Frankenstein oder der moderne Prometheus

Frankensteins Monster als Wachsfigur im Wax Museum Plus. Bild: Miguel Mendez/CC BY-2.0

100 Bücher, die die Welt verändert haben

Die Verfilmungen von Mary Shelleys Roman Frankenstein sind viel bekannter als das Buch selbst. Es gibt in der Tat erhebliche Unterschiede zwischen dem Roman und den traditionellen Produktionen für die Leinwand. Shelleys Werk trägt den Untertitel „Der moderne Prometheus“. Das allein zeigt schon, dass das Buch weitaus philosophischer ist, als es die dürftigen filmischen Umsetzungen vermuten lassen: Der Roman ist zwar Science-Fiction, aber er ist vor allem eine soziale Erkundung. Die Filme spielen eher mit dem Horror.

Mary Shelley (noch unter dem Nachnamen Godwin) erfand die Story während einer Sommerreise zu Lord Byrons Villa in Genf. An einem regnerischen Tag amüsierten sich die Gäste des berühmten Dichters mit dem Erzählen von Schauergeschichten. Lord Byron hatte die Idee, dass jeder Gast etwas schreiben sollte, das dann am Abend vorgetragen werden sollte. Aus dieser Wette entstand der Stoff, an dem die erst 19-jährige Mary Shelley bis zu ihrer Veröffentlichung, achtzehn Monate später            in England, weiterarbeitete.

Wer kennt nicht das Wesentliche der Handlung? Doktor Viktor Frankenstein ist ein Wissenschaftler, der über genügend Mittel verfügt, um Forschung auf eigene Faust zu betreiben und ein Labor in einem abgelegenen Teil seines Hauses zu unterhalten. Während seines Chemiestudiums ist Dr. Frankenstein davon besessen geworden, das Geheimnis des Lebens zu ergründen. Er beschließt, ein Lebewesen zu erschaffen und „bestellt“ zu diesem Zweck menschliche Teile aus der Gerichtsmedizin und sogar Fleisch aus dem Schlachthof. In nächtelanger fieberhafter Arbeit setzt er alles zusammen und modelliert einen zwei Meter hohen menschlichen Körper, einen Riesen, der trotz all seiner Bemühungen grauenhaft wirkt.

An einem „nebligen Novembernachmittag“ beschließt Dr. Frankenstein, seiner Schöpfung „den Funken des Lebens“ zu gewähren. Doch als er sieht, wie diese sich bewegt, bereut er es sofort. Er flieht aus seinem Labor. Als er später zurückkehrt, ist das Monster, das im Roman nie beim Namen genannt wird, geflohen und man wird lange nichts mehr von ihm hören.

Die Geschichte hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Im Jahr 1780 hatte der italienische Arzt Luigi Galvani entdeckt, dass sich die Muskeln toter Frösche durch Stromstöße zusammenziehen. Galvani interpretierte dieses Phänomen als Ergebnis einer besonderen Elektrizität, die den Tieren eigen ist. Leider wurden auch derartige Experimente an hingerichteten Menschen ausgeführt, so dass 1803 Kaiser Friedrich Wilhelm III. von Preußen „galvanische Experimente“ an Leichen verbieten musste. Aber die Büchse der Pandora war bereits geöffnet worden, und wahrscheinlich gab es überall in Europa ähnliche Versuche, um zu beweisen, dass die Elektrizität jene „Lebenskraft“ war, die seit der Antike als maßgeblicher Faktor für die Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Wesen postuliert worden war.

Heute gehen einige Autoren aufgrund des Studiums der Korrespondenz der jungen Mary Shelley davon aus, dass sie und Percy Shelley die Burg Frankenstein in der Nähe von Darmstadt in Deutschland besucht haben. Dort müssen beide die Geschichte und die Legenden über den Alchemisten Johann Dippel gehört haben, der im Schloss geboren wurde und in anderen europäischen Städten obskure Experimente durchführte. Es gibt zwar keine stichhaltigen Beweise dafür, aber ein Eintrag in Mary Shelleys Tagebuch kurz nach ihrer Reise, in dem von „Göttern, die neue Menschen erschaffen“, die Rede ist. Möglicherweise entstand bei diesem Besuch die Idee für die Geschichte, die ursprünglich in Ingolstadt spielt, wo Viktor Frankenstein, ein gebürtiger Genfer, als Student angesiedelt wird.

Frankenstein ist mehr als eine Horrorgeschichte, es ist ein Roman über die Verantwortung (oder Unverantwortlichkeit) von Wissenschaftlern und das Gesetz der unerwarteten Ergebnisse. Der Untertitel deutet es an. In der griechischen Mythologie war Prometheus einer der Titanen, die von Zeus und den Göttern des Olymps unterworfen wurden. Nach einer Variante seines Mythos war es Prometheus, der den Menschen aus Lehm formte. Gegen den Willen von Zeus gab er ihnen dann das Feuer. Zur Strafe kettete Zeus Prometheus für immer an einen Berg. Prometheus hat allerdings bei der Erschaffung der Menschen Fehler gemacht. Alle Laster und Probleme der Menschheit seien auf diese „Erbsünde“ zurückzuführen.

