„Ich denke, es wird einen Massenexodus geben“

Taliban-Führer …

Stimmen aus Kabul zur Taliban-Eroberung. Gesammelt von Emran Feroz

Sher Gul, Taxifahrer

„Die Taliban sind nun in Kabul und ich erinnere mich an meine Kindheit zurück. Auch damals erlebte ich ihren Aufmarsch. Vielleicht haben sie sich verändert, doch vorerst bemerke ich keinen Unterschied. Ich sehe ihre finsteren Gesichter mit ihren Turbanen und Kalaschnikows und frage mich, was aus diesem Land geworden ist. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder, denn ich will nicht, dass sie dasselbe erleben wie ich.

Zum Glück wird hier zurzeit nicht gekämpft, aber das kann sich schnell ändern. Das wäre wirklich das Schlimmste. Ich habe mir schon eine Flucht überlegt, gemeinsam mit meiner Familie. Vielleicht reisen wir nach Pakistan. Das machen viele in diesen Tagen. Ein Onkel von mir lebt in Deutschland. Auch er meinte, dass ich Afghanistan verlassen müsse. Ein großes Problem ist natürlich die wirtschaftliche Situation in diesem Land und ich bezweifle, dass sie sich unter den Taliban ändern wird. Ich bin Fahrer, doch ich habe fast keine Kunden. Am Montag habe ich meinen Wagen vollgetankt. Das hat 1200 Afghani gekostet. Verdient habe ich bis jetzt nur 40 Afghani. Auf Dauer geht das nicht. Ich denke, es wird einen Massenexodus geben. Man sieht ja, was am Flughafen los ist. Das ist nur der Anfang. Die meisten Afghanen werden das Land über den Landweg verlassen.“

 

Seeta, Studentin

„Seit die Taliban hier sind, hat sich die Lage verschlechtert. Davor war sie auch nicht gut, doch nun denke ich, dass es schrecklich werden wird. Ich habe schlimme Dinge über sie gehört und es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie uns auch in Kabul drangsalieren werden. Es kann sein, dass nicht alle Geschichten wahr sind, doch im Großen und Ganzen habe ich Angst. Ich hab das Haus seit ihrer Einnahme Kabuls nicht mehr verlassen. Mein Studium bringt mir nun nichts mehr. Die Pforten der Universität sind weiterhin geschlossen. Zurzeit betrifft das alle, doch ich kann mir vorstellen, dass sie bald wieder frauenfeindlich agieren werden. Dann dürfen wir womöglich nicht mehr arbeiten oder studieren.

Die Versprechen, die sie uns gegeben haben, kann ich ihnen nicht glauben. Warum auch? Was haben die Taliban denn gemacht, dass man ihnen nun vertrauen soll? Ich glaube, so denken viele Frauen in Kabul. Sie befürchten, dass die Taliban sie wieder drangsalieren und unterdrücken. Ich hoffe dennoch, dass sie sich geändert haben. Doch ich glaube nichts, bevor ich es nicht sehe.

Von der ehemaligen Regierung bin ich enttäuscht. Der Präsident ist während dieser Krise einfach geflüchtet. Was für eine schamlose Aktion! Ich hoffe, dass er eines Tages für diese Tat bestraft wird. Dass die Amerikaner abziehen, ist mir mittlerweile auch egal. Sie haben sich nie für uns interessiert. Nun sind ihre politischen Interessen anderswo und nicht in Afghanistan. Wir sind auf uns allein gestellt und es kann düster werden.“

 

Jahanzeb, abgeschobener Geflüchteter aus Innsbruck

„Seit Juni befinde ich mich wieder in Afghanistan. Ich lebe im Distrikt Shakardara in Kabul und wurde mit Gewalt hierhergebracht. Elf Jahre lang lebte ich in Österreich. Zuletzt war ich als Schichtleiter bei einer „Burger King“-Filiale in Innsbruck tätig. Ich hatte keinerlei Probleme und war finanziell unabhängig. Man wollte mir allerdings weder Asyl noch dauerhaften Schutz gewähren. Ich habe in Österreich einige Fehler gemacht und geriet in Streitigkeiten, doch all dies liegt lange zurück. Ich habe aufrichtig gelebt und keine Probleme gemacht. Niemand hatte mir gesagt, dass ich abgeschoben werden würde. Das BFA hat eigenständig gehandelt und plötzlich war ich in Schubhaft. Nachdem ich den Polizisten von meinem Fall erzählte, waren auch sie erstaunt, doch sie meinten, dass ihnen die Hände gebunden seien. Sie müssten mich abschieben. Meinen afghanischen Pass, der mehr einem gefälschten Dokument gleich, erhielt ich von den Beamten erst in Kabul – nachdem ich gelandet war!

In meinem Distrikt herrscht schon lange Unruhe, doch nun haben die Taliban alles erobert und ich bin hier. Das ist doch verrückt. Auch in Shakardara kam es zu Kämpfen. Am Sonntag lag ein toter Soldat nahe meiner Haustür. Ich wurde sehr traurig, als ich seinen Leichnam sah. Diesen Anblick werde ich wohl nie wieder vergessen. Es ist fürchterlich, was in diesem Land passiert. Es kann doch nicht menschenrechtskonform sein, dass ich hierhergebracht wurde. Die Taliban werden mich womöglich rekrutieren oder mir sagen, dass ich vom Glauben abgefallen sei, weil ich in Europa gelebt habe. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Vielleicht kann mich ja jemand evakuieren? Ich denke, wohl eher nicht. Es ist nur ein Wunschtraum, doch ich weiß, dass ich hier keine Zukunft haben werde. Falls mich niemand holt, werde ich selber versuchen, abermals zu flüchten, so wie damals.“

 

Liza Sadat, Lehrerin

„Wir sind seit einigen Tagen in Kabul. Eigentlich kamen wir hierher, weil wir befürchteten, dass unsere Heimatstadt Mazar-e Sharif im Norden des Landes bald fallen würde. Am Ende fielen Mazar-e Sharif und Kabul fast zeitgleich. Nun sind wir hier bei Verwandten untergekommen. Ich, mein Ehemann und meine sechs Kinder. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird.

Eigentlich wollte ich Ärztin werden, doch die Bürgerkriegsjahre in den 1990er-Jahren haben meine Pläne zunichte gemacht. Nun habe ich Angst, dass sich dasselbe wiederholt und die Zukunft meiner Kinder zerstört. Ich will nicht, dass meine Kinder weiterhin in diesem Land aufwachsen und studieren. Ich weiß gerade nicht einmal, ob ich weiterhin meinen Beruf ausüben darf. Ich unterrichte an einer türkischen Privatschule. Die Taliban haben Frauen versichert, dass sie weiterhin ihren Beruf ausüben dürfen. Mädchen dürfen weiterhin studieren oder zur Schule gehen, doch wo sind die Garantien? Bis jetzt sind noch die meisten Bildungsinstitutionen geschlossen. Außerdem reden sie immer von einer „islamischen Ordnung“, doch was bedeutet das?

Ich bin eine stolze Muslimin und übe meinen Glauben sehr streng aus, so wie viele Afghanen. Denken die Taliban, dass wir alle keine Ahnung vom Islam hätten? Denken sie, dass ihre fanatische Auslegung bei allen Afghanen durchsetzbar ist? Wir Frauen müssen rebellieren, doch dafür ist es nun vielleicht schon zu spät. Unsere Regierung und die Welt hat uns verraten. Ich möchte mit meiner Familie am liebsten das Land verlassen.“

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Ein Kommentar

  1. Es wird sehr viel spekuliert.
    Ich lebe nicht in Afghanistan könnte aber erzählen wie es ist mit 795,00 Euro Rente zu leben, das ist in jeder Hinsicht kein Zuckerschlecken. Damit will ich nicht die Berichte gering schätzen, nur, schauen wir in die andere Richtung werden wir dasselbe sehen.

    Es gibt viele Wege zum Glück. Einer davon ist aufhören zu Jammern. Albert Einstein

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