Fatima Alavy: „Meine Freunde in Kabul kämpfen in diesen Stunden um ihr Leben!“

Kurz nach der Machtergreifung der Taliban hatten Frauen noch den Mut, gegen diese zu protestieren und den Westen um Unterstützung zu bitten. Bild: Pajhwok

Fatima Alavy arbeitete in Kabul für ein Demokratie-Zentrum und identifizierte Terroristen. Sie berichtet im krass & konkret-Interview mit Marcel Malachowski aus Tadschikistan über die Situation vor Ort, ihre Flucht in letzter Minute, Mordankündigungen der Taliban gegen sie, bewaffneten Widerstand und ihre Todesangst.

Ein ursprünglich geplantes Interview mit anderen Mitarbeiter/innen der AHRDO (Afghanistan Human Rights and Democracy Organization), welche zur Zeit in Kabul an geheimen Verstecken leben oder auf der Flucht sind, musste aus Sicherheitsgründen gecancelt werden, um ihre Identität und ihr Leben zu schützen, da jeder Kontakt mit westlichen Medien nach dem Fall von Kabul tödlich sein kann und so aktive Rettungsoperationen und Maßnahmen zur Spurenvernichtung gefährdet hätten werden können. Alle MitarbeiterInnen des AHRDO stehen als gefährdete Personen auf Evakuierungslisten des US State Department und des deutschen Außenministeriums (AA), den wenigsten gelang nach ihrem Untertauchen jedoch bisher die Ausreise.

Die Politikwissenschaftlerin Fatima Alavy arbeitete die letzten Jahre für das Bürgerrechtsforum  AHRDO und dessen Dokumentationszentrum Afghanistan Center for Memory and Dialogue, welches Terror-Verbrechen, Lynchmorde an Mädchen und Frauen und Massaker u.a. in Mädchen- und Grundschulen der letzten Jahrzehnte öffentlich dokumentierte und Täter und organisierte Strukturen ermittelte. Auch sollte in Ausstellungen und vielfältigen Projekten an die zuvor namenlosen und oft minderjährigen Opfer und deren Leben erinnert werden. In Schulen und Universitäten unterrichteten SozialarbeiterInnen der AHRDO über die Bürgerrechte und Rechte jedes Individuums gegen Autoritäten und den Staat, auch psychosoziale Therapien für Menschen mit Trauma- oder Gewalterfahrung wurden angeboten und Theaterprojekte. Ein Anti-Kriegs-Museum wurde aufgebaut und eine nationale Opfer-Konferenz veranstaltet.

Für die forensischen Aktivitäten arbeiteten sie mit diversen Institutionen, Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten der westlichen Welt und in der Region zusammen sowie mit lokalen Informantinnen und Informanten vor Ort. Die Arbeit soll aus dem Ausland fortgesetzt werden, sobald die MitarbeiterInnen in Sicherheit sind. Gesammelte Beweisstücke der AHRDO wurden bereits ins Ausland verbracht. Fatima ist kurz vor dem Fall Kabuls an die Terror-Miliz nach Tadschikistan geflüchtet. Laut Angaben einer Quelle gegenüber krass & konkret steht sie auf einer Todesliste der neuen Machthaber.

Wir sind immer noch in einem Zustand des totalen psychischen Schocks“

Fatima, Du bist jetzt in Tajikistan. Wie geht es Dir dort? Wie war die letzte Woche?

Fatima Alavy: Diese Woche war für mich und meinen Mann, der es jetzt auch hierher geschafft hat, sehr schwierig … mit all den ganzen persönlichen Problemen, die wir jetzt hier haben, wie zum Beispiel: Es gibt hier einfach schlecht organisierte Behörden, sehr hohe Lebenshaltungskosten und dazu belastet mich mein Schicksal, auch für meinen Mann und meine Kinder ist es sehr schwierig. Die Situation in Afghanistan belastet uns extrem: Der Zusammenbruch der großen Provinzen nacheinander, die Führung und der Präsident ließen alle Menschen in Verzweiflung zurück und flohen ganz einfach. Das alles hatte großen Einfluss auf unseren psychischen Zustand, unsere Seelen. Wir sind immer noch in einem Zustand des totalen psychischen Schocks. Alle Errungenschaften des afghanischen Volkes seit den ganzen letzten zwanzig Jahren, der Frauen und der jungen Generation werden mit Füßen getreten. Es ist sehr hart und schwer.

Was hörst Du aus Kabul?

Fatima Alavy: Derzeit herrscht Panik nach den Berichten und Gesprächen, die ich mit meinen leider immer noch in Afghanistan lebenden Kolleginnen und Kollegen habe, vor allem mit Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen und Menschenrechtsmitarbeitern staatlicher Institutionen und aus der Nationalen Sicherheit. Alle verstecken sich. Die Mädchen, die sich auf das Studium vorbereiten, sind schockiert, ob sie wieder studieren können oder nicht.

