Polen: Geschichtsdenken im Konflikt mit der EU

Johannes Esaias Nilson über die erste Teilung Polen-Litauens im Jahr 1772. Bild: gemeinfrei

Mateusz Morawiecki, Polens Premierminister, eskaliert den Konflikt und bezeichnet das Zurückhalten der Aufbaugelder durch die EU-Kommission als „Beginn des Dritten Weltkriegs“

Polen werde seine Rechte „mit jeglichen Waffen, die uns zur Verfügung stehen, verteidigen“, sagte Morawiecki gegenüber der britischen Zeitung „Financial Times“. Man habe seinem Land „die Pistole an den Kopf gesetzt“.

Die martialisch beschriebene Situation nüchterner formuliert: Polen werde solange nicht seine Aufbaugelder zurück bekommen, solange gewisse Punkte der Justizreform nicht rückgängig gemacht werden, so die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen.

Und „nüchterner formulieren“ wäre eigentlich die Aufgabe des 53-jährigen  Polen gewesen. Zumindest wurde der ehemalige Banker und studierte Volkswirt Ende 2017 als Ersatz für die damals amtierende Beata Szydlo von Jaroslaw Kaczynski nominiert, dem Parteichef der „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS).

Szydlo war der Grauen Eminenz treu ergeben, in ihrem Auftreten in Brüssel jedoch zu ungeschickt und ruppig. Der international weit erfahrenere Morawiecki sollte den Druck gegen Polen herausnehmen, den die EU-Kommission gegen das EU-Mitglied damals schon mit Rechtsstaatlichkeitsverfahren aufgebaut hatte.

Nun scheint es damit vorbei zu sein. Der Auftritt des Nationalkonservativen in EU-Parlament war recht kämpferisch, er sprach von Erpressung (Polexit – Fake, Phantasie oder Option).

Solche Auftritte polnischer Politiker sorgen immer wieder Irritationen. Ihre Aussagen wirken martialisch und haben offene und verdeckte Bezüge zur Geschichte und sind vor allem an das Publikum an der Weichsel adressiert.

Liberum Veto als Tradition des politischen Verhandelns

Die  Polen haben auch Verständnis für den rger Morawieckis über das sture Insistieren der EU-Kommission und vieler Abgeordneter des EU-Parlaments.  Diese verlangen eine weitere Rücknahme von Maßnahmen der Justizreform, wie etwa die Nominierung des Landesrichterrats durch die Regierung.

Morawiecki verwies daraufhin, dass man sich an das Urteil des Europäischen Gerichtshof halten und die umstrittene Disziplinarkammer annullieren wolle. Von polnischer Seite werden nun auch ein Entgegenkommen und Nachsicht erwartet.

Die Erwartung ist verbunden mit einer langen Tradition der polnischen Adelsrepublik (1569 bis 1795), dem Liberum Veto. Damals konnte ein Abgeordneter mit einer Stimme jeden Beschluss boykottieren. Danach wurde nachverhandelt, um dem adligen Parlamentarier, hinter dem zumeist eine Interessengruppe stand, entgegen zu kommen. Gleichzeitig wurde bei der Nachverhandlung durch den Aufwand dem Gegenüber Respekt und Wertschätzung ausgedrückt.

Man könnte die Konfuzius Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ mit „Das Herumverhandeln macht den Hauptsinn des Verhandelns aus“ in die polnische Gedankenlehre übertragen. Das „Liberum Veto“ gilt auch als Mittel Polens, Beschlüsse zu boykottieren, mit der Erwartungshaltung, danach wieder ins Gespräch zu kommen.

Das Bonmot des ehemaligen Arbeiterführers und Staatspräsidenten Lech Walesa „Ich bin dafür und sogar dagegen“ weist darauf hin, dass schnelle Entscheidungen nicht Sache der Polen sind, die sich in der Politik die Sympathien der Allgemeinheit sichern wollen.

Bleibt die Frage, warum diese Traditionen solch einen Einfluss auf das polnische Agieren und Denken von heute haben.  Die Antwort wäre, dass die Mystifizierung der Zeit vor der polnischen Teilung, also vor dem Verschwinden des Landes von der politischen Landkarte, in Polen immer noch andauert. Die Sehnsuchtsliteratur des 19. Jahrhunderts, die Rückbesinnung auf das sogenannte „goldene Zeitalter“ der Adelsrepublik, all das ist in mehrfacher Form Schulpflichtstoff.

Ist nun das „Säbelrasseln“ Morawieckis ernst zu nehmen?

