Klaus Benesch: „Die Krise des Buches ist auch eine Krise der Geisteswissenschaften“

Der Amerikanist Klaus Benesch erklärt, warum die Geisteswissenschaftler als „Experten des Narrativen“ im Zeitalter der Codes wichtig bleiben und warum das Lesen weiterhin eine wichtige Kulturtechnik ist.

Von Prof. Dr. Klaus Benesch, Amerikanist an der LMU, ist gerade das Buch „Mythos Lesen. Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter“  erschienen. Er diskutiert die Hintergründe des rasanten Prestigeverlustes von Buchkultur und Geisteswissenschaften. Es geht also nicht nur um die schwindende Lust oder Kompetenz des Lesens, sondern auch um die darauf folgende Veränderung der Wissenschaften und damit auch des Kulturverständnisses.

Lesen befindet sich, wie man gerne sagt, in einer Krise. Eigentlich lesen wir sehr viel, aber doch immer weniger Bücher. Das Lesen langer Texte scheint den Menschen zunehmend Schwierigkeiten zu machen. Worauf führst Du das zurück?

Klaus Benesch: Viele Leute reden von der Krise des Lesens, aber in Wirklichkeit, Du hast es angedeutet, befinden wir uns in einer Krise des Buches bzw. einer Krise des Buchmarktes, also der langen Texte und der intensiven Lektüre. Wir lesen alle permanent und überall. Wenn wir an der Kasse eines Supermarkts stehen, dann ist es nicht ungewöhnlich, dass vor oder hinter uns jemand steht, der eine Nachricht auf dem Smartphone liest. Wir lesen immer, aber das was wir lesen, hat sich verändert, vor allem aber auch die Art und Weise, wie wir lesen.

Haben wir nicht mehr die Aufmerksamkeit, um längere Texte durchlesen zu können? Wenn wir etwas in der Geschichte zurückgehen, beispielsweise zu Immanuel Kant, dann sieht man, dass es nicht ungewöhnlich war, Satzungetüme mit ineinander verschachtelten Nebensätzen zu schreiben. Das wurde uns systematisch ausgetrieben. Schon Sätze mit einem Nebensatz gelten als schwierig. Verflacht das Denken? Und ist das auch ein  Grund, warum wir kaum noch Bücher bewältigen können?

Klaus Benesch: Dass die Veränderung des Lesens automatisch zu einer intellektuellen Verflachung führt, glaube ich nicht. Verändert hat sich die Aufmerksamkeit. Aufgrund des Aufmerksamkeitsdefizits können wir lange Texte nicht mehr so intensiv und tief lesen, wie das noch Generationen vor uns konnten. Allerdings auch damals nur diejenigen, die eine entsprechende Ausbildung hatten.

Das Lesen war historisch nie ein Breitensport, es war immer eine Tätigkeit, die von wenigen Privilegierten und gut Ausgebildeten intensiv betrieben wurde. Aber hier hat sich etwas verändert. In der Leseforschung spricht man von hyper attention im Gegensatz zu deep attention, einer Aufmerksamkeit, die eher in die Breite geht, die sich verflüchtigt und nicht mehr so fokussiert ist. Aber das muss nicht unbedingt schlecht sein. Mit hyper attention kann man Multitasking beispielsweise gut machen, jedenfalls besser, als wenn man sich nur auf eine einzelne Tätigkeit beschränkt. Hier liegt aber auch das Problem, wie bekommt man beides.

Die Zukunft des Lesens wird sehr davon abhängen, ob es uns gelingt, unsere alten, überholten Vorstellungen von deep reading, also dem sich totalen Versenken in einen Text, abzustreifen und zu einer neuen Art der Lektüre zu kommen, die auch noch anderes als das fokussierte Lesen kann.

Unsere Kultur war immer eine Buchkultur, d.h. sie war es bislang gewesen. Jetzt scheint sich das Lesen und Schreiben von Büchern zu verändern. Das hat auch Einfluss auf die Geisteswissenschaften, die sich vor allem auf die Lektüre, auf die Hermeneutik, auf das Ausdeuten von Texten gestützt haben. Welche Veränderungen kann man hier feststellen?

Klaus Benesch: Moderne Gesellschaften definieren sich über die Lektüre von Büchern, das stimmt. Das ist aber ein modernes Phänomen. Das Buch gewinnt zunehmend im 18. und dann im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Als in seinen Hochzeiten Ende des 19. Jahrhunderts durch veränderte Reproduktionstechniken sehr viele Bücher auf den Markt kamen, tauchte auch die Kritik an der Bücherflut und dem Viellesen auf. Das Buch lebt immer mit dem inneren Widerspruch, dass mit seiner Kommerzialisierung die wenigen Gebildeten es nicht mehr annehmen wollen und von einer Krise des Buches sprechen.

Für die Geisteswissenschaften, die sich über das Lesen von Büchern konstituieren, ist das Wissen in Büchern aufgehoben, die in aller Regel auch noch in ihrer materiellen Form  gelesen werden, auch wenn heute viele Geisteswissenschaftler – wie ihre naturwissenschaftlichen Kollegen – hauptsächlich am Computer arbeiten. Trotzdem ist das Buch hier noch immer der Goldstandard. Die Geisteswissenschaften haben das Problem, dass sie in einer veränderten Kultur, in der das Buch seine Seriosität und sein soziales Prestige verloren hat, an den Universitäten immer noch relativ viel Raum einnehmen.  Die Krise des Buches ist daher auch eine Krise der Geisteswissenschaften. Die Frage wäre, was zuerst da war oder ob es zwei Krisenzustände sind, die sich gegenseitig befördern.

Wenn man von einem Buch redet, meint man meist ein gedrucktes Buch. Man kann aber natürlich auch lange Texte auf dem Bildschirm lesen. Gibt es denn einen Unterschied zwischen der Lektüre eines gedruckten Buches und der eines digitalen? Es handelt sich ja nur um ein anderes Trägermedium, der Text bleibt ja derselbe.

Klaus Benesch: Die Leseforschung hat zu diesem Thema viele Studien publiziert. Es macht einen Unterschied, ob man ein Buch in seiner materiellen Form liest, durchblättert, annotiert oder ob man auf einem Computerbildschirm liest. Die Aufmerksamkeitssteuerung ist eine andere, es bleibt auch nicht so viel haften.

Das heißt aber nicht, dass das digitale Lesen per se schlechter wäre als das traditionelle Lesen materieller Bücher. Es ist ein anderes Lesen, das andere Möglichkeiten eröffnet, auch für die Geisteswissenschaften. Man kann in einem Text ganz anders recherchieren und andere Dinge finden. Ich kann auf eine neue und spannende Weise lesen. Hier entstehen große Herausforderungen für die geisteswissenschaftlichen Fächer, insbesondere für die Literaturwissenschaften, die bislang noch stark an der Vorstellung des materiellen Buches kleben, während die Studierenden an den meisten Universitäten heute mit ihren Smartphones in die Seminare kommen und selbst schwierige, umfangreiche Texte auf diesem relativ kleinen Bildschirm wieder zum Leben erwecken wollen. Das wird mehr oder weniger toleriert, weil man das nicht verhindern kann. Die Herausforderung ist, diese neuen technischen Möglichkeiten ernst zu nehmen und sich zu fragen, wie man sie mit der literaturwissenschaftlichen Kompetenz so verbinden kann, dass etwas Neues und Interessantes entsteht.

„Können wir noch lange Texte intensiv und tief oder auch „nahe“ lesen?“

Man könnte sagen, es ändert sich ja auch das Schreiben und das Sich-Mitteilen. Die Literaturwissenschaft müsste sich vielleicht Twitter-Feeds als neuen Gegenständen der Forschung zuwenden, also kleinen, fragmentierten Textflüssen oder Hypertexten, die auch interpretationsfähig oder -würdig wären.

Klaus Benesch: Hier gibt es zwei interessante Aspekte.  Wenn sich das Lesen verändert, müsste sich auch das Schreiben verändern, wie du angedeutet hast. Ich glaube, dass im Bereich des Schreibens selbst gar nicht viel Spannendes geschieht. Es gab schon sehr lange Schreibexperimente, in der frühen Moderne, im Dadaismus, dann das elektronische Schreiben. Es gab große Hoffnung, dass hier etwas Neues entstehen könnte. Es gibt Literatur, die die von dir angesprochenen Twitter-Feeds zu imitieren versucht,entweder um eine neue literarische Form zu etablieren oder um die grundsätzliche Leere unserer social media Kultur zu entlarven. Dave Eggers und einige haben mit diesen Formen experimentiert.

Aber das bleibt im Kontext des modernen Schreibexperiments. Bei der Lektüre kommt etwas anderes ins Spiel. Hier stellt sich die Frage, ob wir überhaupt noch die Fähigkeit haben, lange Texte intensiv und tief oder auch „nahe“ zu lesen oder ob sich unser Gehirn schon so weit an die neuen technischen Bedingungen adaptiert hat, dass wir das gar nicht mehr können.  Und haben wir überhaupt noch die Zeit, die langen Bücher zu lesen. Selbst professionelle Leser wie Hochschullehrer oder Menschen in den Feuilletons oder Verlagen tun sich immer schwerer, weil wir zugekleistert sind mit Texten und auswählen müssen, was wir wie und wo lesen. Viele Bücher werden heute nicht mehr bei einem Verlag als ein zusammenhängendes Buch gekauft; es werden oft nur noch einzelne Kapitel, die man in einem bestimmten Kontext lesen will, gekauft und heruntergeladen, vielleicht ausgedruckt und dann gelesen.

Es gibt eine Tendenz hin zum kürzeren Text. Das ist vielleicht auch die Zukunft, in der die langen Monsterbücher nur noch für das Antiquariat oder ein Nischenpublikum sind, das sich dann die Bälle zuspielt und sich gegenseitige opaque Textsellen zitiert. Die Zukunft gehört wahrscheinlich den kürzeren Texten, was sich auch bei den Geisteswissenschaften niederschlagen wird. Andererseits werden durch die Anwendung des Computers im akademischen Bereich die Texte auch länger, und finden gleichzeitig immer weniger Leser.

„Die Geisteswissenschaft muss nicht in Formeln denken“

Man liest ja nicht nur alphabetische Texte, sondern auch Formeln oder Computercode, also Zahlenfolgen, die wahrscheinlich wirklichkeitsmächtiger sind als das, was  Geisteswissenschaftler zu Papier bringen. Ist die Diskussion nicht verkürzt, wenn man vom Lesen spricht und damit nur das von Texten meint, aber die Naturwissenschaften und die Informatik mit der Formel- und Algorithmensprache nicht einbezieht? Hier wird auch immer mehr gelesen. Computerprogramme werden immer länger und komplexer, es ist eine enorme Aufmerksamkeitsarbeit notwendig, um sie schreiben, lesen und verstehen zu können.  Tritt nicht damit das Textlesen in den Hintergrund, auch in der gesellschaftlichen Bedeutung?

Klaus Benesch: Das ist ganz bestimmt so. Nur einmal ein Beispiel. In Bayern wird gerade über eine Hochschulreform diskutiert, die die Universitäten auf eine neue Basis stellen soll. Das steht im Kontext der Hightech-Initiative des Freistaats Bayern. Entworfen wird eine Zukunft der Universitäten und damit auch der Geisteswissenschaften im Kontext von Hightech. Hier schwingt mit, was du sagst, dass die neuen Technologien nicht nur eine andere Art des Lesens ermöglichen, sondern sie bedingen langfristig auch andere Texte, Darstellungsformen und Inhalte.

Man sieht, wie mit den Messenger-Apps und den Sozialen Medien die Texte immer kürzer werden. Sie kreieren ihre eigene Sprache über Emojis und Kurzformen, die zunächst nur in bestimmten Gruppen verbreitet und bekannt sind. Hier entstehen neue, interessante Textformen, die aber auch in eine durchaus problematische Richtung gehen.

Eine der Stärken der Geisteswissenschaften, über die nicht so oft gesprochen wird, ist das differenzierte, unprätentiöse Sprechen und das genaue Hinhören und -schauen auf die Sprache. Das wird in den Geisteswissenschaften noch gelehrt. Diese Kompetenz benötigt man, um die neuen technologischen Entwicklungen kritisch begleiten zu können.

Hannah Arendt schreibt in ihrem Buch „Vita activa“ über die Arbeit, dass die Naturwissenschaft sich nicht mehr selbst retten kann, weil ihr die Sprache abhanden gekommen sei. Sie kann nicht mehr ernsthaft, kritisch und auf Distanz über die eigene Verfasstheit, Forschung und Inhalte nachdenken. Naturwissenschaft denkt in Formeln, sagt Hannah Arendt. Genau hier kommt die Geisteswissenschaft ins Spiel, die nicht in Formeln denken muss (auch wenn ihr Jargon das gelegentlich vermuten läßt), aber die Formel ernst nehmen muss als eine Gegebenheit, die die Politik bestimmt. Insofern braucht es, was ich in dem Buch auch zeigen wollte, in den Geisteswissenschaften eine gewisse Offenheit für die Situation, die du beschrieben hast.

Nun könnte man aber auch sagen, dass die Sprache selbst zu einem Phänomen der Technik wird. Wir werden bald KI-Systeme haben, die auch komplexe, literarische Texte schreiben können. Nachrichten, Wetterberichte, Sportberichte, selbst wissenschaftliche Artikel  etc. lassen sich bereits automatisch generieren.  Wenn nun die Technik Texte erzeugen kann, gleich ob nun digital oder auch gedruckt, die bislang ausschließlich von Menschen hergestellt und aufgebschrieben wurden,  sind das dann auch Objekte der Geisteswissenschaften?  Auf der anderen Seite glauben wir, so zumindest unser traditionelles Textverständnis, dass wir aus den Texten etwas über die Welt lernen können. Mit den maschinengenerierten Texten werden diese jedoch immer zu Oberflächen, was bedeuten könnte, dass wir, wenn wir die Welt verstehen wollen, wir die hinter den Texten stehenden Programme verstehen müssen. Wir wissen in der Regel auch jetzt schon nicht, nach welchen Regeln Algorithmen uns in den Sozialen Medien Texte auswählen. Das wird sich weiter ausprägen, wenn wir immer tiefer in den technischen Welten leben. Werden wir zu neuen Analphabeten, wenn wir den numerischen Code nicht verstehen können und uns nur auf der Textebene aufhalten?

Klaus Benesch: In gewisser Weise „ja“ aus der Sicht derjenigen, die diesen Code schreiben. Die Frage ist, ob das ein Bereich ist, auf den die Geisteswissenschaften dann genauer hinschauen und Kenntnisse entwickeln müssen, damit wir beides lesen können, also unsere Narrative und das, was du als Code beschreibst. Die Hoffnung, dass dies möglich sein wird, ist allerdings nicht groß. Codes sind komplexe Sprachen, die von Spezialisten beherrscht und angewandt werden. Ob man sich hier gerade einmal so nebenbei in das Lesen und Schreiben von Codes einarbeiten kann, dass man tatsächlich versteht, was da passiert, halte ich für schwierig, auch wenn es natürlich wünschenswert wäre.

Die andere Seite aber ist, dass selbst dann, wenn man es könnte und wüsste, wie Code entsteht, es noch immer die Narration bräuchte, um aus diesem Vorgang des Schreibens von Code etwas Sinnhaftes zu machen. Der Code selbst kreiert gesellschaftlich und philosophisch gesehen keinen Sinn, sondern er erfüllt eine Funktion. Das ist ein anwendungsorientiertes Schreiben mit dem Blick auf eine ganz bestimmte Funktion, die am Ende des Schreibprozesses steht. In der Narration hingegen, besonders in der, mit der sich die Literaturwissenschaften beschäftigen, geht es um etwas anderes, nämlich um die Sinnhaftigkeit von Konstellationen. Darüber wird anhand von Personalisierungen spekuliert und geredet. In der Literatur konstituiert sich Sinnhaftigkeit personalisiert, in Form von einzelnen Charakteren oder Individuen, die exemplarisch dargestellt werden. Darüber kann man sich auseinandersetzen.

Das Wichtige aber ist, dass die Geisteswissenschaften und hier vor allem die Literaturwissenschaften nicht an ihrem Thema kleben, also nicht nur auf die Literatur schauen, sondern sich als Experten von Narration verstehen, die sich auch andere Narrative als literarische anschauen und lesen können. Darin, glaube ich, liegt die Universalkompetenz und auch die Zukunft der Literaturwissenschaften und der anderen geisteswissenschaftlichen Fächer. Sie können leicht über den Tellerrand ihres eigenen Arbeitsbereichs hinaus schauen und in andere, wichtige gesellschaftliche Bereiche vordringen, für die ebenfalls Sprache, Erzählen und Geschichte essentiell sind.

 

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