Wenn wir wieder auf die Straße gehen können, wie werden wir gehen? Und was machen die freien Medien? Die Taliban zeigten in der vorangegangenen Periode ihrer Herrschaft vor dem 11. September 2001 für die Menschen in Afghanistan ein hartes und schreckliches Gesicht. Sie verzichteten auf keine barbarischen Handlungen, daher sind dies sehr, sehr schwierige Tage für das afghanische Volk. Du weißt ja, dass meine Landsleute hinter vor den Grenzen von Iran und Pakistan unter schlimmsten Bedingungen auf die Einreiseerlaubnis in das Nachbarland warten. Das ist sehr bedrückend. Niemand kennt den Schmerz der Einwanderung so gut wie sie. Die Welt mag denken, dass Afghanen aus ihrem Land fliehen und immer in europäische Länder und dergleichen wollen. Nein, wir lieben unsere Heimat und kein Haus dieser Welt ist schöner als unser Land. Die Taliban haben gemordet, vergewaltigt, geplündert und Häuser niedergebrannt. Heute wissen die Leute, dass sie in Panik geraten und dann feige vor der US Army geflohen sind. Sie wissen auch, dass sich diese Gruppe nicht verändert hat, aber sie ist nur noch wilder geworden als zuvor.

Wir sind dazu verurteilt, Afghanen zu sein: Unser Land ist verflucht“

Welche Gefühle weckt all das in Dir?

Fatima Alavy: Man muss vielleicht Afghane sein, um unsere Gefühle zu verstehen, wir sind seit unserer Geburt dazu verurteilt, Afghanen zu sein, wir fühlen uns verflucht und unser Land ist verflucht …

… in Neapel sagen die Menschen oft auch in ihrer Verzweiflung über die dortige wirtschaftliche Ungerechtigkeit und die Todesgefahr: Napoli ist von Gott gesegnet, aber von den Menschen verflucht …

Fatima Alavy:… ich bin 30 Jahre alt, mein ganzes Leben lang wusste ich nur, dass in Afghanistan im Krieg war. Mein Vater, wenn er über seine Kindheit aus der Zeit der Herrschaft der demokratischen Volksbewegung in Afghanistan sprach, sagte, dass es seitdem bis heute Krieg gebe. Mein Vater ist jetzt 58 Jahre alt – und es gibt immer noch Krieg.

Wir sind Afghanen und ich bin jetzt auch vertrieben worden und musste auf die Flucht gehen aus meinem eigenem Land, mein Haus und mein ganzes Leben sind weg, zerstört für mich und meine Familie, und ich muss sagen, ich habe alles verloren, was ich in diesen Jahren erarbeitet und gewonnen habe. Um mein Leben und das Leben meiner Kinder zu retten, musste ich weglaufen. Ich frage mich, ob meine Tochter, die jetzt fünf Jahre alt ist, überhaupt einmal mein Alter erreichen wird und sie schönere Tage irgendwann einmal miterleben wird nach all diesen bitteren Stunden, Tagen, Wochen, vielleicht Jahren?

Ich habe ja für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet, die die Verbrechen verschiedener Terrorgruppen in Afghanistan im Laufe der Jahre dokumentiert hat, wir haben unter anderem aktive Erinnerungsarbeit geleistet. Mehr kann ich hier nicht erwähnen, da meine Kollegen und Freunde leider immer noch in diesen Stunden mit Leben und Tod in Afghanistan kämpfen und ich hoffe, sie bei guter Gesundheit wieder zu treffen an einem sicheren Ort. Ich denke jede Minute an sie, dass sie es auch in Sicherheit schaffen und überleben werden … So wie sie selber in ihrer Arbeit an vorherige Opfer erinnert haben. Wir hatten diese Arbeit getan, um diese noch unaufgeklärten Verbrechen des Terrors zu untersuchen und ihre Täter zu identifizieren, um die Wunden der Familien der Opfer zu heilen, aber heute haben sich die Täter dieser Verbrechen sich selbst wieder an die Macht gebracht … und das ist ein Schmerz, der unsere Herzen in Stücke reißt.

Das afghanische Volk wird allein gelassen in der Not“

Wovor hast du selber nun besonders Angst?

Fatima Alavy: Ich bin Mutter und eine Mutter fürchtet nichts mehr als den Verlust ihrer Kinder, mir wurde von den Taliban mit dem Tode gedroht, aber als sie unseren Wohnort identifizierten, mussten wir gehen. Weg aus meinem, unseren Land, das mir sehr, sehr am Herzen liegt, und ich liebe meine Heimat bis zum letzten Atemzug, aber aus Angst, meinen Kindern zu schaden, musste ich gehen.

Aber hast Du denn noch Hoffnung in diesen Tagen der Rückkehr der Barbarei?

Fatima Alavy: Warum haben nicht nur ich, sondern vielleicht alle Menschen in Afghanistan die Hoffnung verloren? Weil nach meiner persönlichen Meinung die Welt das afghanische Volk allein gelassen hat in der Not.

