Die menschliche Komödie

 

Bild: Furfur/CC BY-SA-3.0

Verhält sich Geschichte wie das Sieb des Eratosthenes?

Karl Popper hat einmal die Unterscheidung zwischen Historizismus, also der Lehre von Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte und deren Vorhersehbarkeit,  und einer kritischen  Geschichtsschreibung aufgemacht, die Geschichte als ein Abfolge kontingenter Ereignisse betrachtet, die unmöglich vorhersagbar sind. Im folgenden Artikel sollen beide Standpunkte Berücksichtigung finden und zu einem neuen Standpunkt werden.

Primzahlen sind Zahlen, die per Definition nur durch 1 und sich selbst teilbar sind, wobei die 1 ausgenommen ist. Das Sieb des Eratosthenes ist die erste Methode zur Ermittlung von Primzahlen. Der altgriechische Mathematiker Eratosthenes überlegte sich dieses Verfahren, das mit simpelsten Mitteln funktioniert: Man ermittelt die erste Primzahl 2 und streicht alle Mehrfachen von 2, also 4, 6, 8 usw. von einer durchgehenden Zahlenliste von 1 bis 100. Dann geht man weiter zur 3, die offensichtlich eine Primzahl sein muss, weil sie noch nicht von der Zahlenliste gestrichen worden ist. Nun streicht man alle Vielfachen von 3, also 6, 9, 12 usw. Dieses einfache Verfahren lässt sich wiederholt anwenden, um alle Primzahlen in einem gewissen Zahlenraum zu ermitteln.

Was hat das nun mit Geschichte zu tun? Schon  Georg Wilhelm Friedrich Hegel bemerkte, dass Geschichte gewissen Gesetzen folgt, die er mit These, Antithese, Synthese schlagwortartig verknüpfte. Diese Geschichtsphilosophie, die eine Gesetzmäßigkeit und Vorhersagbarkeit von Geschichte postuliert, wird von ihren Kritikern seit Karl Poppers Abhandlung als Historizismus bezeichnet.

Ich werde nicht im Näheren darauf eingehen und mich nur einer Beobachtung Hegels zuwenden, die Karl Marx in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ wiedergab und um eine wichtige, eigene Bemerkung ergänzte: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Hegel erkannte, dass sich Tatsachen und Personen der Weltgeschichte wiederholen. Marx komplettierte, dass diese das erste Mal tragisch und das zweite Mal komisch sind. Warum  aber sollten sich Personen und Ereignisse nur zweimal wiederholen?

Ein Präzedenzfall wie Napoleon muss zwangsläufig n-fache Nachahmer finden und alle diese Nachahmer müssen ein komisches Schicksal erleiden. Marx schildert hier nur einen Spezialfall von Woody Allens Formel: Komödie = Tragödie + Zeit

Richtigerweise hätte Marx sagen müssen: Geschichte ereignet sich immer n-mal, aber sie ist nur zum ersten Mal eine Tragödie, danach nur noch Farce. Denn das Unerhörte, Niedagewesene ist  wesentlich für die Tragödie. Deswegen widmet sich auch ein ganzes Genre der Epik diesem Unerhörten: die Novelle. Weltgeschichtliche Ereignisse sind folglich notwendig primär und tragisch.

Geschichte verurteilt die Menschen zur Originalität, weil sie jede Wiederholung – diese schließt sämtliche Variationen desselben Themas ein –  der Lächerlichkeit preisgibt. Das bedeutet aber auch, dass das Tragische mit der Zeit seltener wird, weil der Mensch das nachahmende Tier ist. Die Geschichte bringt also in ihrem Verlauf deutlich mehr komische Ereignisse hervor, als tragisch-weltgeschichtliche Ereignisse, die qua Definition primär sind.

Meine Hypothese ist folgende: Die Verteilung geschichtlicher Ereignisse in der Zeit korreliert mit der Verteilung der Primzahlen in einem fixen Zahlenraum. Die Geschichte verfährt ähnlich dem Sieb des Eratosthenes, sodass man Vorhersagen über die Verteilung geschichtlicher Ereignisse machen kann.

Ich möchte den hiermit vorgeschlagenen Ansatz als einen Mittelweg zwischen Hegelschem Historizismus und Popperscher Geschichtsbetrachtung verstanden wissen. Er schließt Vorhersagbarkeit historischer Ereignisse nach Hegel zwar aus, aber er ist entgegen Poppers Geschichtsauffassung auch nicht rein arbiträr, da die Verteilung historischer Ereignisse nicht kontingent ist.

Der neue Ansatz stellt einen negativen Historizismus dar. Denn man kann mit seiner Hilfe Aussagen über die Wahrscheinlichkeit des radikal Neuen treffen in Bezug auf all das, was schon gewesen ist. Diese Wahrscheinlichkeit nimmt mit der Zeit ab und somit auch die Anzahl weltgeschichtlicher Ereignisse. Dieses neue Geschichtskonzept ist antiteleologisch in der Tradition Poppers, jedoch nicht arbiträt. Ziellos  bedeutet nicht notwendig kontingent. Popper differenzierte nicht sauber zwischen Antiteleologie und Kontingenz in der Geschichte.

Die richtige Antwort auf Popper lautet daher: Antiteleologie ja, Kontingenz nein. Denn alles, was noch passieren kann, ist unmittelbar bedingt durch alle Ereignisse, die bereits vollzogen sind. Genauso wie Primzahlen nicht auf einen Grenzwert zulaufen, aber dennoch ihr Wert durch alle vorangegangenen Primzahlen bestimmt wird. Primzahlen haben also kein Ziel, aber sie sind nicht zufällig. Mit dieser mathematischen Metapher möchte ich schließen.

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