Afghanistan: Nach dem militärischen und politischen Gau, auch ein Datengau

Schon 2011 wurden nicht nur Terroristen, Militante, Kriminelle oder Verdächtige biometrisch erfasst, sondern auch Afghanen, die wegen Schäden durch Kämpfe Schdensersatz erhielten. Bild: DoD

Alptraum: Wie im Irak haben die Amerikaner auch in Afghanistan möglichst viele biometrische Daten von Afghanen erhoben, Geräte und Datenbank sind offensichtlich den Taliban bzw. dem Haqqani-Netzwerk in die Hände gefallen. Noch sollen die Daten nur zur Beobachtung verwendet werden, daraus könnte bald Verfolgung werden.

Es ist ein Alptraum, der offensichtlich macht, was geschehen kann, wenn Staaten aus Sicherheitsgründen persönliche Daten sammeln, die dann Feinden und/oder einem autoritärem Regime in die Hände fallen. Das ist eben in Afghanistan geschehen, als die Taliban die Macht übernahmen und die Amerikaner „vergessen“ haben, die multimodalen biometrischen Geräte namens Handheld Interagency Identity Detection Equipment (HIIDE), mit denen sich Iris-Scans, Fingerabdrücke und Gesichtserkennung machen, mit Informationen ergänzen und mit einer zentralen Datenbank abgleichen lassen.

Schon gleich nach Einnahme von Kabul wurde bekannt, dass viele HIIDE-Geräte in die Hände der Taliban gefallen waren und damit vermutlich viele Daten über Afghanen, die die für gestürzte afghanische Regierung, die Sicherheitskräfte oder die Amerikaner gearbeitet haben. Vermutlich wurden aber auch biometrische Daten an Kontrollpunkten gesammelt. Angeblich war es Ziel, 80 Prozent der Afghanen biometrisch zu erfassen, also keineswegs nur Kriminelle, Terroristen oder Militante.

Eingeführt wurde die biometrische Erfassung der Bevölkerung im Irak. 2004 wurde nach der Einnahme der Stadt Falludscha damit begonnen, alle Menschen, die wieder in die von einem Sicherheitswall eingeschlossene Stadt wollten, mittels Fingerabdrücken, Iris-Scans und Portraitfotos zur Gesichtserkennung zu erfassen. Später wurden dann auch Iraker, die sich bei der Regierung zur Arbeit bewarben, die Kontrollstellen passierten und die festgenommen wurden, erfasst und die Daten in das Automated Biometric Identification System (ABIS) eingespeist. Man sprach von „Identiätsdominanz“ im Globalen Krieg gegen den Terror, in dem man „Freund von Feind unterscheiden“ müsse.

Das System wurde schließlich ab 2009 auch in Afghanistan eingesetzt, ursprünglich sollte so verhindert werden, dass sich Militante in die afghanischen Sicherheitskräfte einschleichen können, die Erfassung wurde dann Zug um Zug ausgebaut. Das AABIS wurde im Innenministerium angesiedelt und von 50 Angestellten betreut. Die Amerikaner gaben die HIIDE-Geräte auch den ISAF-Partnern, also auch der Bundeswehr.

Die Wahllosigkeit der biomterischen Erfassung zeigt sich auch daran, dass das Arkansas Agribusiness Development Team 2 Paschtunen biometrisch katalogisierten, die nur an einem Landwirtschaftsseminar teilnahmen. Bild: DoD

Für die Bundesregierung war 2011 nach der Anfrage der Linken damit alles in Ordnung: „Einer Teilnahme der Bundeswehr am ISAF-Biometrics-Plan stehen keine Bedenken entgegen.“ ISAF dürfe auch nicht militärische Maßnahmen einsetzen: „Hierzu gehören etwa das Anhalten von Personen oder ihre vorübergehende Ingewahrsamnahme sowie die Durchführung von Hausdurchsuchungen, aber auch die Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe biometrischer und anderer personenbezogener Daten.“ Dass die in einem Kriegsgebiet auch in die Hände der Feinde fallen könnten, war keine Überlegung wert.