Was Dr. Frankenstein ein Monster, eine Kreatur und sogar ein Ding nennt, ist nicht von Natur aus böse. Nach seiner Flucht aus dem Laboratorium wird er von der Gesellschaft schikaniert, was ihn dazu bringt, eine Reihe von Morden zu begehen. Abgeschieden im Wald und als Vagabund lebend, lernt er sprechen und lesen, indem er die Menschen ausspioniert. Aber es ist die Gesellschaft mit ihrer Ablehnung, die ihn zum Verbrecher macht.

Zwei Diskursstränge sind hier miteinander verwoben. Zum einen die Herkunft von Mary Shelley, der Tochter von William Godwin und Mary Wollstonecraft. Beide waren prominente soziale Kämpfer. Godwin sah in der Abschaffung des Staates den wesentlichen Schritt zur Beendigung der sozialen Unterdrückung. Deshalb wird er als einer der Wegbereiter des Anarchismus angesehen. Mary Wollstonecraft war eine kämpferische Feministin, die mit ihren Schriften dazu beitrug, den Kampf für die Gleichberechtigung der Frau zu verbreiten. Beide Sozialreformer gingen von der Annahme aus, dass Männer und Frauen nur deshalb Laster und Bosheit entwickeln, weil die Gesellschaft sie so formt. Der Mensch ist von Natur aus ein mitfühlendes Wesen, das sich mit der richtigen Erziehung auch so verhalten würde.

Das Hauptproblem ist jedoch folgendes: Dürfen Wissenschaftler alles erschaffen, was möglich ist, oder sollten sie sich aus sozialer Verantwortung heraus beschränken? Als das Monster nach vielen Missverständnissen Viktor angreift und verlangt, dass er ihm eine Gefährtin baut, um ihm den Trost zu geben, den die Gesellschaft ihm verweigert, willigt Dr. Frankenstein zunächst ein, doch reumütig vernichtet er seine neue Kreation. Er kann der Kreatur keine Gefährtin geben, weil er befürchtet, dass dies der Beginn einer neuen Rasse sein könnte, die die Menschheit auslöschen wird. Das Monster, blind vor Wut, erwürgt Victors Verlobte in der Hochzeitsnacht. Victor beginnt, es um die halbe Welt zu jagen, sogar bis zum Nordpol, um es zu vernichten.

Die Thematik bleibt hochaktuell. Ist es beispielsweise akzeptabel, gentechnisch veränderte Tiere oder Pflanzen zu erzeugen, ohne genau zu wissen, welche Auswirkungen sie auf das ökologische Gleichgewicht haben werden? Das Klonen einiger Lebewesen ist heute erlaubt, nicht aber das Klonen von Menschen. Die technologischen Möglichkeiten unserer Zeit sind unendlich größer als alles, was Mary Shelley sich hätte ausdenken können. Aber das Grundproblem bleibt dasselbe: Wie kann man den wissenschaftlichen Fortschritt auf kontrollierte Art und Weise nutzen, um keine Umweltkatastrophen zu beschwören oder die Menschenwürde zu verletzen?

Frankenstein ist ein Roman, der mehrstimmig erzählt wird. Die Geschichte beginnt mit dem Schiffskapitän, der Dr. Frankenstein bei der Verfolgung der Kreatur entdeckt, und endet mit Viktor selbst, der seine Geschichte erzählt, sowie mit dem Monster, das alles, was geschehen ist, aus seiner Sicht schildert. Am Ende stirbt Dr. Frankenstein auf dem Schiff, und seine Schöpfung trauert vor seiner Leiche. Schließlich beschließt das „Ding“, in der Dunkelheit und Kälte der Arktis zu verschwinden.

Als ich vor vielen Jahren Frankenstein im Original las, hatte ich nicht erwartet, so viel Philosophisches in dem Roman zu finden, da ich bis dahin nur die Verfilmungen kannte. Ich dachte, es würde ähnlich sein wie Bram Stokers „Dracula“, das von der ersten bis zur letzten Seite purer Horror ist. So ein Buch muss bei Tageslicht gelesen werden, sonst sieht man die Vampire aus dem Fenster lugen. Frankenstein ist jedoch eher ein melancholisches Werk, das zwischen philosophischer Tiefe und Sentimentalität schwankt. Man hat abwechselnd Mitleid mit der Gesellschaft, mit dem gefallenen Wissenschaftler und sogar mit dem Monster, das laut über sein Schicksal klagt.

Nicht umsonst beginnt Shelley mit einem Zitat von Milton aus dem verlorenen Paradies: „O Schöpfer … habe ich dich gebeten, mich aus den Schatten zu holen?

Ähnliche Beiträge:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert