Die Intellektuellen, die Gewalt und der Zerfall der Demokratie

Bild: JohannesW/Pixabay.com

 

Schon vor dem Ersten Weltkrieg breitete sich ein Unbehagen an der Zivilisation aus. Es brodelte. Das machten sich Autoren zunutze, um die „Masse“ auf die kommenden Kriege einzustimmen. Waren sie selbst von ihren Gewaltparolen überzeugt?

 

Sind Intellektuelle anfällig für totalitäre Ideen? Neigen sie zur Verherrlichung von Gewalt? Verzichten sie, vom Finger der Macht nur ein wenig angeschubst, auf die vornehmste Aufgabe des Geistes, die Kritik? Oder sind sie nur auffälliger, weil sie in ihrer jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase den Sozialismus für die Lösung aller Dinge gehalten hatten und nun die Kehre vollziehen? „Wer in seiner Jugend kein Marxist ist, hat kein Herz. Wer im Alter noch Marxist ist, hat keinen Verstand“, lautet das etwas maliziöse Sprichwort.

Eine Untersuchung, wie es zu solchen Mutationen kommen kann, sollte auf den moralischen Zeigefinger verzichten. Wer den „Umfallern“ den Bruch mit den linksliberalen Prinzipien, gar Treulosigkeit vorwirft, verkennt, dass die sozialen Eigenschaften des Intellektuellen auf Fremdheit gegenüber den Verhältnissen beruhen und nicht auf Loyalität. Wichtiger noch ist die Erkenntnis, dass es die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst sind, die „kippen“. Um sie von innen heraus zu kritisieren, wenn nicht zu sprengen, muss man mit ihnen kippen. Das kann aber auch Unterwerfung bedeuten. Die Entscheidung, was zu tun ist, liegt bei jedem Intellektuellen. Das macht die Dinge nicht einfacher.

Herausgegriffen aus dem Pool der konservativen Intellektuellen, die sich für die Teilhabe an der Macht entschieden, seien Gustave Le Bon, Georges Sorel, Robert Michels und Carl Schmitt. Die ersteren drei schrieben ihre Hauptwerke vor dem Ersten Weltkrieg. Das deutet auf die in Frage stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hin. Die Moderne löste damals ein weit verbreitetes Gefühl der Unruhe aus, das in den Krieg mündete und nach dem Krieg noch heftiger auftrat.

In den Zwanzigern wurden die intellektuellen Gegner von Demokratie und Liberalismus unter dem Begriff der „Konservativen Revolution“ oder des „Deutschen Sonderweges“ zusammengefasst. Die Namen sind zahlreich. Ergänzend seien nur Oswald Spengler und Ernst Jünger erwähnt. –

Nach 1945 waren die Beiträger zur Konservativen Revolution zunächst verpönt. Aber die Debatte, inwieweit ein Schriftsteller den Pfad der Tugend verlassen und mit rechten Ansichten kokettieren darf, wurde wieder angefacht durch den Auftritt neuer Figuren wie Botho Strauß und Michel Houellebecq.

Carl Schmitt. Bild: gemeinfrei

Carl Schmitt (1888-1985)

Schmitt war Staatsrechtler, Völkerrechtler und politischer Philosoph. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen im Sauerland auf. Kindheit und Jugend waren katholisch geprägt. Seine akademische Laufbahn führte ihn über Stationen wie Greifswald und Köln, bis er 1933 auf eine Professur an der Berliner Universität berufen wurde.

Schmitt stellte sein autoritäres Staatsverständnis in den Dienst des Nationalsozialismus. Er wurde als „Kronjurist des Dritten Reiches“ bezeichnet. Dass der Reichspräsident per Notverordnung (§ 48 der Weimarer Verfassung) die Möglichkeit zur Regierung im Ausnahmezustand erhält, begrüßte Schmitt ebenso wie das Ermächtigungsgesetz von 1933.

Der „Ausnahmezustand“ wurde für Schmitt zum Leitbegriff einer Legitimierung von Diktatur. Souveränität ist die Macht, über den Ausnahmezustand zu entscheiden. Den „Röhm-Putsch“, mittels dessen Hitler Konkurrenten liquidierte, beglaubigte Schmitt mit der Parole: „Der Führer schützt das Recht.“ Der Führer ist zugleich der oberste Gerichtsherr. Die Nürnberger Gesetze seien eine „Verfassung der Freiheit“. Nach 1945 versuchte Schmitt sich reinzuwaschen, indem er die „Innere Migration“, die unsagbare Bedrängnis der Dagebliebenen, für sich in Anspruch nahm. Er stilisierte sich in eine Opferrolle.

Wie kommt ein intelligenter Zögling, der aus untadeligen, religiös fundierten Verhältnissen stammt, dazu, ein totalitäres Herrschaftssystem derart durch seine Unterwerfung zu überbieten? Schmitt war selbst den Nazis nicht mehr geheuer. Er fiel 1936 in Ungnade.

Schmitts Kernaussagen: Der Ausnahmezustand ist ein Grenzfall der liberalen Demokratie, der zum Dauerzustand wird. Die Ausrufung des Notstandes, der Kampf gegen den designierten Feind, wird zur stetigen Grundlage des Regierens. Der Staat bleibt bei gestärkter Exekutive bestehen, während das Recht zurücktritt. Er wird zum absoluten Souverän, dessen Entscheidungen unabhängig von der Richtigkeit der politischen Inhalte gelten. Unrichtige Entscheidungen sind rechtswirksam. Der monopolistische Staat ist unfehlbar. Das scheint von der katholischen Kirche übernommen zu sein. Der Souverän kann keines Irrtums angeklagt werden.

Die bürgerliche Demokratie schlägt zwangsläufig in Diktatur um. Das kann und darf sein, befindet Schmitt. Dem Umschlag nachzuhelfen ist legitim, wie auch das Handeln des autokratischen Souveräns als solches legitim ist. Mit Legitimität lässt sich alles begründen. Die Legalordnung ist aufgehoben. Legalität bleibt nur insofern bestehen, als sie nach den Zwecken der Legitimität geformt wird.

Wer gegen diesen Souverän handelt, ist subversiv. Insofern hier Handlungsoptionen bestehen, taucht die Frage auf, ob der Mensch gut oder schlecht ist. Sie wird aber schnell durch Übertragung auf den Staat abgetan, der, da er stets richtig handelt, unhinterfragt gut ist. Die Bestimmung, wer Freund und wer Feind ist, obliegt dem Souverän. Er identifiziert den inneren und den äußeren Feind. Das Politische ist bei C. Schmitt ein Kampfbegriff.

Bedingungslose Zustimmung zur Macht

Auf der politischen wie der individuellen Ebene kann nur „entweder – oder“ entschieden werden. Diese binäre Logik heißt bei Schmitt „Dezisionismus“. Mehr am Rande wird klar, was sich dahinter verbirgt: die Unterwerfung unter die nächste und stärkste Macht. „Die Entscheidung verwandelt sich in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremder Entscheidung.“ Dieses stille Begleiten ist nicht mehr auf eine stringente Kausalität des Handelns angewiesen.

Schmitt mokiert sich über die bürgerliche Moral und über den Anspruch des formalen Rechts, das die Gleichbehandlung aller garantiere. Der Liberalismus predige Gewaltfreiheit bei zunehmender sozialer Segregation. Was altruistisch klinge, verbirgt die Zwecke einiger weniger. Ein demokratisches „Government by discussion“, worunter Schmitt so etwas wie parlamentarische Schwatzbude versteht, löst nicht die Klassenspaltung. Pathetisch schreibt er: Freund und Feind treten in das letzte Gefecht des Klassenkampfes ein.

In der Tat ist Schmitt in diesem Punkt nicht so weit von Marx und Engels entfernt, für welche die Analyse des (Tausch-)Werts zentral ist. Der Wert postuliert Tausch-Gerechtigkeit und vertuscht nur die Ausbeutung der Arbeiterklasse, diagnostizieren sie. Die Gründe der ausbeuterischen Verarmung durch Arbeit sind mit nationalökonomischen Mitteln nicht durchschaubar. M. Horkheiner / Th.W. Adorno schreiben: Der Liberalismus, dem immer schon eine Moral der ökonomischen Macht innewohnte, verbirgt soziale Disparitäten, statt Gerechtigkeit zu verbürgen. In Schmitts Worten: Der Liberalismus „schafft die Aristokratie des Blutes und der Familie ab und lässt doch die unverschämte Herrschaft der Geldaristokratie zu.“

Besonders reibt sich Schmitt an den bürgerlichen Menschenrechten. Wer Menschheit sagt, will betrügen. Schmitts Kritik hat Berührungspunkte mit Sigmund Freud. Jene auf ein abstraktes, idealistisches Menschentum begründeten Rechte haben nach Freud die Funktion, die zivilisierten Bürger vor ihren eigenen Aggressionen zu schützen. Die Hervorbringung und Deklaration von Menschenrechten lässt geradezu auf solche Aggressionen schließen. Streng genommen ist der Mensch sein eigener Feind.

Fazit: Die demokratische Verfassung ist durch die ihr immanente Gewalt vom Untergang bedroht. Schmitts Denken vollzieht einen offenen Umschlag der Demokratie in unmittelbare, politische Gewalt nach und verherrlicht ihn. Er versucht, an der Macht des neuen „Leviathan“ per bedingungsloser Zustimmung teilzuhaben. Aber nicht nur bei Carl Schmitt spielen sich innere Konflikte der Demokratie schon an der Oberfläche ab mit der aporetischen Frage: Soll die Demokratie ihre Feinde verbieten oder tolerieren? So oder so, sie wird zerrieben.

Die „frei schwebenden“ Intellektuellen, die auf jene Gewalt und den Freund/Feind-Dualismus gestoßen sind oder gestoßen werden, müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Carl Schmitt entschied sich für die Macht. Es war ein Pakt mit dem Teufel. Nach dieser Entscheidung brauchte die Macht ihn nicht mehr. Sofern seine monströse Argumentation seiner Karriere dienlich sein sollte, wäre Schmitt über die eigenen Füße gestolpert.

Robert Michels. Bild: Ssociólogos/CC BY-SA-3.0

 

Robert Michels (1876-1936)

Michels wurde in Köln in eine wohlhabende katholische Familie geboren. Vor dem Ersten Weltkrieg bekannte er sich zum Syndikalismus, einem radikalen Flügel der Sozialdemokratie, der das Mittel des Generalstreiks favorisierte, um nicht nur ökonomische, sondern auch politische Forderungen unmittelbar durchzusetzen. Diese Gruppierung störte sich an der Verbürgerlichung und Bürokratisierung der Partei.

Michels war Kosmopolit. Seine akademische Laufbahn führte ihn durch viele europäische Städte und immer wieder nach Italien, nach Turin und Rom, bis er 1928 eine Professur in Perugia erhielt und an der faschistischen Parteihochschule unterrichtete. 1922 war er der faschistischen Partei beigetreten (Wikipedia macht andere Angaben). Der Übertritt vom Syndikalismus zum Faschismus war nur folgerichtig, denn er liegt in der Sache selbst. Michels wurde ein außenpolitischer Berater Mussolinis.

 

Die Ablösung von seiner Familie und von bürgerlicher Respektabilität umschrieb Michels mit dem Bild des „bourgeoisen Renegaten“, der zum Sozialismus überläuft.

Michels ist ein brillanter Organisations- und Parteiensoziologie. Im Kern seines Werks, das nicht unberührt bleibt von seiner Biographie, steht das „eherne Gesetz der Oligarchie“.

Wer über die Masse herrschen will, muss dem demokratischen Prinzip folgen

Kernaussagen: Im „ehernen Gesetz“ stellt Michels das Postulat auf, dass jedwede demokratische Partei oder Bewegung einen immanenten Hang zur Oligarchie hat. Demokratie stellt sich als eine unter dem Deckmantel der Gleichheit auftretende demagogische Oligarchie heraus. Der ursprüngliche Zweck, die Herrschaft der vielen, kehrt sich um in die Herrschaft der wenigen über die Masse. Herrschaft wird zum Selbstzweck derer, die sich im Zentrum der Macht etabliert haben.

Ein historischer Kern der Oligarchie ist die aristokratische Herrschaft. Die Aristokratie hat (nur) scheinbar abgedankt. Um die Macht in neuem Gewand wieder zu erringen, muss sie sich als demokratisch oder plebiszitär gerieren. Kurz: Wer über die Masse herrschen will, muss dem demokratischen Prinzip folgen. Mit seinem Charisma bringt der Populist die Masse selbst dazu, ihn als Volkstribun herbeizuwünschen. Das gilt für alle Politiker, für demokratische wie für solche, die diktatorische Ambitionen haben. Sie steigen mit schauspielerischen Mitteln zur Masse hinab und verheißen ihr die Erfüllung ihrer Wünsche und Bedürfnisse: „Ich bin der Führer der Masse, deswegen muss ich ihr folgen.“

Die Strukturen der Massenführung in Diktatur und Demokratie gleichen sich. Der Unterschied zwischen einem diktatorischen und einem demokratischen Politiker besteht darin, dass der Demagoge die Demokratie auf demokratischem Weg beseitigen möchte, während der demokratische Politiker nicht verhindern kann, dass dies geschieht.

Michels schildert detailliert, wie im Lauf der Entwicklung einer (sozialdemokratischen) Partei die innerparteiliche Organisation auf die Entmündigung der Mitglieder zur Masse hinausläuft. Aus Wortführern werden Sachverständige und aus diesen Funktionäre, die sich durch „Kompetenz“ unersetzlich machen. Ihre Routine in der geschäftsmäßigen Leitung der Partei-Angelegenheiten wächst sich zu einer „technischen Spezialisierung“ aus. Sie finden Gefallen an der Macht und lassen sie – freiwillig – nicht mehr los.

Eine Chance zur Erneuerung besteht noch, und die betrifft die Eliten. Die Sozialdemokratie stellt eine neue Elite aus dem Schoß der Arbeiterklasse dar. Diese Elite wird den alten, angeschlagenen Eliten zwecks Auffrischung kooptiert. Durch die Fusion wird die neue soziale Bewegung von der Macht absorbiert. Die Macht überlebt. Soziologisch könnte von „struktureller Macht“ gesprochen werden. Eine ähnliche, wenngleich bekanntere Elitentheorie stellte Vilfredo Pareto mit der  „Zirkulation der Eliten“ auf. Den Elitenwechsel beschreibt George Orwell sinnfällig in „Animal Farm“.

Michels schreibt: Die Menschenrechte zerschellen an der ökonomischen Ungleichheit der Klassen. Er analysiert nicht nur Herrschaftstechniken von Manipulatoren, sondern konstatiert, dass die Demokratie sich von innen her zersetzt. Aristokratische Elemente, soziale Disparitäten, gehören zu ihrem Wesen und wirken auf die Oberfläche der scheinbaren Gleichbehandlung und Chancengleichheit aller zurück.

Der Zerfall der Demokratie ist zwangsläufig, und der Intellektuelle hat sich zu entscheiden, auf welche Seite er sich stellt. Michels stellte sich auf die Seite des Führerwillens, der die Konflikte gewaltsam löst, indem er sich identisch mit dem Volkswillen macht. Widerspruch wird ausgemerzt, da mit der Identität nicht verträglich. Michels verfällt ähnlich wie Schmitt dem Analysierten. W. Röhrich spricht von der „enthüllenden Apologie der Macht“ (Siehe Wilfried Röhrich: Robert Michels: Vom sozialistisch-syndikalistischen zum faschistischen Credo, Berlin 1972, S. 175). Erst enthüllt Michels die Macht, dann bekennt er sich zu ihr.

George Sorel. Bild: gemeinfrei

Georges Sorel (1847-1922)

Sorel stammt aus einer bürgerlichen Familie mit katholischem Hintergrund. Er stand als Ingenieur für Brücken- und Straßenbau im Staatsdienst, bis er 1882 seinen Abschied nahm, um sich in Wort und Tat dem Syndikalismus zu widmen. Dies war der geistige Überbau der französischen Gewerkschaftsbewegung.

