum Abendbier oder auf ein Glas Wein. Und dann reden Sie mit den Leuten und kriegen sie auch wieder.

„Am Ende geht es um eine Machtfrage“

Sie nennen die Kommunen „die Herzkammer der Demokratie“. In Ihrer Stadt, die relativ klein ist, kennen sich viele Leute. Da ist auch ein anderes Zusammenarbeiten eher möglich. Ich wohne in München mit mehr als einer Million Einwohnern, da sieht das doch anders aus. Bei den Kommunalwahlen kann man ja panaschieren und einzelne Politiker quer durch die Parteien stärken, aber auf dem Wahlzettel stehen dann bei jeder Partei Dutzende von Kandidaten, die man nicht kennt. Man sitzt dann davor und weiß nicht, wen man wählen soll.

Dirk Neubauer: Auch größere Städte oder Landkreise setzen sich aus kleineren Einheiten zusammen. Was sie eben gesagt haben, höre ich ganz oft. Das ist ein Argument, dem man sich stellen muss. Nehmen wir mal so einen Flächenlandkreis wie Mittelsachsen, das ist einer der größten Flächenlandkreise in Deutschland. 380.000 Einwohner leben auf einer Fläche so groß wie das Saarland. Der Landkreis besteht aus kleinen Kommunen, in denen sich die Menschen organisieren. Genauso ist das in Städten, die Kieze und Stadtteile haben.

Es muss erst einmal in die Köpfe der Menschen, dass sie, wenn sie etwas bewirken wollen, mitmachen müssen. Damit muss man auch ernstmachen. Wenn man wie ich in einer Stadt ankommt und sagt, ich will das gar nicht alleine entscheiden, dann sind die Leute erst einmal komplett verwirrt, weil sie selbst 30 Jahre nach Wende gelernt haben, dass da einer sitzt, der sagt, wo es langgeht. Und dann kommt einer und sagt: Nein, ihr seid die Stadt, ich bin die Stadtverwaltung. Inzwischen fordern sie das ein. Es gibt Leute, die sagen, ich wähl dich nicht, ich kann dich nicht leiden, aber ich finde das gut. Das geht auch in größeren Städten, man muss es nur ernsthaft wollen.

Auch wenn ich sage, wir brauchen mehr finanzielle Autonomie, kommt nur das Totschlagargument, dass wir nur immer mehr Geld wollen. Ich will gar nicht mehr Geld, ich will die eine Milliarde Euro, die der Freistaat über 80 Förderinstrumente, die man in 52 unterschiedlichen Stellen beantragen kann, zur Verfügung stellt, direkt verteilen. Das sind 250 Euro pro Kopf, in meiner Stadt sind das 1,1 Millionen, vier Jahre lang jährlich garantiert. Damit müssen die Kommunen dann klar kommen.

Warum trauen sich die Landesregierungen nicht, das einmal als Experiment zu machen?

Dirk Neubauer: Weil sie Macht abgeben müssten Die Finanzierung aus der Hand zu geben, bedeutet, Macht zu teilen. Am Ende geht es um eine Machtfrage. Auch in der SPD haben wir das oft diskutiert, weil ich das immer wieder thematisiert habe, aber dann kommt der finanzpolitische Sprecher der Fraktion und sagt: Das ist der goldene Zügel, an dem wir euch führen, den geben wir nicht aus der Hand. Die definieren sich darüber, etwas entschieden zu haben, mit dem Scheck in die Kommune zu kommen und zu sagen: Guckt mal hier, weil ich der tolle Landtagsabgeordnete bin, kriegt ihr den Sportplatz.

Statt sich um die Sachen zu kümmern, die man auf der kommunalen Ebene nicht klären kann, kriegen sie die Probleme, wie ausreichend Lehrer oder Impfstoffe zu beschaffen, nicht hin, weil sie sich im Kleinklein mit dem gegenseitigen Kontrollieren, Maßregeln oder Festlegen verhaken, wer was machen darf. Die neueste Begründung ist, dass dann ja die AfD, die auch in den Kommunalparlamenten sitzen, Geld in die Hand kriegen. Das muss aufhören.

Hier im Osten haben wir eine Sondersituation. Wir haben über Jahre Hirn exportiert. Das darf man öffentlich eigentlich nicht sagen, aber das ist eine Wahrheit. Was man im Westen unter einem repräsentativen Bevölkerungsdurchschnitt versteht, gibt es hier vielerorts nicht. Hier fehlen ganze Altersgruppen und besser verdienende Bildungsschichten. Das ist bei uns dünn gesät.

Aber es gibt unter 100 Leuten doch noch 10, die mitmachen wollen. Und das sind die Menschen, die wir vor den Kopf stoßen, weil wir ihnen die Möglichkeiten dafür nicht bieten oder entziehen. Wenn wir in so einer gesellschaftlichen Situation auch noch die verprellen, die mitmachen wollen, sind wir irgendwann nackt. Und das wird hier passieren, wenn wir so weitermachen. Sachsen, das prophezeie ich, auch wenn ich hoffe, nicht recht zu haben, tut im Augenblick alles dafür, das erste Bundesland zu werden, das an die AfD geht.

„Wer sagt, dass Populismus per se schlecht ist?“

Nun sagt die AfD ja auch immer, sie sei für mehr direkte Demokratie. Käme das Ihnen nicht entgegen?

Dirk Neubauer: Die AfD meint das nicht so, die greifen nur Argumente auf, weil sie merken, dass die ziehen. Ich merke auch, welchen Zuspruch ich für das, was ich tue, bekomme. Die AfD-Leute machen nichts anderes, als solche Dinge zu nutzen, um Polarität zu schüren. Am Ende, wenn ich sie im Kreistag erlebe, ticken die nicht anders, die haben das schnell gelernt. Aber sie besetzen die Themen, weil sie hervorragende Populisten sind.

Ich höre auch öfter mal den Vorwurf, ich sei ein Populist. Das stimmt. Aber wer sagt, dass Populismus per se schlecht ist? Populismus bedeutet im ersten Sinne zu versuchen, komplizierte Dinge so zu formulieren, dass diejenigen, die man anspricht, das auch verstehen können. Dafür schäme ich mich nicht. Alles, was ich sage, kann ich auch herleiten, wie beispielsweise die Verteilung der Gelder. Ich habe auch noch niemand in dem ganzen Landesparteiapparat über alle Fraktionen hinweg kennen gelernt, der mir inhaltlich widerlegen konnte, dass das nicht geht.

Sie würden sagen, dass eine Veränderung von den Kommunen und Landkreisen mit mehr Rechten und Geldern die Gesellschaft insgesamt von unten nach oben demokratisieren und die Partizipation stärken könnte?

Dirk Neubauer: Wir müssten damit anfangen, das Subsidaritätsprinzip wieder zu beatmen, was lange Zeit sträflich missachtet wurde. Was ich, der ich erst kurz dabei bin, sehe, was an Entscheidungskompetenz von den Kommunen auf die nächste Ebene zum Kreis weggeht, vom Kreis zur Landesdirektion und von dort zum Land, dann ist das schon beachtlich. Der Landtag zieht alles an sich heran, es muss alles dort entschieden werden. Im Gegenzug gibt es jedes Jahr mehr Berichtswesen. Daran kann man das messen, denn je weiter eine Entscheidung entfernt ist, desto mehr muss hinterhergeschickt werden, damit dort überhaupt jemand etwas entscheiden kann.

Es ist ein Irrsinn. Wir melden, wie viele Kinder wir haben, wie viele Leute wegziehen, wir rechnen aus, was das statistisch hochgerechnet für unsere Schule in 20 Jahren bedeutet. Das melden wir alles, aber die kriegen es trotzdem nicht hin, die benötigten Lehrer zu stellen. Darum muss sich eine Landesebene kümmern, ich kann ja als Bürgermeister keine Lehrer ausbilden.

Man muss mal sortieren, was ihr und was wir besser machen können. Dann würden die Leute wieder erleben können, was Demokratie heißt, weil sie sich selbst einbringen können. Wenn man das schaffen würde, würde man auch mehr Menschen haben, die die Zusammenhänge verstehen und wissen, wie schwer es ist, Kompromisse auszuhandeln. Damit muss man jetzt einmal anfangen. Helfen würde auch, wenn es in der Schule wieder so etwas wie politische Bildung geben würde, so aus ihnen Demokraten und nicht nur Maschinenbediener hervorgehen. Je länger wir das hinausziehen, desto böser wird das Erwachen werden.

Die Pandemie hat nicht nur negative Seiten

Wäre denn bei der Demokratisierung und Partizipation die Digitalisierung hilfreich? Bietet sie Chancen, die Kommunikationsprozesse besser zu gestalten und effektiver zu machen?

Dirk Neubauer: Das ist Fluch und Segen zugleich. Digitalisierung ist mein Thema, ich habe das früher auch beruflich gemacht und Digitalstrategien für Medienhäuser entwickelt. Was nun an Unsäglichem in den Netzwerken geschieht, hat natürlich damit zu tun, dass wird es verpasst haben, Medienkompetenz in den Schulen zu vermitteln. Das rächt sich jetzt.

Die Pandemie hat aber doch die Nutzung und den Blick darauf verstärkt, wenn Schulen gezwungen waren, Online-Unterricht zu organisieren.

Dirk Neubauer: Ja, insofern hat die Pandemie auch nicht nur negative Seiten. Früher war Digitalisierung ja so etwas wie: Lass mich in Ruhe, es nimmt mir Arbeit weg und klaut Daten. Die Kommunen sind Träger der Schule. Ich muss dafür sorgen, dass die Technik da ist. Wir haben letztes Jahr im November, als es keine Laptops mehr gab, über drei Kontakte, die ich noch hatte,  bei Cyberport in Dresden noch 11 Laptops bekommen. Das war ein bisschen so wie zu DDR-Zeiten. Ich habe die geholt, in der Schule abgeliefert und stolz gesagt: Hier sind 11 Laptops, für jeden Lehrer einer, macht was draus.

Doch es fehlt dann an Unterstützung seitens des Freistaats für die Lehrer. Und die sind beim Freistaat angestellt. Nicht bei uns. Und so bleibt es Eigeninitiative, wenn einer den Ball aufnimmt. Und geduldet, wenn er ihn liegen lässt. Das ist beim Testen genauso. Wenn Eltern nicht wollen, dass ihr Kind in der Schule getestet wird, was ich teilweise verstehen kann, weil der Positive erst in die Schule kommt und dann wieder stigmatisiert vor allen wieder herausgetestet wird. Im Rahmen unseres Öffnungsprojekts hatten wir ein Testzentrum eingerichtet.

Ich habe dem Kultusministerium vorgeschlagen, dass die Eltern mit ihren Kindern das nutzen sollen. Das ist anonym, und wenn das Kind positiv getestet wird, ist es halt krank. Aber dann sagen die vom Kultusministerium mir, sie seien nicht zuständig. Damit ist das Thema erledigt. Wir hätten längst die Schulen offen halten können. Wir haben das mit unserem Öffnungsprojekt bewiesen. Wir sind bei einer Inzidenz von 400 gestartet und haben uns mit 10.000 Gästen im Ort auf 130 heruntergetestet. Wir könnten die Schulen und die Kitas aufmachen, die Eltern können entscheiden, ob sie ihr Kind testen oder Zuhause lassen. Sie haben die Verantwortung für die Entscheidung, die Regeln machen wir.

Heute habe ich  vom Land die Verfügung erhalten, die Notbetreuung für alle Berufsgruppen zu öffnen, was heißt, die Schule wieder zu öffnen. Das verstehen die Leute auch nicht. Warum schafft der Bund es nicht, den Kommunen die Möglichkeiten zu geben, flächendeckend Testzentren zu bauen und flächendeckend zu impfen.

Ich habe wie zu DDR-Zeiten 102 Impfdosen für morgen ergattert, das gute Zeug, wie es hier heißt, also  Biontech. Jetzt kommen die Malteser morgen und impfen 102 Leute. Mehr haben wir nicht erhalten. Wir haben noch 40 Menschen mit Priorität 1, also 80+,  in der Stadt, weil es nicht möglich war, das zu organisieren. Mit einer Online-Meldung kommen die meisten Über-80-Jährigen nicht klar. Die haben fast geweint, als wir sagten, dass sie nun geimpft werden. Wir holen sie sogar ab. Warum nutzen wir nicht diese Kompetenz, die wir haben. Stattdessen machen wir eine Bundesnotbremse, die verordnen will, was die Länder nicht hingekriegt haben. Ich hätte ja verstanden, wenn man das Land mal zwei Wochen wirklich dicht macht. Aber das auf diese Ebene zu ziehen und nichts anderes zu machen als vorher, ist nicht nachvollziehbar. Wir stehen vor Pfingsten wieder in derselben Situation, dass die Menschen aufgrund der unterschiedlichen Inzidenzen, wieder verwirrt sind: Wen darf ich treffen und wie viele?

Haben Sie denn das Öffnungsprojekt, das wegen der Bundesnotbremse nach vier Wochen eingestellt werden musste, auch mit den Menschen zusammen entwickelt?

Dirk Neubauer: Ich habe viele Kontakte mit den Gastronomen, wir sind hier sehr touristisch geprägt. Es ist wichtig für uns, die über die Pandemie zu bringen, weil wir sie später wieder brauchen. Die kamen auf mich zu und sagten, dass sie platt seien, wenn nicht bald etwas passiert. Das hat mir zu denken gegeben und ich habe dem Stadtrat gesagt, dass wir etwas machen müssen. Wir haben uns 10.000 Euro aus den Rippen geschnitzt und ein paar alte Kontakte generiert, um ein System einzusetzen, das von Siemens weltweit genutzt wird, um Ersatzteile zu tracken. Die sind eingestiegen, weil einer der Geschäftsführer aus einer Gastronomenfamilie kommt, und die Technik entwickelt. Dann haben wir uns eine Universität gesucht, weil der Freistaat eine wissenschaftliche Begleitung verlangte, aber nicht sagen konnte, wer das machen kann, finanzieren wollten sie das auch nicht. Wir sind mit Professor Welte zusammengekommen, der das auf eigene Kosten machen wollte. Wir können belegen, dass das gut funktioniert hat und dass weder Hotellerie noch Gastronomie ein Treiber ist.

Jetzt haben wir einen neuen Antrag zur Fortsetzung gestellt. Inzwischen haben wir eine Schnittstelle zum RKI gebaut. Wir haben das einzige System, das diese Schnittstelle hat. Wir können auch die Testergebnisse an das jeweilige Gesundheitsamt weiterleiten. Wir sind die einzigen, die eine Datenschutzfolgeabschätzung mit 780 Arbeitsstunden und 280 Seiten umgesetzt haben. Und wir bauen gerade eine Schnittstelle zur Corona-Warnapp. Dann sind wir gut für den Herbst aufgestellt, denn der wird genauso wie der letzte werden.

Ist das denn nicht doch eine Insellösung? Müsste das nicht zentral gelöst werden? Macht das Sinn, das kommunal anzugehen?

Dirk Neubauer: In Sachsen nutzen das 25 Kommunen und mit der Schnittstelle zur Corona-WarnApp haben wir eigentlich die Bundeslösung, weil wir damit jeden anbinden können, der die App benutzt. Das ist ein integriertes System, das auch den Betrieb eines Testzentrums einschließt. Es ist nicht nur eine Eintrittslösung wie bei der völlig überfinanzierten Luca-App. Wenn wir das RKI und die WarnApp anbinden, können wir mit jedem arbeiten, der auch eine Lösung hat. Wir sind ein föderales Land mit 80 Millionen Einwohnern und werden sowieso kein einheitliches System haben. Wir können aber eine Plattform herstellen, über die man sich mit allen anderen Lösungen verbinden kann. In diesem Land hat niemand die Kraft, ein einheitliches System durchzusetzen. Das wäre eine politische Aufgabe gewesen – allerdings vor 12 Monaten.

Ich sitze im nächsten Herbst nicht wie im letzten an diesem Tisch und muss mich fragen, warum ich im letzten Sommer nichts getan habe. Dieses Mal sind wir vorbereitet. Wenn sich im Herbst eine neue Welle zusammenbrauen und der ganze Mist von vorne beginnen sollte, dann können wir wissenschaftlich belegen, dass der sechsmonatige Lockdown, den wir jetzt hatten, mit unserem System nur zwei Monate gewesen wäre, weil wir viel später schließen und viel früher öffnen könnten.

Noch so einen Herbst überleben die Unternehmen hier nicht, und dann haben wir langfristig Schaden angerichtet. Wir reden auch nicht darüber, was ein Lockdown mit einer Stadtgesellschaft macht. Da geht es nicht nur um Umsätze oder andere Zahlen. Eine so kleine Stadt hängt am Puls der Vereine. Werden die nach einem weiterem halben Jahr noch da sein? Das ist genauso, wenn wir uns um die Demokratie keine Sorgen machen, weil das nicht kaputt gehen kann.  Mit dem neuen Projekt haben wir beantragt, dass die Öffnung auch die Vereinsarbeit einschließt, damit die wieder anfangen können.

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