Sachbücher des Monats: März 2021

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung. Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt und dem ORF-Radio Österreich

1. Grete de Francesco: Die Macht des Charlatans.

Die Andere Bibliothek, 455 Seiten, € 44,00

Der Typus des modernen Populisten hat seine Vorbilder in der Geschichte: Als Scharlatan oder Quacksalber ist er uns aus früherer Zeit bekannt. Heute feiert er unter anderem Gewand neue Erfolge – auf der Bühne der Weltpolitik. Wir lesen die kulturhistorische Analyse einer Gestalt, die in wechselnden Rollen die europäische Geschichte seit dem Altertum heimsucht – geschrieben 1937 von der jüdisch-österreichischen Gelehrten Grete de Francesco.

In den verschiedenen Charakterzügen des Scharlatans sind schon seine modernen Nachfolger zu erkennen: Hier die Gier der Homöopathie, dort der Populist, der mit den Tugenden der Erfolgreichen bricht. De Francesco reist durch Wort und Bild durch die Jahrhunderte und entdeckt uns einen markanten Akteur unserer Kultur: In den Taschenspielertricks der Wunderheiler und den Maskenspielen der Verwandlungskünstler auf den Jahrmärkten des 18. Jahrhunderts lassen sich schon die Mechanismen entdecken, die zu späterer Zeit in verheerender Weise die Massen zu beeinflussen und zu beherrschen vermögen.

2 Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919 – 1939.

Herausgegeben von Alena Wagnerova. Übersetzt von Kristina Kallert, Wallstein Verlag, 416 Seiten, € 32,00

Jesenská  zeigt in Reportagen die Alltagsnot nach dem Ersten Weltkrieg in Wien, die Kinderarmut, die Bildungsverelendung und den Schleichhandel. In Prag propagiert Jesenská die Projekte der europäischen Avantgarde und deren gesamtgesellschaftliche Relevanz. Den politischen Höhepunkt bilden die Reportagen aus den Sudetengebieten von 1937 bis 1939. Jesenskás sieht vor allem diejenigen Deutschen, die als Nichtmitläufer zwischen nationalsozialistischer und tschechischer Front verloren sind.

3 Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde.

Verlag Klett-Cotta, 384 Seiten, € 22,00

Die Öffentlichkeit ist der zentrale Wert unserer Demokratie. Nur wenn sich freie Meinungen ohne Angst begegnen, können sie das verhandeln, was alle angeht. Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit kann niemand seine Interessen formulieren oder seine Meinung bilden. Doch die spätmoderne Öffentlichkeit sieht sich in einer paradoxen Lage. Je mehr Menschen durch die sozialen Netzwerke Zugang haben, desto chaotischer werden ihre Debatten. Radikale Vereinfachungen führen zu einer polarisierten Öffentlichkeit, in der es nur noch Freunde und Feinde gibt. Wer auf sachliche Informationen und einen rationalen Diskurs hofft, wird immer öfter enttäuscht. Dabei steuert unsere Gesellschaft auf eine doppelte Katastrophe zu. Die Zersplitterung des Sozialen nimmt in wachsendem Tempo zu und die Veränderungen des Anthropozäns zeichnen sich immer drohender am Horizont ab.

 

4. Jörg Armbruster: Die Erben der Revolution. Was bleibt vom arabischen Frühling?

Verlag Hoffmann und Campe, 304 Seiten, € 25,00

2010/11 elektrisieren die Aufstände der arabischen Jugend die Welt, Demokratie und Freiheit scheinen zum Greifen nah. Zehn Jahre später ist die Bilanz ernüchternd: Die Region wird durch ständige Konflikte erschüttert und kommt nicht mehr zur Ruhe. Wie es so weit kommen konnte, erfährt Jörg Armbruster im Gespräch mit den Menschen vor Ort: Vom Konflikt zwischen Jung und Alt, Strenggläubigen und Liberalen und den großen Versäumnissen des Westens.

5. Peter Fabjan:   Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard. Ein Rapport.

Suhrkamp Verlag, 195 Seiten, € 24,00

Peter Fabjan, Bruder und gleichzeitig behandelnder Arzt Thomas Bernhards, gibt in seinen Erinnerungen einen Einblick in das Leben an der Seite, besonders aber auch im Schatten des österreichischen Dramatikers und Romanschriftstellers. Er erzählt von den schwierigen und vielfach belasteten familiären Verhältnissen genauso wie von der Kriegskindheit, von gemeinsamen Reisen in die USA oder nach Portugal und von seinen Bemühungen um das Leben seines von langer und schwerer Krankheit gezeichneten Patienten.

 

6. Roman Sandgruber: Hitlers Vater. Wie der Sohn zum Diktator wurde.

Molden Verlag, 272 Seiten, € 29,00

Ein Quellenfund ändert das Bild, das wir uns bislang über Adolf Hitlers Vater Alois und die Familie Hitler gemacht haben: ein dickes Bündel Briefe des Vaters. Die 31 Briefe eröffnen einen neuen Blick auf die väterliche Persönlichkeit, die den jungen Adolf Hitler maßgeblich prägte. Und bringen etwas Licht ins Dunkel des von Mythen, Erfindungen und Vermutungen geprägten Alltags der Familie Hitler. Denn immer noch, und immer wieder bewegt uns die Frage: Wie konnte ein Kind aus der oberösterrreichischen Provinz, ein Versager und Autodidakt, einen derartigen Aufstieg schaffen?

 

7. Sigrid Damm:  Goethe und Carl August. Wechselfälle einer Freundschaft.

Insel Verlag, 320 Seiten, € 24,00

Sigrid Damm erzählt die Geschichte der über fünfzigjährigen Freundschaft zwischen Goethe und dem Weimarer Herzog Carl August, zwei an Beruf und Berufung, an Temperament und Charakter unterschiedlichen Menschen – einem schöpferischen und einem Tatmenschen, einem Dichter und einem Politiker. Sie erzählt von einer Freundschaft, die für die deutsche Literatur folgenreich war, indem Carl August Goethe den Raum zur Schaffung seines großen Werkes gab.  Ohne seine Existenz würden wir nicht von Weimar als dem Ort der deutschen Klassik sprechen.

 

8. Nicola Gess:  Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit.

 

Verlag Matthes & Seitz Berlin, 159 Seiten, € 14,00

Halbwahrheiten gehören zu den auffälligsten und wirkmächtigsten Instrumenten des sogenannten postfaktischen politischen Diskurses – eines Diskurses, der zwischen Relativismus und Zynismus schwankt und für den die Verwandlung von Fakten in bloße Meinungen ebenso typisch ist wie das Streben nach Aufmerksamkeit und die Demonstration autoritärer Setzungsmacht. Ob Fake News, Verschwörungstheorien oder populistische Propaganda: Sie alle kommen nicht ohne Halbwahrheiten und ihre Manipulation von Wirklichkeit aus.

 

9. Jay Howard Geller:  Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie.

Übersetzt von Ruth Keen, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 462 Seiten, € 25,00

Kaum eine Familie spiegelt die Geschichte der deutschen Juden des 19. und 20. Jahrhunderts in allen ihren Facetten, vom Glanz des Aufstiegs ins Bürgertum bis zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden so deutlich wie die der Scholems. Jay Geller zeigt, wie sich in einer Familie sich vier ganz unterschiedliche Ausprägungen der deutsch-jüdischen Geschichte versammeln: Nationalismus wie Liberalismus, Sozialismus wie Zionismus.

 

10. Gerd Schwerhoff: Die Geschichte der Blasphemie.

S. Fischer Verlag, 521 Seiten, € 29,00

Gerd Schwerhoff zeigt, wie sehr Blasphemie die Menschen seit jeher bewegt. Die weltweite Empörung über die Mohammed-Karikaturen und der Terroranschlag auf Charlie Hebdo 2015 haben deutlich gemacht: Gotteslästerung ist kein Relikt der Inquisition, sie ist heute aktueller als vor hundert Jahren. Wer herabsetzt, was für andere heilig ist, muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Und wer sich gegen blasphemische Hassreden wehrt, kann viele Anhänger mobilisieren.

Besondere Empfehlung des März Prof.em. Dr. Dr. h.c.mult. Joachim Treusch (Bremen):

Tim Bouverie: Mit Hitler reden – Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg.

Rowohlt Verlag, 704 Seiten, € 28,00

 

Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Diese Mahnung aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gilt heute so dringlich, wie die Frage “Wie konnte es geschehen?“ nach Antworten verlangte und verlangt. Der junge Historiker und Journalist Tim Bouverie schöpft aus vielen hundert Quellen (zum Teil sind sie privat, er ist Urenkel des Duke of Buccleuch), um daraus eine überzeugende Geschichte der kriegsmüden britischen Gesellschaft der 1930er Jahre und ihrer handelnden Politiker auf deren langem Weg vom Appeasement unter Neville Chamberlain bis zum ebenso klarsichtigen wie überzeugungsstarken Kriegspremier Winston Churchill zu komponieren. Das Ergebnis ist ebenso inhaltsreich wie spannend zu lesen – Lektüre und Lektion auch für heute. (Joachim Treusch)


Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Manon Bischoff, Spektrum der Wissenschaft; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel. Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, München; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Michael Wiederstein, getAbstract, Luzern; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Schweiz

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