Interessengeleitete Russland-Berichterstattung mit doppeltem Maßstab

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte beim Treffen mit dem russischen Außenminister Lawrow gestern, die Beziehungen zwischen Russland und der EU seien wegen des Nawalny-Falls auf einem Tiefpunkt. Bild: mid.ru

Wie eine einseitige Berichterstattung über Proteste in Russland, Frankreich oder Katalonien ein völlig verzerrtes Bild über die Vorgänge bietet und damit letztlich zur Propaganda mutiert

Nach dem vergangenen Wochenende und den erneuten Protesten gegen die Inhaftierung des schillerndsten Kreml-Kritiker Alexej Nawalny wurde man in deutschen Medien geradezu mit Meldungen, Reportagen und Interviews überschüttet. Die Tagesschau berichtete zum Beispiel:

„Die Innenstädte von Moskau und St. Petersburg abgeriegelt, bis zum Abend mehr als 5000 Festnahmen und ein teils brutales Vorgehen der russischen Polizei: Anscheinend mit aller Macht sollten die Proteste für die Freilassung von Kreml‑Kritiker Alexej Nawalny verhindert werden. Auch Dutzende Medienvertreter wurden festgenommen.“  

Auch im Deutschlandfunk wurde nach den Protesten ein Beitrag nach dem anderen abgespult. Das beginnt schon am vergangenen Samstag und zieht sich über das gesamte „Protestwochenende“ . Doch auch zum Wochenbeginn geht das weiter. Es finden sich am Montag schon drei Beiträge in den Informationen am Morgen.

Nawalny-Unterstützer: Wie weiter nach den Festnahmen in Russland?

Trotz aller Einschüchterungsversuche – Zehntausende bei Nawalny-Protesten.

Mehr als 5.000 Menschen in Russland festgenommen.

Dazu gesellt sich ein Interview mit dem lettischen Präsident Egils Levits, der meinte: „Es ist ein demokratisches Potenzial, das jetzt erwacht. Die Führungsfigur Nawalny ist ein Konsolidationspunkt für die demokratische Bewegung, der bisher fehlte, und wir sehen, dass auch die Forderungen nach Demokratie in Russland laut werden.“ Er ruft zur Unterstützung der Demokratiebewegung auf und bringt auch neue Sanktionen gegen Russland in die Debatte ein.

In den weiteren Nachrichtensendungen am Mittag, am Abend und in der Nacht geht das weiter. Abgestellt wird auch darauf, dass den Festgenommenen oft der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wird und dass in Schnellverfahren schon Geldstrafen verhängt worden seien. Der Berichterstatter erklärt: „Die staatlichen Medien geben wie immer ein geschöntes Bild von der Lage im Land. Das Fernsehen zeigte Plätze, auf denen nichts los war, und die russische Staatszeitung berichtete online über Polizisten, die am Rande der Proteste sogar noch Zeit hatten, einem liegengebliebenen Autofahrer beim Wechseln eines Reifens zu assistieren. Über die Gewalt, den Einsatz von Elektroschockern und den Motiven der Demonstranten, kein Wort.“

Allein die Massivität der Berichterstattung ist angesichts der Tatsache, dass in „mehr als 100 Städten“ etwa „100.000 Menschen“  für die Freilassung von Nawalny demonstriert haben sollen, reichlich überzogen. Sie macht deutlich, dass die Berichte von einem besonderen Interesse geleitet werden. Spätestens die Wortwahl in den Berichten zeigt, dass man sich mindestens stark der Grenze zur Propaganda nähert, zumal man vermisst, dass auch die andere Seite gehört wird.

