Sachbücher des Monats: Februar 2021

 

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung. Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt und dem ORF-Radio Österreich


1. Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung

 

Buchcover: Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen
Verlag Matthes & Seitz. 278 Seiten. 25,00 €

Heike Behrends Autobiografie der ethnografischen Forschung erzählt keine heroische Erfolgsgeschichte, sondern berichtet von dem, was in den herkömmlichen Ethnografien meist ausgeschlossen wird – die unheroischen Verstrickungen und die kulturellen Missverständnisse, die Konflikte, Fehlleistungen sowie Situationen des Scheiterns in der Fremde. So lädt dieses Buch zu einem Blick auf die Ethnologie als Poetik sozialer Beziehungen ein. Mit dem Bericht über vier ethnografische Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren reflektiert Heike Behrend auch die Fachgeschichte der Ethnologie und die Veränderungen des Machtgefüges zwischen den Forschenden und den Erforschten, die sie am eigenen Leib erfährt.


2. Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen

 

Buchcover: Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen
C.H. Beck Verlag. 334 Seiten. 18,00 €

Bei Intellektuellen steht der Begriff der Nation unter Generalverdacht. Doch wer sagt denn, dass Nation automatisch ethnische Homogenität und eine „Volksgemeinschaft“ bedeutet, die andere ausschließt? Das ist die Sicht von Rechtsextremen, die den aufgegebenen Nationsbegriff inzwischen für sich erobert haben. Die Tabuisierung der Nation hat in Deutschland zu einem Mangel an Aufklärung und Diskussion über Sinn und Rolle der Nation geführt. Aleida Assmann möchte zu einer solchen Debatte anregen: Sie plädiert für die Wiedererfindung einer Form von Nation, die sich als demokratisch, zivil und divers versteht und sich solidarisch auf die gewaltigen Zukunftsaufgaben einstellen kann.


3. Adrian Daub: Was das Valley Denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche

 

Buchcover: Adrian Daub: Was das Valley Denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche
Übersetzt von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag. 159 Seiten. 16,00 €

Unternehmen wie Google oder Uber geht es darum, mit der Erfahrung zu brechen und bestehende Geschäftsmodelle aufzumischen. Das Konzept „Disruption“ gehört zu jenen Motiven, die in Aktionärsprospekten, aber auch in Porträts über Elon Musk, Mark Zuckerberg & Co. häufig bemüht werden. In seinem Essay verfolgt Adrian Daub die Lieblingsideen des Silicon Valley zu Autoren wie Marshall McLuhan, Joseph Schumpeter und Ayn Rand zurück und zeigt, dass dabei stets auch die Gegenkultur der sechziger Jahre mitschwingt.


4. Norbert Bolz: Die Avantgarde der Angst

 

Buchcover: Norbert Bolz: Die Avantgarde der Angst
Verlag Matthes & Seitz (Fröhliche Wissenschaft). 191 Seiten. 14,00 €

Die Sorge um die Umwelt, die Panik vor der Klimakatastrophe und die Mobilisierung dagegen sind zum neuen deutschen Common Sense des 21. Jahrhunderts geworden. Doch dort, wo Einschätzungen und angemessene Reaktionsweisen überhaupt nicht mehr zur Diskussion stehen, verlässt das politische Handeln bald seine rationale Basis und schielt auf emotionale Erregungszustände, die in der entzauberten Welt sonst kaum mehr zu haben sind. Norbert Bolz analysiert das Umschlagen des ökologischen Problembewusstseins in eine kollektive Angstreligion, die die Furcht vor dem Herrn durch die Furcht vor dem Menschen und seinem Handeln ersetzt hat. Die daraus entstehende Protestbewegung unserer Tage ist nicht nur von einer fatalen Risiko und Technikfeindschaft geprägt, sie zelebriert auch einen längst vergessen geglaubten Kultus kindlicher Überlegenheit in Bezug auf Wahrheit und Moral. Vor diesem Hintergrund stellt sich einmal mehr die Frage: Wird „German Angst“ zum Exportschlager oder lernen wir vom Rest der Welt Gelassenheit.


5. Bettina Stangneth: Sexkultur

 

Buchcover: Bettina Stangneth: Sexkultur
Rowohlt Verlag. 288 Seiten. 22,00 €

Sex ist großartig. Jedenfalls theoretisch. Wenn aber von der Praxis die Rede ist, dann bleibt es meist dunkel. Misstände und Unglück, Missbrauch und Unzufriedenheit – aller Aufklärung zum Trotz scheint Sex im 21. Jahrhundert nur noch eines zu sein: ein Problem. Passt die menschliche Triebnatur einfach nicht mehr in unsere schöne neue Welt?


6. Tobias Roth: Welt der Renaissance

 

Buchcover: Tobias Roth: Welt der Renaissance
Verlag Galiani-Berlin. 640 Seiten. 89,00 €

Nichts war undenkbar, alles erlaubt, alles wurde ausprobiert – die italienische Renaissance steht am Beginn des modernen Europa. Durch diese Kulturrevolution entstanden neue Haltungen zur Welt und zur Menschheit, die die westliche Kultur bis heute entscheidend prägen. Tobias Roth, enwirft ein Epochenbild, das die Fülle, Vitalität, Widersprüchlichkeit und Innovationskraft dieser Zeit zeigt: Jahrhunderte des freien Denkens und des Aufbruchs, in denen Kunst und Kultur blühen und gedeihen wie nie zuvor und nie wieder danach.


7. Ute Frevert: Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte seit 1900

 

Buchcover: Ute Frevert: Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte seit 1900
Fischer Verlag. 496 Seiten. 28,00 €

Gefühle machen Geschichte. Sie prägen und steuern nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesellschaften. Politiker nutzen sie, können aber auch darüber stolpern. Ute Frevert erzählt von machtvollen Gefühlen und was sie bewirkten: im Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem NS-Staat, der DDR und der alten und neuen Bundesrepublik. Sie stellt Liebe und Hass, Scham und Stolz, Empörung und Trauer in ihren wechselnden Ausprägungen und Bedeutungen vor. So war Hass ein Motor des Nationalsozialismus, doch in einer Demokratie ist er fehl am Platz. Mit der Liebe verbanden Menschen um 1900 andere Sehnsüchte als heute. Ute Frevert zeigt, warum sich Deutsche 1914 für den Krieg begeisterten und 2006 auf die Fußballnationalmannschaft stolz waren.


8. Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte 1347 – 1353

 

Buchcover: Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte 1347 – 1353
C.H. Beck Verlag. 256 Seiten. € 24,00€

Heike Behrends Autobiografie der ethnografischen Forschung erzählt keine heroische Erfolgsgeschichte, sondern berichtet von dem, was in den herkömmlichen Ethnografien meist ausgeschlossen wird – die unheroischen Verstrickungen und die kulturellen Missverständnisse, die Konflikte, Fehlleistungen sowie Situationen des Scheiterns in der Fremde. So lädt dieses Buch zu einem Blick auf die Ethnologie als Poetik sozialer Beziehungen ein. Mit dem Bericht über vier ethnografische Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren reflektiert Heike Behrend auch die Fachgeschichte der Ethnologie und die Veränderungen des Machtgefüges zwischen den Forschenden und den Erforschten, die sie am eigenen Leib erfährt.


9. Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart

 

Buchcover: Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart
Propyläen Verlag. 656 Seiten. 28,00 €

Grenzen begleiten die Menschheit von ihrem Anbeginn. In frühesten Kulturen gab es Stammesgrenzen, die zugleich die Jagdgründe markierten. Frühe Hochkulturen kannten sprachliche, kulturelle und ethnische Räume, die es zu schützen galt. Wer eindrang, wurde als Feind bekämpft. Das hat sich bis heute kaum geändert.


10. Ille Gebeshuber: Eine kurze Geschichte der Zukunft. Und wie wir sie weiterschreiben

 

Buchcover: Ille Gebeshuber: Eine kurze Geschichte der Zukunft. Und wie wir sie weiterschreiben
Herder Verlag. 240 Seiten. 22,00 €

Ille Gebeshuber wirft einen Blick in die Zukunft der Menschheit. Auch wenn der Unterschied zwischen realer und nicht-realer Welt nur noch marginal sein wird, muss die Zukunft aus ihrer Sicht nicht düster sein. Ihre These: Wurde die Vergangenheit vom Glauben dominiert, und die Gegenwart vom Wissen, könnten in der Zukunft Glauben und Wissen verschmelzen. Am Ende ist für sie eines sicher: Die Zukunft der Menschheit wird viel dynamischer und spannender verlaufen als wir heute annehmen.


Besondere Empfehlung des Monats Februar von Prof. Dr. Volker Perthes (Stiftung Wissenschaft und Politik):

 

Buchcover: Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik - eine Militärgeschichte
Propyläen Verlag. 816 Seiten. € 35,00

Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte

„Ein Leutnant des Kaiserreichs, ein Offizier der Wehrmacht und ein Zugführer der Task Force Kunduz des Jahres 2010 haben mehr gemeinsam, als wir glauben. Zu diesem überraschenden Schluss kommt Sönke Neitzel, der die deutsche „Kriegerkultur“ in all ihren Facetten untersucht. Seine Bilanz: Soldaten folgen der Binnenlogik des Militärs, sie sollen kämpfen und auch töten. Das gilt für die großen Schlachten im Ersten Weltkrieg, den verbrecherischen Angriffskrieg der Wehrmacht, aber auch für die Auslandseinsätze der Bundeswehr. In einer historischen Analyse durchmisst Neitzel das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Militär und zeigt, wie sich die Kultur des Krieges über die Epochen veränderte. 75 Jahre nach Kriegsende geht es darum, das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee neu zu bestimmen.

Neitzel beschäftigt sich historisch und soziologisch mit den Spezifika, den Konstanten und den Veränderungen in der Kultur des deutschen Militärs vom Kaiserreich über Reichswehr und Wehrmacht bis zur Bundeswehr und fragt dabei besonders nach dem Selbstverständnis der Kampftruppen. Damit liefert er auch eine Antwort auf die Frage, wo eigentlich die Traditionen der Bundeswehr liegen.“ – Volker Perthes

 


Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel. Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Michael Wiederstein, getAbstract, Luzern; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Schweiz

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