1989, als die Sowjets Afghanistan verließen, schlossen die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihre Botschaften, wie dies gerade wieder geschieht, und versprachen, dass sie bald zurückkehren würden, aber Afghanistan trat in einen Krieg ein, der bis 2001 andauerte. Mit der Begründung, al-Qaida zu stürzen, Osama bin Laden gefangenzunehmen und humanitäre Interventionen durchzuführen, während er in Afghanistan war, marschierten Staaten in Afghanistan ein. Zwischen 1989 und 2001 wurden in Afghanistan unzählige Verbrechen begangen, also nutzte man die Komponente der humanitären Hilfe und der Intervention und marschierte in Afghanistan ein, und jetzt, nach zwanzig Jahren, verlassen sie Afghanistan nach der Machtergreifung der Taliban in Eile, so dass es schwierig ist, in diesem Stadium Hoffnung zu haben.

Das afghanische Volk wird nicht mehr schweigen – nicht wie früher“

Und wie wird es weitergehen?

Fatima Alavy: Vielleicht ist die Frage der Welt an die Menschen in Afghanistan, warum sie immer mit dem Finger andere kritisieren, warum man für ein friedliches Leben immer eine fremde Macht braucht? Ich muss sagen, ja, wir Afghanen haben uns nicht so viel Mühe gegeben, wie wir es hätten tun sollen. Die Studenten aber werden aufstehen und sagen, dass wir den Weg der Märtyrer der Wissenschaft und des Wissens weitergehen werden. Wir haben Jahre verloren, aber nach dem Beginn der US-geführten Friedensgespräche in Doha, als den Taliban politische Legitimität verliehen wurde, und jetzt, da wir sehen, was für eine große Untat vollbracht wurde, was können die unterdrückten und wehrlosen Menschen in Afghanistan mit ihren bloßen Händen tun? Aber wir wurden all die Jahre nicht enttäuscht und werden jetzt nicht enttäuscht sein.

Wird es bewaffneten Widerstand geben, eine Resistance von Partisanen gegen den Faschismus in Kabul?

Fatima Alavy: Wir wissen, dass schwierige Tage vor uns liegen, und um diese schweren Tage zu überstehen, müssen wir härter arbeiten, wir sollten nicht mehr wie früher schweigen, jetzt haben die Medien mehr Möglichkeiten, jeder in Afghanistan lebende Mensch sollte für jedes Verbrechen verantwortlich gemacht werden, das er begeht. Es müssen Beweise gesammelt und dokumentiert werden, um der Welt zu zeigen, dass die Menschen, wenn sie zum Schweigen gebracht werden, definitiv in die Zeit vor zwanzig Jahren zurückkehren Viele Menschen werden sich bemühen, kein Verbrechen still zu erdulden. Das afghanische Volk wird nicht mehr schweigen – nicht wie früher.

Aber es ist kompliziert, es gibt viele Akteure und Interessen …

Fatima Alavy: Das Spiel in Afghanistan ist ein sehr komplexes Spiel. Die Akteure sind auch sehr zahlreich. Afghanistans Nachbarn spielen eine wichtige Rolle in diesem Krieg. Ich war in der Politikwissenschaft, ich verstehe allmählich politische Themen, aber jetzt ist es schwer zu sagen, welche Art von Regierung an die Macht kommen wird, aber unser Traum ist eine demokratische Regierung.

„Ich fordere die Menschen des Westens auf, uns nicht zu vergessen“

Und wie wird es mit den Frauenrechten weitergehen?

Fatima Alavy: Afghanistan ist ein traditionelles Land, aber in den letzten Jahren wurde viel getan, um die Rechte der Frauen zu erreichen, aber nicht genug: Sie benutzen die Religion des Islam als Werkzeug. Aber die Taliban sind keine echten Muslime, und was sie im Namen der Scharia tun, ist ihre eigene Lesart des Islam, nicht die wahre Lesart des Islam.

Aber wird es ein Kalifat geben wie das von Daesh/IS in Al-Sham?

Fatima Alavy: Die Antwort auf diese Frage ist auch schwierig, insbesondere in der aktuellen Situation, in der sich Afghanistan in einem regierungslosen Zustand befindet. Die Nachrichten jetzt sind bedauerlich, aber die Welt muss wissen, das afghanische Volk war nie ein Verteidiger des Kalifats und der Diktatur. Das afghanische Volk will eine demokratische Regierung, in der alle Afghanen, einschließlich Frauen, Jugendliche, ethnische und religiöse Minderheiten, frei sind.

Was erwartest Du vom Westen? Was ist Deine, Eure Botschaft an die freie Welt?

Fatima Alavy: Derzeit wird Afghanistan vom Westen alleine gelassen. Die Bevölkerung Afghanistans befindet sich in der schlimmsten Lage. Ich fordere die internationale Gemeinschaft und alle Menschen des Westens auf, die Menschen in Afghanistan nicht noch einmal zu vergessen.

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