Im Mittelpunkt steht der Generalstreik. Der Syndikalismus war jedoch in viele Gruppierungen verästelt. Der reformistische Flügel verließ sich auf den Staat, um soziale Verbesserungen für die Arbeiter zu erzielen, während der revolutionäre Syndikalismus, der dem Anarchismus nahestand, auf der Zerstörung des Staates die freie Assoziation der Produzenten mit gesellschaftlicher Verfügung über die Produktionsmittel aufbauen wollte.

Sorel vertrat den „revolutionären Syndikalismus“. In seinem Schlüsselwerk „Über die Gewalt“ von 1906/08 geht es nicht mehr um Karl Marx und dessen Wertgesetz als Quelle des Kapitals, sondern um die Gewalt als ökonomische Potenz. Sie ist die Triebkraft, welche die Massen mobilisiert und die Ziele im Prozess des Kampfes verändert. Durch die „Action directe“ wird die Tat zur Propaganda, die keinen anderen Sinn und Inhalt hat, als die Massen opferbereit zu machen.

Der Höhepunkt der syndikalistischen Debatten, in welche auch der Futurismus  als künstlerische Richtung einbezogen war, lag vor dem Ersten Weltkrieg. Aus ihm ging Sorel als Vordenker des Faschismus hervor. Mussolini, der selbst dem Syndikalismus angehangen hatte, schätzte Sorel und empfahl sein Buch.

Apologie der Gewalt

Sorels Kernaussagen: Wenn für Marx die Arbeitskraft die Substanz der Klassengesellschaft ist, setzt Sorel den Mythos an deren Stelle. Bilder verdichten sich zu Mythen, welche die Emotionen der empörten Massen bündeln und ein Feindbild modellieren. Die Mythen schmieden die Masse und rufen deren „edelste Gesinnungen“ hervor, die dem Kampf gegen die moderne Gesellschaft dienen. Der Generalstreik ist der Mythos, in welchem der revolutionäre Sozialismus bildhaft beschlossen ist. Die Bilder und Phantasmen verleihen den „Hoffnungen auf nahe bevorstehende Handlung“ reale Anschaulichkeit.

Sorel stellt Marx auf den Kopf. Die Wiederkehr Christi (Chiliasmus) spannt er in seine sozialistische Mythologie ein. Für ihn ist der Mythos nicht nur ein geistiger Vorlauf zur (sozialistischen) Endzeit, sondern er ist folgerichtig auch eine Ursprungsmacht. Psychologisch gesprochen liegt der Mythos vor der Reflexionsarbeit des rationalen Bewusstseins. Er wirkt im – kollektiven – Unbewussten.

Wenn von dieser Sphäre aus zur Revolte aufgerufen wird, ist das eine Mobilisierung, die nicht vom Volk, dafür aber vom Demagogen gesteuert werden kann. Durch eine Aktivierung des Mythos möchte Sorel die Massen von allen tathemmenden rationalen Erwägungen befreien. Der Agitator greift auf Bilderwerke zurück, um die Revolution gleisnerisch voranzutreiben.

Die Massen durchschauen den Mythos nicht. Der Mythen-Erzähler kann auf der terra incognita des Bewusstseins ohne weiteres mit Unwahrheiten jonglieren, wenn es ihm nützt. Es gibt kein Falsch oder Richtig mehr, sondern nur noch die Tat. Der Demagoge bestimmt, wer der Feind ist. Für die Masse wird dies zu einem Dezisionismus qua Unterwerfung. Sie kann sich nur noch für eine, für „die“ Sache entscheiden. Sorel hat ein Manipulationsmuster beschrieben, das sich bei Gustave Le Bon fand und bei R. Michels wiederfindet. Es ist das Grundmuster faschistischer Propaganda.

Der Generalstreik, der auch ein Umsturz oder Boykott sein kann, soll nach Sorel die sozialen Konflikte so weit zuspitzen, bis die Bürokratien zusammenbrechen und die staatlich vorgehaltene Idee der Gerechtigkeit geplatzt ist. Die Dynamik der spontanen Umsturz-Ereignisse macht strategische Planungen obsolet. Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts. Die Erhebung ist ein letztes Gefecht. Der Generalstreik ist ein Jüngstes Gericht.

„In den Streiks bekräftigt das Proletariat sein Dasein. (…) Der Streik ist eine Erscheinung des Krieges. Die soziale Revolution ist eine Erweiterung jenes Krieges.“ Durch seine quasi-religiöse Metaphorik und die Absolutierung der Gewalt hat sich Sorel vom Klassenkampf Marxscher Provenienz entfernt. An die Stelle tritt die Nation. Dort lässt sich der verherrlichte Krieg gut unterbringen. Die Realisierung des Kriegs der Nationen hat der Erste Weltkrieg gebracht. Die Feindbilder waren verfestigt. Und aus dem revolutionären Syndikalismus wurde der Nationalsozialismus. Die soziale Frage wird durch den Krieg erledigt.

Die Idee des Generalstreiks erleuchtet die Gewalt. Sorel: „Der Gewalt verdankt der Sozialismus die hohen moralischen Werte, durch die er der modernen Welt Heil bringt.“ Der Staat als Bewahrer bürgerlich-liberaler Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit zählt nicht mehr. Als Vermittler der sozialen Gegensätze hat er versagt und muss abgeschafft werden.

Die Gegensätze prallen nun spontan und unvermittelt, gewaltsam aufeinander. Eines kann unmittelbar und vollständig in das andere umschlagen. Der Sozialismus Sorels ist eine Apologie der Gewalt als solcher. Die rechte, will heißen: richtige und gute Gesinnung und die rechte Moral des Proletariats, die Sorel so oft hervorhebt, sind tauglich für jede Überschreibung. Sorel war nacheinander Konservativer, Sozialist, Revisionist, Syndikalist, Inspirator des Faschismus und Bewunderer Lenins.

Gustave LeBon. Bild: gemeinfrei

Gustave Le Bon (1841-1931)

Le Bon wuchs in der französischen Provinz auf und war zum Arzt ausgebildet. Seine universellen Studien in verschiedensten Disziplinen verdrängten jedoch seine Berufsausübung. Er entfaltete eine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit auf den Gebieten der Archäologie, der Anthropologie und Ethnologie, der Völker- und Rassenpsychologie, schrieb aber darüber hinaus etwa zur Photographie und Phrenologie. Seine häufigen Reisen, so nach Afrika und in den Orient, wertete er in Veröffentlichungen aus. Sein Hauptwerk, die „Psychologie der Massen“, erschien 1895.

Le Bon durchlebte unruhige Zeiten zwischen Revolution und Restauration. Die unvollendete Französische Revolution zog im 19. Jahrhundert sowohl Aufruhr als auch konterrevolutionären Terror nach sich. Neugierig verfolgte Le Bon die Massenbewegungen der Zeit, so die Pariser Kommune von 1871. Entgegen den Menschheitsidealen, die die Französische Revolution proklamiert hatte, lieferten sich die verfeindeten Parteien blutige Gemetzel. Die Vernunft blieb auf der Strecke. Den sich vielfach wiederholenden Rückfall in die Barbarei bezog Le Bon auf Ur-Konstanten in der Evolution der menschlichen Natur.

Dieser biologische Determinismus brachte ihn in die Nähe von Rassentheorien etwa eines Gobineau  Dennoch sind seine psychologischen Analysen der Masse bis heute trotz S. Freud und C.G. Jung nicht überboten. Sie unterfüttern u.a. die Werbepsychologie.

Kernaussagen: „Wer die Bilder beherrscht, beherrscht die Köpfe der Menschen.“ Das sagte Bill Gates, könnte es jedoch bei Le Bon abgeguckt haben. Die Masse denkt in Bildern. Die Macht der Bilder über die Massen macht sich der Demagoge zunutze, um die Macht über die Massen zu erringen. Ganz ohne Gewaltanwendung. Le Bon: „Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren.“

Die im Geiste der Massen hergestellten Bilder werden von dieser als Wirklichkeit angesehen, gleichartig von allen beteiligten Individuen. Das Wunderbare der Dinge macht auf die Massen Eindruck. Hier hakt der Demagoge ein. Die Masse wird angesichts des Führers zur Herde. Er braucht nicht groß zu manipulieren, denn das Volk sitzt bereits zur Genüge eigenen Chimären auf.

Obwohl die Individuen durch ihre verschiedenartigen Affekte, Emotionen und Phantasmagorien an der Entstehung der Bilder und Legenden beteiligt sind, werden ihnen diese Elemente entwunden und bekommen durch Homogenisierung und gegenseitige Anverwandlung eine ikonische Macht, die auf die Einzelnen zurückwirkt. Diese empfinden die Bilder als Bedrohung und als Erlösung zugleich. Sie sind ihnen merkwürdig vertraut, sind unheimlich.

Schwarm-Dummheit statt Schwarm-Intelligenz

Das Reservoir jener Bilder liegt im Unbewussten. Wieso aber bekommen die Bilder eine Kraft und Plastizität, die sich nicht von der Wirklichkeit unterscheiden lässt? Die unzusammenhängenden Inhalte des Unbewussten suchen sich am Bewusstsein und an der Vernunft vorbei einen neuen Zusammenhang. Sie drängen danach, gesellschaftsfähig zu werden, wenn sie sich nicht gar zu einer Gesellschaft eigener Art zusammenschließen. Sie nehmen eine von den Eigenschaften der Individuen unterschiedene Eigenschaft an, obwohl sie ein Produkt von deren Phantasie sind. Die Individuen glauben, sich im kollektiven Phantasieprodukt wiederzuerkennen. Aber ihr Produkt ist ihnen abgekauft.

In diesem Prozess schwindet die bewusste Persönlichkeit. Gemeinschaftsbildungen sind nicht mehr der verlängerte Arm der Individuen, sondern sie sind die unsichtbare Hand (Adam Smith), die die Geschicke der Einzelwesen lenkt. Die Menschen sind nicht mehr Herren ihrer selbst. Je mehr Gewicht die Masse bekommt, desto geringer wird die Rationalität des Denkens. Wer behauptet, logisch zu denken, sitzt Täuschungen auf. Le Bon legt also nahe, statt von Schwarm-Intelligenz von „Schwarm-Dummheit“ zu sprechen. Diese erfasst niedrige wie höhere Bildungsschichten gleichermaßen.

Die Verschmelzung multipler individueller Vorstellungen zu einem Gebilde eigener Art („sui generis“), das kraft der Rückwirkung auf die Individuen materielle und reale Qualitäten bekommt, als wäre es ein wirklicher Organismus, kennzeichnet den französischen Positivismus. Doch E. Durkheims „Gesellschaft“, die im Zuge ihrer Hervorbringung den Gesetzen der Vernunft folgt, degeneriert bei Le Bon zur Masse. Sie ist triebhaft, affektiv und folgt blinden Naturnotwendigkeiten.

 

Le Bon steht wie die anderen in dem Zwiespalt: Was sich bei ihm wie eine moralisch getriebene Kritik an gesellschaftlichen Zuständen anlässt, breitet er in der Hauptsache scharfsinnig und höchst objektiv aus, als wäre es eine Gebrauchsanleitung zur Beherrschung der Masse. Auch Le Bon verfällt dem Analysierten.

Schluss

„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Der des Marxismus mächtige Max Horkheimer spielt mit diesem Zitat auf die inneren Widersprüche des Kapitalismus an, aus dem der Faschismus hervorgehen kann, nicht muss. Für die besprochenen Theoretiker ist die Entwicklung zwangsläufig. Von der bestehenden Gesellschaft, die sich auf die Aufklärung und die Französische Revolution beruft, ist lediglich der Deckmantel der Demokratie abzuziehen, und schon bricht Gewalt aus. Damit wird nur ein naturnotwendiger Zersetzungsprozess unterstützt, der der Gesellschaft immanent ist.

Die Gewalt drückt sich in der Aktion aus, wozu die Massen erregt werden. Das ist umso leichter, als die Massen von sich aus unbewussten Affekten und Trieben folgen, die evolutionär programmiert sind. Sie sitzen eigenen Trugbildern auf, von denen sie beherrscht werden. Sie werden dadurch real beherrschbar. Die Demagogen knüpfen an die Phantasmagorien des Unbewussten an. Die Massen lassen sich als Ersatz für den misslungenen Klassenkampf den Krieg zwischen Nationen aufschwatzen. Ihre Emotionen werden mobilisiert. So geschehen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Danach wurde das Kompositum „Nationalsozialismus“ zum Leitbegriff.

Der Krieg kommt  ohne die Unterscheidung in Freund und Feind, gut und böse nicht aus. Das ist die Folge der Säkularisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts. Hoffnungen auf ein Jenseits, christliche Utopien wurden obsolet. Das Böse setzte sich in der Welt fest, ohne Versöhnungsaussichten. Auf welcher Seite das Gute und das Böse zu verorten sind, war eigentlich egal. Hauptsache anarchische Gewalt.

Aber als staatlicher Terror nützte die Gewalt doch sehr profan den Eliten, die bei wechselnder personeller Besetzung immer schon davon profitiert hatten. Das war die eigentliche Legitimierung der Herrschaft. Die konservativen Intellektuellen entschieden sich freiwillig für die stärkere Seite. Sie sind nicht aus der Zeit gefallen.

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Ein Kommentar

  1. Dank an Herrn Wiens, für diesen anregenden Text, der für mich vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen doch gewisse «Aha»-Erlebnisse auslöst.

    Die Frage nach den Mechanismen der Entwicklung des Faschismus aus dem Kapitalismus und den Möglichkeiten, dem vorzubeugen, sollte eigentlich Dauerprogramm kritischer intellektueller Anstrengung sein. Einen wichtigen Beitrag leisteten 1971 die linken Historiker und Faschismusforscher Kurt Gossweiler und Reinhard Opitz und wurden daraufhin fluchs von ihrem ebenfalls linken Historiker-Kollegen Reinhard Kühnl, Mitbegründer des BdWi, der «Nähe zu Verschwörungstheorien» bezichtigt.
    Gossweiler/Kühnl/Opitz (1972):
    Faschismus – Entstehung und Verhinderung:
    https://linksunten.archive.indymedia.org/system/files/data/2017/04/1866644481.pdf

    Horkheimers berühmtes Zitat vom der Beziehung Kapitalismus/Faschismus liest man gelegentlich, doch fehlt meist der Hinweis auf den auch heute noch sehr lesenswerten Text, dem er entstammt. Sehr interessant die Analyse der damaligen wirtschaftlichen Zusammenhänge:
    «Die Juden und Europa», in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 8, 1939-40, S. 115
    https://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Zeitschrift_fuer_Sozialforschung_8_1939-40.pdf

    Auch wenn manche der genannten Intellektuellen selber der Macht verfielen, so bieten ihre Analysen doch auch Material, die emanzipatorische, herrschaftskritische Perspektive weiterzuentwickeln: Robert Michels «Ehernes Gesetz der Oligarchie» hat beispielsweise eine Schule kritischer Verwaltungs- und Managementwissenschaft inspiriert, die zu einigen sehr spannenden Publikationen geführt hat, so zum Beispiel:

    Andrew Kakabadse, Nada Kakabadse (Editors):
    Global Elites – The Opaque Nature of Transnational Policy Determination
    https://link.springer.com/chapter/10.1057/9780230362406_1

    und

    Ian Richardson, Andrew Kakabadse, Nada Kakabadse
    Bilderberg People – Elite Power and Consensus in World Affairs
    https://www.kakabadse.com/books/bilderberg-people

    sowie:

    Lance deHaven-Smith:
    Conspiracy Theory in America
    https://utpress.utexas.edu/books/dehcon

    Leider im deutschsprachigen Raum bisher kaum zur Kenntnis genommen…

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