Zumindest die polnische Nationalhymne spricht eine klare Sprache, oder man könnte auch spekulieren, der Spruch des Nationalkonservativen, der mit „jeglichen Waffen“ sich etwas zurück holen will, ist der Nationalhymne entlehnt:

„Was eine fremde Macht uns nahm, das holen wir mit dem Säbel uns zurück“, heißt es im Dabrowski-Marsch.

Das Interview-Zitat mit dem „Dritten Weltkrieg“, das an der Weichsel derzeit rauf und runter gespielt wird, hat seine Millionen polnische Zuschauer, die den Anklang durchaus verstehen – wenn es auch von liberalen wie linken Köpfen verurteilt wird.

Was die „fremde Macht“ angeht (eigentlich sind es mehrere Mächte – Russland, Preußen und Österreich) – sie wird von Anhängern der PiS wie auch von deren Politikern immer mehr mit Brüssel identifiziert.

Dies bedeutet nicht, dass die EU grundsätzlich abgelehnt wird, aber die zu vielen, aus Polens Sicht starren Regeln sowie die dafür verantwortlichen „Eurokraten“. Zudem: Sobald von außen Druck auf Polen ausgeübt wird, entsteht die Wagenburg-Mentalität. Wohl auch ein Erbe aus den Auseinandersetzungen mit vielen Nachbarn, vor allem im 17. Jahrhundert (Schweden, Kosaken, Russen, Osmanen). Dabei wird erwartet, dass die Nation nun zusammensteht. Sollte es die Opposition wagen, gewisse Tendenzen des Demokratieabbaus in Polen gegenüber ausländischen Politikern oder Journalisten zu erwähnen, erschallen aus der nationalkonservativen Ecke die „Targowica“ Rufe.

Das ist eine Anspielung an die Konföderation von Targowica 1772, bei der ein Teil des polnischen Großadels in St. Petersburg Russland um Hilfe bat, Reformen in Polen rückgängig zu machen, die ihren Einfluss einschränkten.

Dies wird als „dunkles Kapitel“ der polnischen Geschichte verstanden und erklärt den Abscheu gegenüber den Verrätern, der von dem PiS-Milieu gerne aktiviert wird, um die politischen Gegner als Gegner Polens zu diskreditieren.

Polnischer Messianismus

Durch die polnischen Teilungen wurde auch der Mythos des polnischen Messianismus und der Idee von „Polen als Christus der Nationen“ geboren. Dies bedeutet, dass der Freiheitskampf des Volkes, der sich im 19. Jahrhundert in zwei Aufständen gegen Russland manifestierte, auch stellvertretend für andere Nationen geschehe, mit denen sich Polen solidarisiert und von denen Polen auch Solidarität erwartet. Vor allem der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz, der wie viele polnische Gelehrte, Politiker und Offiziere nach dem Aufstand 1830-1831 nach Frankreich emigrierte, versuchte dort wie in seinen Werken, das Bild des messianischen Polens zu vermitteln.

Da die Gegner Polens zumeist eine andere Religion oder Konfession hatten und auch Kirchen zerstörten und Geistliche vertrieben, wurde der katholische Glaube schon im späten 17. Jahrhundert zu einer Art Coporate Identity der polnischen Nation.

Spätere Konflikte, wie etwa der Versuch des kommunistischen polnischen Staates den Klerus zu marginalisieren, bestätigten dieses Selbstbild.

Auch der Nachfolger des 2005 gestorbenen polnischen Papstes, Kardinal Josef Ratzinger, hoffte bei seiner Idee von der „Rechristianisierung Europas“ auf das „messianische“ Polen.

Heute inszeniert sich die PiS in der Rolle des Beschützers der Katholischen Kirche gegen Einflüsse wie Gender-Ideologien und scheinbarer LGBT-Indoktrination und insgeheim auch vor der Aufnahme muslimischer Asylsuchender.

Der messianische Gedanke spiegelt sich auch in Polens Führungsanspruch bei anderen östlichen EU-Mitglieder, welche ebenfalls Tendenzen zu einer autoritativen Politik haben, die in Brüssel Unmut weckt – allen voran Ungarn, aber auch Slowenien und Tschechien können hier dazu gezählt werden. Mit der Vision von einem Europa der Vaterländer könnte dieser Bund für weitere Konflikte innerhalb der Europäischen Union sorgen.

Wenn auch sich vielleicht Kompromisse um die EU-Fördergelder abzeichnen, der Konflikt Brüssels mit einem nationalkonservativen Polen, das wieder meint, seine Identität und kulturellen Eigenheiten, zu der scheinbar auch eine Demontage von Justiz und Pressefreiheit gehört, gegen eine „Übermacht“ verteidigen zu müssen, wird nicht so schnell beigelegt.

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