Der rasende Stillstand der Städte

„Still-Leben“ Ruhrschnellweg 2010. Bild: CherryX/CC BY-SA 3.0

 

Erst wenn die Segregation städtischer Räume gestoppt ist, besteht Aussicht auf Erfolg in der Überwindung von gruppenbezogenen Vorurteilen

 

Winston Parva besteht aus drei Ortsteilen. Der älteste, das „Dorf“, wurde in den 1880er Jahren von einem Ziegeleibesitzer gegründet und war seinen Arbeitern vorbehalten. In den 20er und 30er Jahren kam ein neues, mittelständisch geprägtes Viertel aus Einzel- oder Doppelhäusern hinzu, und ab den 30er wurde noch einmal eine reine Arbeitersiedlung zwischen einer Haupt- und einer Nebenlinie der Bahn hochgezogen.

Winston Parva besteht genau genommen nicht mehr. Der Name ist ein Pseudonym für einen realen Modellfall, der Vorlage einer Studie zur Soziologie und Psychologie der Stadt wurde. Geschildert wird die geographische, kommunalpolitische und soziographische Entwicklung bis in die Gegenwart der 60er Jahre.

Der reale Ort liegt in den East Midlands und gehört zu Leicester. Die jüngste Siedlung (Zone 3) ist von den beiden anderen Zonen durch die Bahnlinie getrennt. Diese Grenze machte den Ortsteil von Anfang an zum Spielball von Vorurteilen und Diskriminierungen, die die Wahrnehmung der Bewohner der anderen Zonen bestimmten. Obwohl die Einkommensunterschiede sich aneinander anglichen, hielten sich die Vorurteile gegenüber den vermeintliche Ärmeren.

Norbert Elias und John L. Scotson führten ihre Untersuchung von 1958-1961 durch. Sie erschien auf Deutsch unter dem Titel „Etablierte und Außenseiter“. Die trennende Bahnlinie ist das schlagende Zeugnis einer räumlichen Segregation. Diese ist das Ergebnis einer misslungenen Stadtplanung. Die Fehler sind sprichwörtlich. Die Folgen der Fehler werden heute meist unter dem Begriff der „Entmischung“ geführt. In anderer Lesart handelt es sich um Prozesse der Desintegration, Exklusion oder Polarisierung urbaner Bevölkerungsschichten.

Für Elias und Scotson ist es zudem ein Musterfall der Vorurteilsbildung. Auf Bilder und Schlagworte gestützte Vorurteile verfestigen sich zu einer Macht, die unabhängig von ihrer sozioökonomischen Grundlage wird und deshalb um so länger wirksam ist. Eine Stadtplanung, die nicht auch die Psychologie der Stadt und ihrer Bewohner berücksichtigt, bleibt defizitär. Sie wiederholt die gleichen Fehler immer wieder. Sie lässt Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung ebenso unberücksichtigt wie die Reflexe in den Köpfen der Einwohner.

Winston Parva ist ein stadtsoziologischer Prototyp, in dem die meisten Mängel der Stadtplanung und Stadtentwicklung versammelt und vorweggenommen sind wie Gentrifizierung und Segregation, Gated Communities, die Wohnsituation von Migranten und der Umgang mit Ethnien. In den Problemkreis gehören auch die Polarisierungen der funktionsgeteilten Stadt des 20. Jahrhunderts.

Elias und Scotson greifen einige der Aussagen der Etablierten über die Außenseiter jenseits des Bahndamms heraus: „Es sind Fremde.“ – „Verstehe kein Wort.“ – „Die Cockney-Kolonie“. Das letzte Zitat spielt an auf einen regionalen Londoner Dialekt. Etliche der in die Siedlung Zugezogenen waren Evakuierte aus London. Obwohl konkrete Anlässe nicht mehr vorhanden waren, hielten sich die Vorurteile noch Jahrzehnte nach ihrer Urzeugung. Klatsch trug zur Verstetigung bei.

Weitere Stimmen aus Zone 2, dem Viertel der angestammten, auf die älteren Rechte pochenden und auf der „richtigen“ Seite wohnenden Arbeiter. „Die meisten von uns sind Arbeiter, aber anständige Arbeiter, nicht wie in der Siedlung.“ – „Sie sind eben Flüchtlinge, alles Säufer.“ – „Möchte umziehen, bevor das Baby da ist, weil wir nicht wollen, dass es mit Kindern aufwächst, die so in der Gegend herumfluchen.“

Als die Siedlung der Zone 3 noch neu war, formierten sich Jugendbanden, aber die Lage konsolidierte sich schnell. Die Delinquenz normalisierte sich. Das Image gewalttätiger Jugendlicher blieb jedoch an der Siedlung insgesamt hängen. Das Bild der Außenseiter wird nach der „Minorität der Schlechtesten“ geformt, während das Selbstbild der Etablierten (Zone 1) nach der „Minorität der Besten“ gemodelt wird. Mittelstands-Tugenden werden idealisiert und abstrahiert, bis die Community glaubt, es gebe in ihrem Kreis nichts anderes mehr. Die Community wird zum „Wir hier“ zusammengeschweißt.

Die Bewohner aus Zone 3 neigen einerseits zu Selbststigmatisierungen. Sie übernehmen die Urteile, die ihnen von den Etablierten zugeschrieben werden. Ihr eigenes Viertel nennen sie „Rattengasse“. Andererseits haben sie den Drang, sich in ihrer Werteordnung an der jeweils höheren Schicht zu orientieren.

Die Stereotypenbildung dient auch der Abwehr. Die Etablierten, und unter ihnen mehr die Neureichen als die Alteingesessenen, haben Angst, durch die Neuankömmlinge ihren Status zu verlieren. Solange sie sich nicht sicher sind, halten sie sich die Neuen vom Leib, dem Bahndamm sei Dank. Paradox: Sie veranstalteten auch Sammlungen für die Ankömmlinge.

Heute würden wir es „Willkommenskultur“ nennen, und damals wie heute ebbt sie schnell ab. Was bleibt, sind Ressentiments, die von jener Angst herrühren. Diese Ambivalenz kennzeichnet die Einstellung zu Flüchtlingen. Die Angst schlägt in Hass um, wenn Flüchtlings-Unterkünfte von Zäunen umgeben in Randlagen errichtet werden, wo die Einheimischen sich auf Grund ihrer marginalisierten Existenz eh schon gedemütigt fühlen. Sie müssen sich zusätzlich verhöhnt vorkommen.

Einhegungen, Mietskasernen und Mosaikstädte

Die verwickelten sozialpsychologischen Strukturen, wie sie zwischen den Bevölkerungsgruppen Winston Parvas vorherrschen, sind auch ein Lehrstück für die Beziehungen von Flüchtlingsgruppen untereinander. Im Kreis der Verfolgten sind die Ukraine-Flüchtlinge privilegiert. Sie haben in Deutschland vergleichsweise geringere Restriktionen als zum Beispiel Syrer zu befürchten. Das registrieren diese genau. Und die meisten Deutschen verstehen nicht so genau, welchem Krieg die Syrer oder Nigerianer entronnen sind. Die Hautfarbe macht das Verständnis nicht einfacher. So entstehen als Ableitung von den hergebrachten Spannungen solche zwischen Migranten-Gruppen.

 

Die Wohnsituation von Migranten ist nach der Ankunft in der Regel von Zwang und Abschottung gekennzeichnet. Auf der entgegengesetzten Seite des gesellschaftlichen Spektrums begegnet dagegen Abschottung ohne Zwang, vielmehr freiwillig. Gated Communities sind ein Höhepunkt der Gentrifizierung, der In-Wert-Setzung heruntergekommener, noch bewohnter oder neuer, in spekulativer Absicht erschlossener Wohnstandorte. Gern sind sie eingezäunt, aber im Unterschied zu Flüchtlings-Unterkünften schirmen sie von der Außenwelt ab – und nicht umgekehrt. In beiden Fällen wird Security eingesetzt.

Es handelt sich um zwei Extreme der Segregation, der disproportionalen Verteilung der Wohnbevölkerung auf verschiedene Wohnstandorte. Ein Indiz zur Bemessung solcher residenziellen oder räumlichen Segregation ist die statistische Abweichung der fraglichen Gebiete von der Normalverteilung der Werte in der Wohnbevölkerung. Die Segregation variiert, je nachdem, welches Kriterium man anlegt: das Einkommensniveau, den Bildungsstand, ethnische und kulturell/religiöse Bestimmungsgründe oder die demographische Verteilung.

Armut ist ein Movens von Segregation, und Segregation befördert Armut. Diese Spirale wird von der Gentrifizierung angestoßen, was nicht wundert, wenn Rendite-Erwartungen der Hauseigentümer oder Spekulanten das Hauptmotiv hinter der Fassade der Gentrifizierung sind. Verdrängung der Bewohner und Entmischung der sozialen und infrastrukturellen Strukturen gehören zum Geschäftsmodell. Townhouses sind ein favorisierter Haustyp der Gentrifizierung, dem die Absonderung zu eigen ist. Man spricht hier von „innerer Suburbanisierung“, der Übernahme ländlicher und suburbaner Wohnungsbaurezepte für die Stadt. Mit Grüntupfern am Haus.

Die wachsende Spreizung zwischen arm und reich ist das wichtigste Korrelat zur Segregation. Bildlich könnte die Einkommensschichtung (Stratifikation) als vertikale Achse dargestellt werden, die aus der Ebene herausragt und wieder auf die Fläche der residenziellen Segregation bezogen werden kann.

Es kommt bei Beurteilungen ganz darauf an, auf welcher Ebene Segregation und Entmischung versus Diversität und Durchmischung definiert und behandelt werden. Neuerdings ist die Berliner Mietskaserne als historisches Beispiel einer gelungenen Durchmischung „wiederentdeckt“ worden. Schon James Hobrecht hatte das nachbarschaftliche Miteinander gerühmt. Vorne wurde gewohnt, hinten produziert.

Die Realität dürfte anders ausgesehen haben. Durch den Hauskomplex verliefen strenge Segregationslinien – um nicht „Demarkationslinien“ zu sagen. Im Vorderhaus befand sich im ersten Stock die „Beletage“, in den Stockwerken darüber niedrigerer Standard. Das setzte sich über Seitenflügel und Gartenhaus – eine euphemistische Bezeichnung – fort und ging in den nächsten Hof über.

Die Wohnungen wurden nach hinten immer kleiner, waren hoffnungslos überbelegt und rückten je nach Standard an die Werkstatt oder die Fabrikation heran mit all ihren Emissionen. Außenklo, halbe Treppe. Das Subproletariat kam auf dem Dachboden oder im Souterrain unter. Licht, Luft und Sonne waren die Kampfbegriffe der Moderne gegen diese Misere.

Zurück zum Vorderhaus. Für Dienstboten gab es eigene Aufgänge, damit die Herrschaft sich nicht gestört fühlte. Die Dienstmädchen schliefen, wenn es ganz schlimm kam, auf Hängeböden neben der Küche. Das waren über Leitern zu erreichende Verschläge.

Dennoch bieten diese Altbauwohnungen Chancen für eine Anpassung an heutige Bedürfnisse. So könnte das an sich nutzlos gewordene „Berliner Zimmer“ als Coworking space für mehrere herhalten, je nach Art und Zahl der Wohnungsnutzer. Und die Ladenwohnungen in den Erdgeschosszonen  haben das Potential, die Häuser kleinteilig mit einem öffentlichen, verkehrsberuhigten Straßenraum zu verbinden.

Die Mietshäuser stünden dem Modell einer „Mosaikstadt“ nicht im Wege, in der die verschiedenen Funktionen auf kleinem Raum konzentriert sind und die Dienstleistungen fußläufig zu erreichen sind. Die Verteilung der Funktionen sollte variabel sein, so dass die Mosaiken bei offener Entwicklung der Stadt auch Subkulturen ausbilden oder sich wie Zellen durch Teilung vermehren können. Jedes Mosaik wäre für sich durchmischt. Nachbarschaft bekäme emanzipatorischen Charakter. Hegemoniale Gesten in der Architektur dieser Stadt würden obsolet. Weg von Malls.

Das wäre zumindest ein Gegenentwurf zur funktionsgetrennten Stadt, wie sie von Le Corbusier in den 30er Jahren aufgebracht worden ist. Er schlug eine grobe räumliche Aufteilung vor. Die Gliederung der Stadt nach Wohnen, Arbeiten und Erholung stellt eine Segregation im großen Maßstab dar. Die Verkehrsadern, die zur Verbindung der Großräume notwendig wurden, trennen mehr, als dass sie verbinden. Die autogerechte Stadt mit ihren Abrissen vorhandener Bestände reicht bis in unsere Zeit.

Sozialäquator und Übergangszonen

Autobahnen sind Schneisen der Segregation. Einerseits tragen sie dazu bei, den Unterschied zwischen Stadt und Land zu verwischen, andrerseits schaffen sie neue Räume sozialer Segregation. Die Autobahn A 40 durchquert das Ruhrgebiet auf 95 km in Ost/West-Richtung. Sie ist der „Sozialäquator“. Sie trennt arm im Norden von reich im Süden. Im Norden geht von zehn Kindern eines aufs Gymnasium, im Süden gehen, Stand 2016, von zehn Kindern neun aufs Gymnasium. Wer im Norden gewohnt hatte und es sich leisten konnte, zog weg. Man nennt es „Abstimmung mit den Füßen“. Das zementierte für die „Zurückgebliebenen“ die Isolation.

Alle Indikatoren bis hin zum Stand der Zahnsanierung bei den Heranwachsenden lassen sich auf die soziale Spaltung entlang der Autobahn zurückführen, die sich als räumliche Segregation niederschlägt. Dabei war die Ausgangslage im Ruhrgebiet durchaus heterogen mit intakten Bergarbeitersiedlungen und ländlichen Einsprengseln. Die Segregation wirkt als der große Gleichmacher, der die Maßstäbe verändert und in der Ebene vollendet, was das Industrie-Sterben bewirkt hat. Teile und herrsche.

Die A 40 wurde mehrfach künstlerisch bespielt (Bernhard Wiens: Come on Eichbaum. Verkehrsdickicht, Oper, Park – eins folgt aus dem anderen in Mülheim/Ruhr, in: Stadt + Grün, November 2012, 61. Jahrgang, S. 32-38). Am bekanntesten war die Aktion „Still-Leben Ruhrschnellweg“ von 2010, bei der die Autobahn für Spaziergänger, Feiernde und Radfahrer reserviert war. Inzwischen ist ein Radschnellweg geplant.

Eine andere Art der residenziellen Segregation erleben Flüchtlinge. Sie werden an Orte verschlagen, die für sie Nicht-Orte oder „Zones in transition“ sind. Viele der ukrainischen Flüchtlinge wissen noch gar nicht, wo sie ankommen und ob sie bleiben werden. Sie müssen in einem Exil auf Zeit verharren. Etliche kehren bereits zurück, aber für andere wird sich der Vorsatz der Rückkehr als vorschnelle Illusion herausstellen.

Die Vermischung von Bewegung und Stillstand verdichtete Georg Simmel bereits 1908 zur Figur des Fremden: Er ist nicht der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt – „sozusagen der potentiell Wandernde, der obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“. Die Figur trifft auch auf die Stadt selbst zu. Sie ist ein Drittes aus Bewegung und Befestigung. Immer werden und niemals sein. Paul Virilio prägte das Wort vom „rasenden Stillstand“.

Der „Refugee District“ von Belgrad ist Anlaufstelle für Flüchtlinge, die auf der Balkanroute festgesetzt sind und auf eine Gelegenheit zur Weiterreise warten. Das Viertel in der Nähe des Busbahnhofs hat einen mehr oder minder informellen Status. Eine eigene Infrastruktur bildete sich heraus mit vielen Netzwerken und einer Schattenwirtschaft mit kleinen Geschäften.

Die Bewohner haben es bisher immer verstanden, Verdrängungsversuche zu unterlaufen, indem sie sich durch eine improvisierte Neuorganisation des „hubs“ unsichtbar machten. Sie gewöhnen sich an das von ihnen selbst geschaffene Provisorium, und die Gewöhnung wird zur Normalität.

Auch in anderen „Ankunftsstädten“ finden sich solche Übergangszonen in kaum von außen wahrgenommenen Enklaven. Sie bieten den Neuankömmlingen und flüchtig sich Niederlassenden Rückzugsmöglichkeiten und Schutz. Die Transiträume können ortsfest werden so wie „China towns“. Das Moment des Übergangs oder der Mobilität behalten sie bei. Manch einem der Bewohner oder Bewohnerinnen aus den folgenden Generationen gelingt die Statuspassage mit Perspektiven jenseits des Ghettos. Die Passage als Aufstieg.

Der Zirkel aus Gentrifizierung und Segregation wird aufs Neue angestoßen. Statt in Gated Communities, die Inseln der Sicherheit umzuziehen, wären die Einheimischen besser beraten, ihre eigenen Fremdheitserfahrungen auszuhalten. Stadt ist eine Polarität aus Fremdem und Eigenem, Ferne und Nähe, Nischen und öffentlichem Raum. Das Fremde im Eigenen anzuerkennen, ist der erste Schritt, um Segregationen abzubauen und soziale und ethnische Spannungen in den wechselseitigen Umgang mit Verschiedenheit aufzulösen.

Hinweise und Anregungen verdanke ich Sebastian Flatow und Norbert Rheinländer.

Ähnliche Beiträge:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert