„Man muss man die Privilegien des Alters annehmen und nicht ablehnen“

Gregor Gysi. Bild: Simone Rethel-Heesters

Simone Rethel-Heesters im Gespräch mit Gregor Gysi über Politik, Einsichten im Alter, den Krieg und Antisemitismus.

 

Glückwunsch zum Geburtstag! Gregor Gysi, geb. 16. Januar 1948, Politiker und Rechtsanwalt, ist Mitglied des Deutschen Bundestages und war langjähriger Vorsitzender der Linksfraktion. Er ist eine der zentralen und prominentesten Persönlichkeiten der Partei „Die Linke“ und wirkte prägend auf das politische Geschehen in der Bundespolitik seit der politischen Wende ein. Zu seinen politischen Erfolgen zählt die Transformation der vormaligen DDR-Staatspartei SED zur PDS. Gysi trug maßgeblich zur bundesweiten Etablierung der links von SPD und Bündnisgrünen positionierten Partei bei und arbeitet heute zudem wieder als Anwalt in Berlin. Das Gespräch wurde 2018 geführt.

Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?

Gregor Gysi: 71.

Das ist ein Alter, in dem sich andere zurückziehen. Sie machen ja wirklich unglaublich viel. Finden Sie es schwer, zum richtigen Zeitpunkt abzutreten?

Gregor Gysi: In einer Diktatur ist es so, dass es keinen Rücktritt gibt. Bis man politisch in Ungnade fällt oder bis man stirbt, bleibt man in den Ämtern. In der Demokratie ist das anders. Das Problem ist nur, dass die meisten nicht rechtzeitig aufhören können. Wenn zum Beispiel Helmut Kohl in seiner letzten Legislaturperiode erklärt hätte, zum Ende höre er auf, wäre er mit Glanz und Gloria gegangen. Aber er hat sich abwählen lassen. Die meisten verpassen den richtigen Zeitpunkt, weil sie umgeben sind von Menschen, die ihnen nur erzählen, wie toll sie sind. Und ich habe mir 2015 gesagt, dass meine Akzeptanz gerade relativ hoch ist in der Gesellschaft und dass das der richtige Zeitpunkt ist, um an die nächste Generation abzugeben. Das heißt ja nicht, dass man völlig aufhört, aber man gibt Verantwortung ab, und damit bin ich eigentlich ganz zufrieden.

Ja. [Ich lache.] Wären Sie gerne jünger oder sind Sie mit Ihrem jetzigen Alter zufrieden?

Gregor Gysi: Ich lasse solche Gedanken in mir gar nicht zu. Da ich es sowieso nicht ändern kann, habe ich beschlossen, das Alter zu genießen, und das halte ich für sehr wichtig. Man muss das Alter anders leben, als viele Alte es tun.

Inwiefern?

Erstens muss man ein Datum festlegen und sagen: dann bin ich alt. Zweitens muss man die Privilegien des Alters annehmen und nicht ablehnen. Als ich 60 war, fragte mich ein junger Mann, ob er mir die Tasche tragen dürfe, da habe ich gesagt: „Werden Sie mal nicht komisch, das kann ich schon allein.“ Eigentlich hätte ich sagen sollen: „Selbstverständlich und da steht noch ein Koffer.“ Das heißt, die Privilegien nicht zurückweisen, sondern annehmen. Der nächste Punkt ist, dass die meisten denken, dass sie verpflichtet sind, alles zu vererben. Auch das ist schon wieder ein schwerer Irrtum. Man soll sich auch was gönnen, man ist nicht verpflichtet, alles zu vererben. Selbst wenn Tochter und Sohn schief gucken, da müssen sie einfach durch. Drittens begehen die Alten den Fehler, dass sie den ganzen Tag über Krankheiten quatschen, und davon wird man nicht gesund. Wenn man das beachtet, sich altersgerecht verhält und amüsiert, dann kann man das Alter auch genießen, und ich bin sehr dafür, es zu tun.

Dürfen Sie eigentlich als Rechtsanwalt begrenzt arbeiten? Als Arzt muss man ja zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhören.

Gregor Gysi: Das ist schon ein Widerspruch in sich. Nicht nur als Arzt muss man zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhören, auch als Hochschulprofessor. Die Kommunalbürgermeister dürfen nur bis zu einem bestimmten Alter arbeiten, aber Bundeskanzler kannst du in jedem Alter werden und solange du willst.

Es gab mal ein Lied von Curd Jürgens: „60 Jahre und kein bisschen weise, aus gehabtem Schaden nichts gelernt.“ Damals schien mir 60 Jahre unendlich alt. Finden Sie auch, dass sich der Blickwinkel in Bezug auf das Alter enorm verändert?

Gregor Gysi: Ja, weise bin ich erst, seit ich 70 bin. Mit 60 noch nicht. [Wir lachen.] Nein, in Wirklichkeit ist es natürlich so, dass die Alten oft die neue Generation nicht verstehen, und dann begeht man Fehler. Dann denkt man, man kann denen sagen, wie man sich richtig kleidet oder welche Musik schön ist. Das kann man alles vergessen, das entscheidet die Jugend für sich, wir wollen doch auch nicht, dass die Jungen uns das vorschreiben.

Beurteilen Sie Dinge in Ihrem Umfeld jetzt anders als früher?

Gregor Gysi: Ja natürlich. Ich bin zum Beispiel gelassener und toleranter geworden. Ich habe im Laufe meines Lebens erfahren, wie unterschiedlich Ansichten sein können. Auch glauben viele Menschen, dass sie das meiste frei entschieden haben, was ein schwerer Irrtum ist. In Wirklichkeit ist man durch seine Sozialisation geprägt. Wenn du in einem konservativen katholischen Elternhaus aufgewachsen bist, lag es nahe, dass du in die CDU gehst. Wenn du bei Bergleuten aufgewachsen bist, lag es nahe, dass du in die SPD gehst. Das unterschätzt man.

Gibt es heute Momente, in denen Sie bereuen, zurückgetreten zu sein?

Gregor Gysi: Erstens, bin ich ja nicht zurückgetreten, sondern nur nicht erneut zur Wahl angetreten. Zweitens: Nein, ich habe das nie bereut. Ich habe zwar nicht mehr Zeit, aber ich kann die Zeit anders verbringen als vorher. Vorher habe ich jeden Antrag gelesen und mich damit beschäftigt. Natürlich rede ich auch weniger im Bundestag. Am Anfang hat mich das ein bisschen gestört, weil ich dachte: Welche Rolle spiele ich jetzt hier? Aber inzwischen habe ich meine Rolle gefunden und bin auch damit zufrieden.

Mit welchen Gefühlen beobachtet man, was die Nachfolger machen?

Gregor Gysi: Mit unterschiedlichen. Ich gehe nicht so häufig zu Fraktionsversammlungen, weil ich nicht der Vorgänger sein will, der sich ständig meldet und immer alles besser weiß, das ist ja furchtbar. Wenn ich gebraucht werde, gehe ich hin, und dann mach ich auch etwas, aber in Grenzen.

Was möchten Sie jungen Menschen mit auf den Weg geben?

Gregor Gysi: Dass sie rebellischer werden, nicht gewalttätig, aber sie müssen wissen, dass die Alten gerade über ihre Zukunft entscheiden. Sie dürften sich ihre Zukunft nicht nehmen lassen, weder durch Klimawandel noch durch Versäumnisse bei der ökologischen Nachhaltigkeit noch durch grobe soziale Ungerechtigkeit. Sie müssen für Chancengleichheit in der Bildung streiten und beim Zugang zu Kunst und Kultur. Heute muss man sich häufig den Zugang dazu leisten können, das ist falsch, auch das dritte Kind der Hartz-IV-Empfängerin muss den gleichen Zugang zu Kunst und Kultur haben.

Sie haben in ihrem politischen Leben ungeheuer viele Verletzungen hinnehmen müssen. Sie haben das zwar immer mit viel Humor und süffisanten Bemerkungen abgetan, aber sie sagen selbst, das wäre kein schönes Gefühl.

Gregor Gysi: Ja, ich habe neue Eigenschaften an mir festgestellt. Ich bin preußisch stur. Ich kann nicht gehen, wenn ich so behandelt werde, weil ich mich ungerecht beurteilt fühle. Also bleibe ich und ringe darum, anders beurteilt, akzeptiert zu werden. Es geht natürlich auch um die Akzeptanz der Partei. Das Wichtigste war, als mir Hass begegnete, habe ich nicht zurück gehasst. Das schafft man nur, wenn man analysiert, warum derjenige einen hasst. Jesus Christus sagt in der Bergpredigt, wir sollen unsere Feinde lieben, nun, das kann ich auch nicht, aber immerhin nicht zurück hassen konnte ich.

Sie sind aus tiefstem Herzen Pazifist?

Gregor Gysi: Nein, ein Pazifist erkennt ja auch nicht die Notwendigkeit an. Ich sage, wenn ein Land militärisch angegriffen wird, muss es sich auch verteidigen. Aber ich bin ein strikter Gegner von Angriffskriegen jeglicher Art, auch von völkerrechtswidrigen Kriegen, von der Vorstellung, dass man auf militärische Art und Weise die Probleme lösen kann. Das kann man nun wirklich nicht.

Glauben Sie, dass wir noch einmal einen Krieg erleben werden?

Gregor Gysi: Es gibt doch Krieg, es ist doch alles voller Krieg, in Europa hatten wir zum Beispiel den Jugoslawienkrieg. Wenn wir die EU retten, wird es zwischen Mitgliedsländern der EU keinen Krieg geben, wenn die EU kaputtgeht, wird der Krieg nach Europa zurückkehren.

Kann die Angst vor der Atombombe vor einem Krieg schützen?

Gregor Gysi: Das weiß ich nicht. Sie schützt davor, dass Länder, die die Atombombe besitzen, angegriffen werden. Deshalb wollen ja immer mehr Länder Atomwaffen haben, deshalb müssen die Länder, die sie haben, abrüsten, dann können Sie auch verlangen, dass andere keine Atomwaffen haben. Aber letztlich darf man nicht vergessen, dass die Menschheit auch durch ein Versehen untergehen kann. Zum Beispiel gab es mal die Computeransage, dass die USA die Sowjetunion angreife. Der zuständige Offizier hat die Waffen nicht ausgelöst, die er eigentlich hätte auslösen müssen, weil er glaubte, das sei ein Computerfehler, und es war ja auch ein Irrtum. Aber wenn er sie ausgelöst hätte, wäre hier alles in Schutt und Asche.

Woher kommt es, dass jetzt fast in jedem Land so populistische Politiker an die Macht kommen?

Gregor Gysi: Das hat einmal den Grund, dass die Leute das politische Establishment nicht mehr mögen, weil es nicht ehrlich ist. Zweitens ist ihnen die Welt zu unübersichtlich geworden. Wer soll denn noch verstehen, welches Interesse Saudi-Arabien und der Iran an Syrien haben? Da das nicht nachvollziehbar ist und auch nicht aufgeklärt wird, haben diejenigen Erfolg, die sagen, zurück zum alten Nationalstaat, da kann man alles überblicken. Das geht gar nicht, weil weder die ökologische noch die soziale Frage oder eine andere rein nationalstaatlich zu lösen ist. Man muss sich Gedanken machen, wie man das Interesse, solche Leute zu wählen, Schritt für Schritt abbauen kann.

Was sagen Sie zu dem wiederaufkeimenden Antisemitismus in Deutschland?

Gregor Gysi: Der Antisemitismus verbreitet sich. Er ist übrigens in den alten Bundesländern stärker als in den neuen, das ist interessant. Während der Rassismus in den neuen Bundesländern wieder stärker ist als in den alten. Das hängt mit der unterschiedlichen Geschichte zusammen. Die Bundesrepublik hatte immer diplomatische Beziehungen zu Israel und hat deshalb das Schicksal der Palästinenser vernachlässigt. Die DDR hatte sehr gute Beziehungen zu den Palästinensern und hat deshalb das Schicksal Israels vernachlässigt. So sind die Reaktionen in der Bevölkerung unterschiedlich. Aber egal, ob Rassismus, Nationalismus oder Antisemitismus, man muss das immer entschieden bekämpfen, weil man Menschen nach dem beurteilen soll, was sie tun und was sie nicht tun, nach ihrem Charakter und nicht danach, ob sie nun jüdisch oder nicht-jüdisch, palästinensisch oder nicht-palästinensisch, österreichisch oder deutsch sind.

Jüdische Menschen erklären mir, es gebe jetzt eine neue Form des Antisemitismus. Man sage: Ich bin nicht Antisemit, aber was die Israelis mit den Palästinensern machen, wie Israel einen Vernichtungskrieg führe, das müsse man doch sagen dürfen. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Kritik an Israel gerät immer wieder in den Verdacht des Antisemitismus. Vor allem Deutsche kommen aus dieser Falle nicht heraus. Das darf uns quälen, zumal Nachkommende mit dieser Schuld nichts zu tun haben, allerdings auch Verantwortung tragen für die Zukunft. Israelische Urängste mögen von sämtlichen Beobachtern relativiert werden. Von deutscher Seite darf das nicht geschehen – so wenig, wie das unermessliche palästinensische Elend nicht relativiert werden darf.“ Diese Erklärung entspricht meiner Ansicht, obgleich ich auch kurz nach dem Krieg geboren wurde, schäme ich mich aber nach wie vor für diese schrecklichen Taten und habe Schuldgefühle. Wir Deutschen sollten sehr vorsichtig sein, darüber zu urteilen.

Gregor Gysi: Wobei ich Netanjahu selbstverständlich auch kritisiere, und ich finde auch die Art, wie sie die Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland und Gazastreifen behandeln, völlig falsch. Wenn ich ein sicheres und souveränes Israel will, kriege ich das nur, wenn es ein sicheres und souveränes Palästina gibt. Netanjahu macht den Weg dahin von Tag zu Tag schwerer und komplizierter.

Glauben Sie, dass Sie heute auch noch abgehört werden?

Gregor Gysi: Ganz bestimmt! Die NSA hört alles ab. Wenn ein bestimmtes Wort fällt, schaltet sich das Gerät ein, und so meinen sie, dass sie bestimmte Dinge rausbekommen. Die, die ständig abgehört werden, das sind natürlich nicht so viele. Ich hatte auch eine dicke Verfassungsschutz-Akte, aber jetzt haben sie wohl meine Kontrolle eingestellt. Das mussten sie nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Da mache ich mir nichts vor, Geheimdienste dieser Welt leben davon, dass sie sich zu viele Informationen holen, bis sie so viele Informationen haben, dass sie alles durcheinanderbringen.

Jetzt habe ich noch eine freche Frage: Wir sind ja beide ziemlich klein, deshalb glaube ich, dass ich das fragen darf. Ich habe beobachtet, dass kleine Männer oft sehr große Frauen bevorzugen, ist das bei Ihnen auch so?

Gregor Gysi: Nö, ich mag es eigentlich eher handlich. Aber ich sag ja immer, ich bin nicht klein, ich bin nur kurz. [Er lacht.]

Würden Sie bitte drei Wünsche formulieren – für Ihr weiteres Leben.

Gregor Gysi: Mein erster Wunsch wäre, dass ich jeden Monat einen Wunsch frei hätte, sonst kann ich mich ja nicht entscheiden – verstehen Sie? Mein zweiter Wunsch wäre, dass ich Fremdsprachen perfekt beherrschen würde, um mehr Kommunikation betreiben zu können. Mein dritter Wunsch wäre, dass es endlich weltweit keinen einzigen Krieg mehr gäbe. Dass der Krieg einfach ausgestorben ist, für die Menschheit. Wenn ich dann noch jeden Monat einen Wunsch frei hätte, könnte ich ja noch beliebig gute Dinge tun – wenn mein erster Wunsch erfüllt wird. Wenn nicht, wär’s traurig!

Das Gespräch wurde dem Buch von Simone Rethel-Heesters: „Alterslos – Grenzenlos. Porträts und Gespräche über das Leben“ entnommen, das im Westend Verlag erschienen ist. Für ihr Buch hat sich Simone Rethel-Heesters mit Kamera und Mikrofon auf den Weg gemacht und mit Menschen gesprochen, die unabhängig von ihrem biologischen Alter ihr Leben weiterhin beruflich aktiv und sinnhaft gestalten: Handwerker, Künstler, Forscher oder Politiker, bekannte und unbekannte Persönlichkeiten.

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2 Kommentare

  1. Wer 1948 geboren ist, wird 2022 also 74, also ist das Interview jetzt schon drei Jahre alt?
    Das sollte man vielleicht dabeischreiben, sonst erhofft sich der Leser schlaue Aussagen zur Ampelregierung …

  2. Gysi hat zum derzeitigen Niedergang der Partei DIE LINKE wesentlich beigetragen durch sein politische Wichtigtuerei und Egomanie – er wurde so zum Liebling der Mainstream-Medien.

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