Pandemie der Kurzsichtigkeit

Bild: ooscario/Pixabay.com

In China wird vermutet, dass die Corona-Beschränkungen die Kurzsichtigkeit bei Schülern verstärkt haben könnte. Aber ist die überall sich ausbreitende Kurzsichtigkeit nicht auch Symptom der digitalen Kultur?

 

In Deutschland sind bislang etwa 35 Prozent der Kinder und Jugendlichen kurzsichtig und benötigen eine Brille. Bei Studenten sollen es schon 50 Prozent sein. Tendenz steigend. Das Risiko, kurzsichtig zu werden, ist genetisch bedingt, aber es fällt auf, dass die Zahl der Kurzsichtigen ansteigt, was damit zu tun haben könnte, wie Studien herausgefunden haben, dass Kinder und Jugendliche weniger Zeit und mit Bewegung draußen und immer mehr mit Nahsehaktivitäten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Beschäftigungen vor den Bildschirmen oder auch nur dem Aufenthalt in Innenräumen zubringen. Möglich wäre auch, dass zu Faktoren das Leben in verdichteten Stadträumen gehört, zu wenig (Tages)Licht scheint auch eine Rolle zu spielen. Je nach Perspektive geht es um eine Verkümmerung des normalen Sehens oder um eine Anpassung an die veränderte Lebenswelt.

Als Krankheit gesehen hat Kurzsichtigkeit die Ausmaße einer Pandemie erreicht. Es dehnt sich der Augapfel, der Brennpunkt der Lichtstrahlen liegt nicht mehr auf der Netzhaut, sondern davor. Man sieht in der Nähe scharf, die weitere Umgebung wird nur noch unscharf wahrgenommen, sie verschleiert sich wie durch einen Weichzeichner, der die Schärfe entfernt und die Umgebung angenehmer wirken lässt. Ist das erwünscht? Als Anpassung betrachtet, spielt die räumliche Ferne für den Alltag sowieso eine geringere Rolle, was wichtig ist, vollzieht sich vor unseren Augen, schließlich wird auf den Bildschirmen auch der Blick in die Welt geleistet, die dadurch nahe rückt.

Noch stärker als in den westlichen Ländern ist Kurzsichtigkeit in manchen asiatischen Länder verbreitet, vor allem in Singapur, Südkorea und China. Schon 2010 waren 96,5 Prozent der 19-Jährigen in Seoul kurzsichtig, in Shanghai waren es nach einer 2012 erschienenen Studie 95,5 Prozent der Universitätsstudenten. Auch in kleineren Städten sind wie in Fenguah nach einer 2018 veröffentlichten Studie 87.7 Prozent der Highschool-Schüler kurzsichtig. Gerade gab die Nationale Gesundheitskommission (NHC) neue Zahlen bekannt: Danach waren 2020 nach einer landesweiten Umfrage, die fast 2,5 Millionen Schüler umfasste, bereits 52,7 Prozent der Vorschulkinder und jungen Schulkinder kurzsichtig. Das sind 2,5 Prozentpunkt mehr als 2019, aber 0,9 weniger als 2018.

Trotzdem heißt es von der NHC, dass die Zunahme der Kurzsichtigkeit von 2019 auf 2020 eine Folge der Corona-Pandemie, vielmehr der Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung sein könnte. Es könne nämlich sein, dass die mangelnde Bewegung die Kurzsichtigkeitsrate erhöht habe. Das wäre allerdings dann eine schnelle Anpassung an die zeitweise verhängten Ausgangssperren. Ein Mitarbeiter des NHC erklärte vorsichtig, dass die wegen der Pandemie eingeschränkte Zeit für Aktivitäten im Freien und zur Erholung der Augen „Probleme für die Prävention und Kontrolle der Kurzsichtigkeit mit sich brachte“. Kinder, die sich Covid-19-Maßnahmen unterziehen mussten, hätten sich einfach mehr in Innenräumen aufgehalten.

In China gibt es seit einiger Zeit Präventionsbemühungen, um die Verbreitung der Kurzsichtigkeit einzudämmen. Kinder auch unter sechs Jahren müssen Augentests machen. Erfasst wurden über 90 Prozent der Kinder. Überdies wird Kindern und Schülern geraten, Arbeiten in großer Nähe zu reduzieren, mehr Zeit im Freien zu  erbringen und ihre Augen in den Sommerferien überprüfen zu lassen. Das scheint aber wenig zu fruchten, da müssten nicht nur Lehrpläne und Leistungsdruck, sondern auch der Alltag verändert und der Zugang zu digitalen Medien allgemein beschränkt werden. Nur den Zugang zu bestimmten Spielen für Jugendliche unter 18 Jahren von 22 bis 8 Uhr morgens zu sperren und dafür zu sorgen, dass sie täglich höchstens 90 Minuten und am Wochenende 180 Minuten spielen dürfen, reicht da nicht aus. In China müssen Spieleanbieter die Nutzer identifizieren, das Alter feststellen und die Spielzeit auch der Erwachsenen registrieren.

Wie die NHC-Studie zeigt, verbreitet sich Kurzsichtigkeit rasant mit dem Alter. 14,3 Prozent der Sechsjährigen sind kurzsichtig, aber schon 35 Prozent der Kinder in Primärschulen und 80 Prozent der älteren Jugendlichen in Sekundärschulen. Je Schulklasse wächst die Kurzsichtigkeitsrate um 9,3 Prozent an. Hier die Covid-19-Maßnahmen ins Spiel zu bringen, scheint eher eine Verlegenheit zu sein, den Zuwachs nicht so bremsen zu können wie Covid-19. Ob die vor Bildschirmen verbrachte Zeit Kurzsichtigkeit wirklich verstärkt, ist nicht belegt, wenn auch wahrscheinlich, weil dies zusammengeht mit wenig Bewegung und Aufenthalt in Innenräumen. Denn der Zusammenhang zwischen geringerer Kurzsichtigkeit und längerem Aufenthalt im Freien ist besser nachgewiesen.

Interessanter wäre darüber hinaus, ob es einen Zusammenhang der Pandemie der Kurzsichtigkeit mit den digitalen Medien und der mit diesen verbundenen oder einhergehenden Existenz der Menschen in der Welt gibt. Man könnte die Hypothese aufstellen, dass sich die Menschen, schon beginnend in der Kindheit trotz aller Informationen und Reisen in Blasen einschließen und die Ferne, auch die zeitliche, nur noch verschwommen ertragen. Sie schweben gewissermaßen im Nahen und in der Jetztzeit, wo immer sie auch sind, und verdrängen, was in der Ferne geschieht oder was sich in Zukunft einstellen wird. Mit Kurzsichtigkeit erträgt man die Welt, weitsichtig würde man revoltieren oder das Leben etwa im Hinblick auf Klimaerwärmung, Umweltzerstörung, Artensterben und hemmungslosen Kapitalismus, der die Schere zwischen arm und reich bei gleichzeitiger Vernichtung der Ressourcen immer größer macht, verändern. Da hilft dann auch vielleicht das Tragen einer Brille zur künstlichen Scharfsicht nicht. Aber, zugegeben, das ist weit hergeholt.

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