Vergleich mit der Berichterstattung über Proteste in Frankreich

Dass die Grenze zur Propaganda sogar deutlich überschritten wird, wird vor allem darüber deutlich, wenn man diese Dauerberieslung mit Berichten über die Nawalny-Proteste mit den Berichten oder Nicht-Berichten zu Vorgängen vergleicht, die sich parallel zu denen in Russland in Frankreich am Samstag abgespielt haben. Der Deutschlandfunk berichtet mit einer knappen Nachricht:

„In Frankreich haben erneut zahlreiche Menschen gegen ein geplantes Gesetz demonstriert, mit dem die französische Regierung bestimmte Foto- oder Filmaufnahmen von Polizisten unter Strafe stellen will. An den Protesten in der Hauptstadt Paris und vielen anderen Städten nahmen auch Anhänger der Gelbwesten-Bewegung teil sowie Menschen, die die Corona-Maßnahmen kritisierten. Angesichts des schlechten Wetters und der Einschränkungen in der Pandemie war die Zahl der Teilnehmer deutlich niedriger als bei früheren Demonstrationen. Mit dem geplanten Sicherheitsgesetz will die französische Regierung Einsatzkräfte besser schützen. Kritiker erklären dagegen, mit einem Verbot von Foto- und Filmaufnahmen würden viele Vorfälle von Polizeigewalt nicht gesühnt.“

Kein ausführlicher Bericht in den Informationen am Abend dieses Tages, keiner am nächsten Morgen. Sogar die Berichte über die Vorgänge in Hongkong und das Sicherheitsgesetz dort nahmen mehr Raum ein. Die Tagesschau berichtete, dass in „Paris, Montpellier und anderen Städten Frankreichs erneut Zehntausende gegen ein geplantes Gesetz zum Schutz von Polizisten auf die Straße gegangen sind“. Übernommen wird darin praktisch die Darstellung des Innenministeriums, das von gut 5000 Teilnehmern in Paris und von „Rangeleien zwischen Sicherheitskräften und Teilnehmern“ spricht. Am Rande wird vermerkt, dass auch „Wasserwerfer zum Einsatz“ kamen und laut Staatsanwaltschaft 26 Menschen festgenommen worden seien. „Landesweit beteiligten sich laut Innenministerium knapp 33.000 Demonstranten an den Kundgebungen“, wird verkündet.

Der Spiegel berichtet ganz ähnlich einseitig. Dass es auch Polizeigewalt gab, wird dem Leser wie im Deutschlandfunk völlig vorenthalten. Dabei haben sich die Demonstrationen klar gegen die massive Polizeibrutalität der letzten Zeit gerichtet, die nun wahrlich kein Geheimnis mehr ist.

Man muss sich also im Ausland informieren, um mitzubekommen, dass Demonstrationen auch mit Tränengas aufgelöst wurden und tatsächlich 75 Menschen festgenommen wurden.  Hier erfährt man dann auch, wie in Frankreich selbst, dass sich nach Angaben der Veranstalter landesweit nicht 33.000, sondern insgesamt etwa 200.000 Menschen an Demonstrationen in mehr als 60 Städten gegen das geplante „Sicherheitsgesetz“ beteiligt haben sollen. So weisen Medien auch auf die widrigen Umstände wie die Covid-Ausgangssperre ab 18 Uhr hin und dass die Menschen auch „Kälte, Schnee und Regen“ getrotzt haben.

Und dass es erneut Bilder von prügelnden Polizisten gab, auch darüber haben große französische Medien berichtet und Filme veröffentlicht. Die wurden von deutschen Medien und ihren Frankreich-Korrespondenten aber ganz offensichtlich übersehen. Um im Jargon des Deutschlandfunks zu Nawalny-Protesten zu bleiben: Sind das also Berichte in Deutschland von „staatlichen Medien“, die „wie immer ein geschöntes Bild von der Lage im Land“ zeigen, wo man „über die Gewalt“ kein Wort erfährt?

Sind es nicht genau die Bilder, die Frankreich mit dem Sicherheitsgesetz unter anderem verbannen will, die in Deutschland im vorauseilenden Gehorsam nicht gezeigt und nicht erwähnt werden? Dass in Frankreich am vergangenen Samstag auch wieder einmal Journalisten geprügelt wurden, erfährt man ebenfalls nur aus einer kleinen linken Zeitung in Deutschland. Dass hier mit doppeltem Maßstab gearbeitet wird, vergleicht man die Berichte zu Russland und Frankreich, drängt sich auf. Es ist klar, dass dahinter entsprechende Interessen stehen.

Nawalny wird politisch verfolgt, aber was ist mit Assange?

Zudem sollte daran erinnert werden, dass Nawalny zum Zeitpunkt der Proteste am vergangenen Wochenende gerade einmal zu einer Haftstrafe von 30 Tagen wegen eines Verstoßes gegen Meldeauflagen verurteilt worden war. Natürlich haben die Menschen das Recht, dagegen zu demonstrieren. Und natürlich ist das Vorgehen gegen ihn und seine Anhänger in Russland aus demokratischer Sicht mehr als zweifelhaft. Und man darf auch die Frage stellen, ob es etwas mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat, ihn einzusperren und zahllose Menschen in Russland festzunehmen, die gegen seine absurde Inhaftierung protestieren.

Ohnehin soll der Kreml-Kritiker nur gegen Meldeauflagen verstoßen haben, da er sich nach seiner Nowitschok-Vergiftung in Deutschland aufgehalten hat. Absurd ist das schon deshalb, da er auch mit Genehmigung der russischen Behörden zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen wurde. Dass eine Bewährungsstrafe gegen ihn im Laufe der Woche nun in eine Haftstrafe umgewandelt wurde, er nun noch zwei Jahre und acht Monate absitzen soll, macht dann aber definitiv deutlich, dass es sich um ein politisches Urteil und Vorgehen handelt.  Das spricht auch für die Einschätzung Nawalnys, dass es sich um eine politische Inszenierung handelt, die ihn zum Schweigen bringen soll.

Man könnte nun sagen, dass deshalb die massive Berichterstattung zu dem Vorgang gerechtfertigt ist. Doch warum herrscht in deutschen Medien dann ein beredtes Schweigen zu ganz ähnlichen Vorgängen? Warum herrscht weitgehend Schweigen im Walde angesichts des Vorgehens gegen einen Journalisten-Kollegen, der wie Julian Assange nichts anderes getan hat, als Kriegsverbrechen aufzudecken?  Wieso berichtet man nicht dauerhaft empört im Stil der Nawalny-Berichterstattung darüber, dass dieser Mann seit Jahren einer massiven psychologischen Folter unterzogen wird, die seine Person zerstören soll?

Wann hat Bundeskanzlerin Merkel gefordert, die katalanischen politischen Gefangenen freizulassen?

Es ist sogar richtig, dass auch Bundeskanzlerin Angela Merkel vehement die Freilassung des Kreml-Kritikers fordert und das Urteil fernab jeder Rechtsstaatlichkeit einordnet. Doch auch hier wird über die Doppelstandards im Vorgehen deutlich, die deutlich machen, dass es bei der Einschätzung weniger um Rechtsstaat und Demokratie geht, sondern es eher von geostrategischen Interessen im Hintergrund geleitet ist.

Oder haben wir jemals von Bundeskanzlerin die Forderung gehört, die katalanischen politischen Gefangenen freizulassen? Das fordert auch die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen immer wieder von Spanien.  Merkel könnte sich bei entsprechenden Forderungen sogar auf das Urteil eines deutschen Gerichtes stützen. Das Oberlandesgericht in Schleswig konnte weder Rebellion noch Aufruhr erkennen und lehnte deshalb die Auslieferung des Exilpräsidenten Carles Puigdemont für diese Vorwürfe ab. Spanien hatte keine Beweise geliefert, verurteilte aber neun katalanische Aktivisten und Politiker zu bis zu 13 Jahren Haft für einen angeblichen Aufruhr, weil sie Wahlurnen aufgestellt haben, um die Bevölkerung in einem Referendum abstimmen zu lassen.

Die Bundeskanzlerin könnte sich sogar auf das höchste Gericht der Europäischen Gemeinschaft beziehen. Denn der EuGH in Luxemburg hat eindeutig geurteilt, dass der Chef der Republikanischen Linken Kataloniens Immunität genießt. Er müsste also im Europaparlament sitzen und nicht im Gefängnis. Er hätte wegen seiner Immunität auch nie verurteilt werden dürfen. Alle anderen Gerichte in allen anderen Ländern, die sich mit katalanischen Exilanten beschäftigen mussten, haben Spanien die absurden Anschuldigungen nicht abgekauft, mit denen mitten in der EU politische Widersacher kaltgestellt werden.

Belgien ging kürzlich besonders weit und lehnte die Auslieferung eines Katalanen ab, da er vermutlich in Spanien keinen fairen Prozess erhalten würde. Das Urteil ist rechtskräftig und darin machen die Richter in der Begründung eindeutig klar, dass es auch keine „Korruption“ oder „Veruntreuung“ von Steuergeldern sein kann, Geld zur „Durchführung eines Referendums“ zu benutzen, da „die gesamte Bevölkerung, Befürworter und Gegner“ daran hätten teilnehmen können. Sie setzten der Entscheidung mit dem Hinweis die Krone auf, dass die „Durchführung eines Referendums auch nach dem spanischen Recht nicht strafbar ist“.

Davon erfährt man weder in der Tagesschau, noch im Deutschlandfunk oder im Spiegel etwas. Auch von Massenprotesten in Katalonien hört man zumeist nichts. Dabei ist die Demokratiebewegung dort im Verhältnis zu Russland ungleich größer und stärker und schon seit 11 Jahren massiv auf der Straße.  Was bedeutet es, wenn in Katalonien, das nur über 7,5 Millionen Einwohner verfügt, immer wieder mehr als eine Million Menschen für Freiheit und Demokratie und gegen die spanische Repression auf die Straße gehen? Russland hat 150 Millionen Einwohner, es müssten dort also mehr als 20 Millionen Menschen demonstrieren, um eine ähnliche Bedeutung zu haben. Es waren am Wochenende aber nach unbelegten Angaben nur 100.000.

Borrell, der Meister der Doppelstandards, in Moskau

Die Krone in all dieser Heuchelei setzt aber der ehemalige spanische Außenminister Josep Borrell auf, der inzwischen sogar der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik ist. Borrell, für den Russland ein „alter Feind“ ist, legte ohne Beweise ohnehin schon nahe, dass der Kreml hinter dem Anschlag auf Nawalny stand. Borrell, der sich gerade in Russland aufhält, wird wegen seiner Haltung zu Russland nicht von Präsident Wladimir Putin Borrell empfangen. Das kündigte der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow an.

Natürlich fordert auch Borrell lautstark die Freiheit von Nawalny. Als er die Forderung in Moskau wiederholt hat, war es kaum ein Wunder, dass Russland ihm den Spiegel vorgehalten hat.  Sergei Lawrow erklärte, dass in Spanien Katalanen inhaftiert sind, weil sie ein Referendum organisiert haben. Die spanische Justiz habe die Urteile trotz anderer Urteile aus Deutschland oder Belgien nicht revidiert. „Spanien habe dagegen sein Justizsystem verteidigt und gefordert, die eigenen Urteile nicht anzuzweifeln. Das ist es, was wir vom Westen in Bezug auf Gegenseitigkeit erwarten“, fügte Lawrow an.

Borrell, der Meister der Doppelstandards, wurde vorgeführt. Er war und ist maßgeblich an der Repression in Katalonien beteiligt und wahrlich nicht geeignet, Lektionen in Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu erteilen. Die Forderungen nach Freilassung der politischen Gefangenen, überhört der Mann stets für das eigene Land geflissentlich, der auch mit Nazis, Franquisten und Ultrarechten gegen die katalanische Demokratiebewegung demonstriert. Borrell sprach sogar ganz in deren Stil davon, Katalonien „desinfizieren“ zu wollen.

Dass man es bei diesem EU-Außenbeauftragten eher mit einem politischen Hooligan zu tun hat, wurde einst von Tim Sebastian in „Conflict Zone“ der Deutschen Welle mehr als deutlich gezeigt.  Mit seinen Aussagen und den undemokratischen Vorgängen in Katalonien konfrontiert, die er in Russland scharf kritisiert, wird er so ungehalten, dass er das Interview abbricht. Dass dieser Mann kaum zu einer Besserung der Beziehungen zu Russland beitragen kann, liegt auf der Hand. Vermutlich ist das aber auch nicht gewollt.

Anmerkung der Redaktion: Das russische Außenministerium hat Borrell ein Video übergeben, „wie illegale Aktionen im Westen unterdrückt werden und wie unsere Polizei auf die Exzesse der Protestierenden reagiert hat“.  Man wolle ein „objektives Bild“ zeigen, das natürlich auch wieder einseitig ist. Aber man sollte es sich mal anschauen:

 

https://twitter.com/i/status/1356674233464729609

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