Leutnant Cristiano Marchiori, ein damaliger Berater des Programms erklärte 2011: „Ein starkes biometrisches Programm vermindert die Anonymität des Feinds und seine Fähigkeit, im Kampffeld anonym zu operieren. Wenn wir ein einzigartiges Identitätsmerkmal haben wie Fingerabdrücke oder einen Iris-Scan wird es schwer für den Feind, sich hinter der Bevölkerung zu verstecken, wenn er versucht, ein Fahrzeug anzumelden, zu wählen oder sich frei im Land zu bewegen.“ 2011 war die Rede, biometrische Merkmale von 8 Millionen Afghanen zu sammeln.

Wie viele Afghanen biometrisch erfasst wurden, ist nicht bekannt. Es ist auch nicht klar, ob die Taliban mit den erbeuteten Geräten auf Datenbanken wie AABIS zugreifen können. Auf jedem Gerät können bis zu 22000 biometrische Profile abgespeichert werden. Intercept berichtet, ein Veteran der Spezialkräfte der Armee habe gesagt, die Taliban bräuchten wahrscheinlich noch zusätzliche Werkzeuge, um die HIIDE-Daten bearbeiten zu können, aber vermutlich würde ihnen der pakistanische Geheimdienst ISI dabei helfen.

Auch wenn mittlerweile viele Afghanen, die sich bedroht sehen, alle Daten, die sie kompromittieren könnten, von ihren Festplatten und Smartphones oder aus sozialen Netzwerken gelöscht und Dokumente vernichtet haben, könnten die HIIDE-Daten die Taliban ehemalige Mitarbeiter der Regierung oder Helfer der Nato-Streitkräfte, der westlichen Botschaften und NGOs identifizieren lassen – und das auch noch weitgehend zweifelsfrei. Allerdings haben die Taliban Amnestie zugesichert, die Frage wird sein, wie lange sie sich daran halten werden oder Racheaktionen einzelner Verbände verhindern können.

Khalil Haqqani trat am 20. August öffentlich ein wenig wie al-Baghdadi in Kabul auf – nicht weit weg vom Flughafen. Die US-Regierung hat auf ihn ein Kopfgeld von 5 Millionen US-Dollar ausgesetzt. Die Amerikaner mussten mit ihm verhandeln, er ist für die Sicherheit in Kabul zuständig.

Khalil Ur-Rahman Haqqani vom Haqqani-Netzwerk, zuständig für die Sicherheit Kabuls, hat versichert, dass allen vergeben werde. Die Amnestie gelte auch für den geflohenen Präsidenten Ashraf Ghani, für den Vizepräsidenten Amrullah Saleh, der sich dem Widerstand im Pundschib-Tal angeschlossen hat, und dem Sicherheitsberater Hamdullah Mohib. Auf Khalil hat die US-Regierung 5 Millionen US-Dollar Kopfgeld ausgesetzt, er wird bezeichtigt, früher auch mit al-Qaida zusammengearbeitet zu haben. Als Sicherheitsbeauftragter für Kabul war er zuletzt auch für den Flughafen zuständig, es ist davon auszugehen, dass die Amerikaner mit ihm verhandelt haben.

Das Haqqani-Netzwerk, das von Pakistan aus operiert, gilt als besonders grausam und ist direkt verbunden mit den Taliban und der gemeinsamen Elitetruppe Badri 313. Sirajuddin Haqqani, gesucht mit einem Preisgeld von 10 Millionen US-Dollar, ist derzeit stellvertretender Leiter der Taliban. Sein Vater Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Netzwerks, war in den 1980er Jahren ein Warlord, der von den Amerikanern unterstützt wurde und mit Osama bin Laden befreundet war.

Jetzt gibt es einen Bericht in der New York Post, dass die Taliban eine Spezialeinheit namens Al Isha, ein Teil der Khalil Haqqani Brigade, aufgestellt haben, um nach ehemaligen Mitarbeitern ausländischer Truppen, Geheimdienste und Behörden zu suchen. Einer der Kommandeure Nawazuddin Haqqani gehört auch dem Haqqani-Netzwerk an. Er soll in einem Interview mit Zenger News, das aber online nicht zu finden ist (mittlerweile ist es online), gesagt haben, dass seine Leute tragbare Scanner verwenden, um auf eine von den USA angelegte biometrische Datenbank zuzugreifen.

Auch ein bezeichnendes Bild: Meinungsfreiheit a la Taliban im medialen „Friedensstudio“ mit dem Gewehr in der Hand.

Nach NYP soll er gesagt haben, seine Einheit kontrolliere das Innenministerium und die dort befindliche nationale biometrische Datenbank: „Wir haben jetzt die Daten von allen, auch von Journalisten und sogenannten Menschenrechtsaktivisten. Wir haben keinen ausländischen Journalisten getötet, oder? Wir nehmen auch die Familien dieser Leute nicht fest. Aber die Puppen der Amerikaner, des NDS (afghanische Geheimdienst) und RAW (indischer Geheimdienst) lassen wir nicht laufen. Sie werden immer von al Isha beobachtet werden. Und diejenigen, die vor wenigen Tagen sich noch gebrüstet haben, Dollars in ihren Taschen zu haben, werden nicht verschont. Sie können nicht verschon werden, oder?“ Am Freitag meldete allerdings Suhail Shaheen, der Sprecher der Taliban für internationale Medien, dass einige Mitarbeiter des afghanischen Geheimdienstes NDS festgenommen wurden, die sich als Mitglieder des Islamischen Emirats ausgegeben hätten, um „law and order“ in Kabul zu untreminieren.

Man sammle aber keine neuen Daten, man habe sie. Benutzt wurde sie, um ausländische Journalisten zu schützen. Ansonsten wolle man, so suggeriert er, nur darüber eine Auge auf diejenigen haben, die mit ausländischen Geheimdiensten und dem afghanischen Sicherheitsapparat zu tun hatten. Das Thema werde von den ausländischen Medien aufgebläht.

Auch wenn die Taliban bzw. das Haqqani-Netzwerk die biometrischen Daten nur zur „Beobachtung“ verwenden sollten, muss sich jeder Afghane bedroht sehen, aufgrund der Daten identifiziert und gesucht zu werden, wenn die diplomatische Phase des Talibanregimes beendet wird. Und es ist eine Warnung, dass auch dann, wenn persönliche Daten in einem rechtsstaatlichen Rahmen erhoben und gespeichert, dies bei einem politischen Wechsel zu einem Unrechtssystem in falsche Hände geraten können. Demokratische Rechtsstaaten müssen dies natürlich bei ihren Interventionen berücksichtigen, aber wie das Beispiel USA unter Trump zeigt, könnten auch scheinbar gefestigte Systeme kippen. Spionagesoftware wie Pegasus oder Gesichtserkennungsprogramme wie Clearview AI, die weltweit vertrieben werden, sind hochgefährlich.

Ähnliche Beiträge:

Ein Kommentar

  1. Die Menschen lernen absolut nichts aus der Geschichte.
    Abgesehen von den täglichen Verlusten und Diebstählen von persönlichen Daten bei Unternehmen und Behörden, gab es den ersten „Gau“ schon im Dritten Reich.
    In einem Nachbarland registrierten sich Juden mit der Angabe ihrer Religionszugehörigkeit. Nach Einmarsch der deutschen Truppen gingen diese einfach zur Stadtverwaltung und konnten dort alle Juden der Stadt identifizieren. Der Rest ist bekannt.
    Die Sturheit, mit der unsere Politiker diese Erkenntnisse verweigern, ist der Beweis von mangelnder Intelligenz, Unfähigkeit zu lernen und auch Bösartigkeit – mit Demokratie und Rechtsstaat hat das nichts zu tun.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert