Russland hat gewählt – Fragen bleiben

Ein Blick in das Wahllokal 2884 in Moskau. Bild: Ulrich Heyden

Die Zahl der Abgeordneten, welche für die Regierungspartei „Einiges Russland“ in der Duma sitzen, sinkt um 23. Doch die Partei behält ihre Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Die Kommunisten sehen das System zum elektronischen Wählen als Instrument für Wahlfälschungen.

Am Dienstagmorgen waren in Russland alle Wahlzettel der Duma-Wahl ausgezählt. Gewählt wurde vom 17. bis zum 19. September. Die Wahlbeteiligung lag bei 51 Prozent. Die Regierungspartei hat ihren Einfluss im Staatsapparat genutzt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Staatsangestellte mussten nachzuweisen, dass sie gewählt haben.

Statt vier werden das erste Mal seit 2003 jetzt fünf Parteien mit Fraktionen in der Duma vertreten sein. Bei dem Neuzugang handelt es sich um die Partei „Neue Leute“, die vom Kosmetik-Unternehmer Aleksej Netschajew geführt wird.

Polizei überwacht die Wahl sowohl in als auch vor dem Wahllokal. Bild: Ulrich Heyden

Wie die Zentrale Wahlkommission mitteilte, bekam die Regierungspartei Einiges Russland 49,82 Prozent der Stimmen. Das sind rund vier Prozent weniger als bei den Parlamentswahlen 2016, als für Einiges Russland noch 54 Prozent der Wähler stimmten. Im neuen Parlament wird Einiges Russland nicht mit mehr mit 343, sondern nur noch mit 320 Abgeordneten vertreten sein.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die seit acht Jahren sinkenden Einkommen der Bevölkerung haben die Menschen enttäuscht. Da Einiges Russland 122 Mandate in der Duma über ihre Parteiliste und 198 Mandate über ihre Direktkandidaten bekommt, behält die Regierungspartei in der Duma ihre Zwei-Drittel-Mehrheit und kann damit gegebenenfalls Verfassungsänderungen durchsetzen.

Ganz rechts eine der beiden Kameras, welche drei Tage lang aufzeichnete. Bild: Ulrich Heyden

Das Siegen wird für Einiges Russland aber schwieriger. Die Konkurrenz ist stärker geworden. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) verbesserte sich von 13 Prozent im Jahre 2016 auf 18,93 Prozent bei den Wahlen in diesem September. Die Partei ist der Meinung, dass es noch mehr Stimmen waren, die Wahlen aber in verschiedenen Orten gefälscht wurden. Sie hat eine lange Liste von Beschwerden an die Zentrale Wahlkommission eingereicht.

Welche Rolle spielte „Kluges Wählen“?

„Auf die Schlüsselfrage welche Rolle die Kampagne „Kluges Wählen“ bei den Duma-Wahlen hatte, gibt es bisher keine klare Antwort“, schreibt  das als „ausländischer Agent“ gebrandmarkte russischsprachige Internet-Portal Meduza unverblümt. Die Kampagne Kluges Wählen war von dem aus dem Ausland agierenden Navalny-Team gestartet worden. Die Kampagne fand in den deutschen Medien große Beachtung. Doch Meduza schreibt, „von den 225 von dem System („Kluges Wählen“) vorgeschlagenen Kandidaten siegten in den Wahlkreisen nur 14.“

Womit können sich die westlichen Medien, welche dem „Klugen Wählen“ so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, noch trösten? Ist es etwa ein Trost, dass die Kommunisten bei den Duma-Wahlen beachtlichen Zuwachs erzielten und sich auch die linke Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ mit sieben Prozent behauptete? Direktkandidaten dieser beiden Parteien waren vom Navalny-Team, dass vom Ausland aus agierte, zu Wahl empfohlen worden.

Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow machte am Sonntagabend auf einem Presse-Briefing deutlich, dass er auf die Unterstützung vom Nawalny-Team pfeift. Nawalny sei eine Kreatur, „die von Wladislaw Surkow (2013 Leiter der Präsidialverwaltung) geschaffen wurde“. Sjuganow spielte darauf an, dass Nawalny 2013 unter Billigung des Kreml zu den Bürgermeisterwahlen von Moskau kandidierte und 27 Prozent der Stimmen erhielt.

riefing der KPRF-Führung am Abend des letzten Wahltages. Screenshot KPRF

Was sind die Gründe für die Erfolge der Kommunisten?

Die KPRF konnte ihre Position als zweitstärkste Partei behaupten. In den ärmeren Gebieten im Norden, im sibirischen Gebiet Irkutsk und im Fernen Osten, auf der Insel Sachalin und im Gebiet Primorje (Wladiwostok), in den Gebieten Komi, Altai und Uljanowsk erreichte die Partei gute Ergebnisse. Im nordrussischen Nenezki-Gebiet gewann die KPRF mit 31 Prozent gegen die Partei Einiges Russland, die 29 Prozent der Stimmen erhielt.

Auch im Gebiet Jakutien wurden die Kommunisten stärkste Partei. Die Regierungspartei Einiges Russland und Gerechtes Russland forderten dort prompt eine Neuauszählung der Stimmen.

Der Stahlschrank für die Aufbewahrung der abgegebenen Wahlzettel. Bild: Ulrich Heyden

KPRF siegte im unruhigen Gebiet Chabarowsk

Im fernöstlichen Gebiet Chabarowsk, wo es im Sommer 2020 Proteste wegen der Absetzung des Gouverneurs Sergej Furgal (LDPR) gab, siegte bei Gouverneurswahlen, die in neun Regionen parallel zu den Parlamentswahlen stattfanden, Michail Degtjarow, der ebenfalls der LDPR von Schirinowski angehört, mit 56 Prozent. Das ist das schlechteste Ergebnis bei den Gouverneurswahlen in diesem Jahr. Die meisten Gouverneure bekamen über 70 Prozent.

Degtjarow hatte einen sehr schwierigen Start. Er wurde nach der Verhaftung des amtierenden Gouverneurs Sergej Furgal 2020 vom Kreml eingesetzt. Furgal wurde wegen einer angeblichen Beteiligung an einem Mord in den 1990er Jahren festgenommen und sitzt seitdem im Gefängnis. Gegen die Absetzung von Furgal hatte es monatelang Demonstrationen gegeben. Die Demonstranten forderten eine faire Aufklärung über den Mord-Vorwurf.

Dass es im Gebiet Chabarowsk nach wie vor eine Proteststimmung gibt, zeigte das Ergebnis der Parlamentswahlen in dem fernöstlichen Gebiet. Die KPRF siegte mit 26 Prozent der Stimmen. Die Regierungspartei Einiges Russland erhielt in dem Gebiet nur 24 Prozent der Stimmen.

Es gibt noch einen weiteren Grund für den Erfolg der Kommunisten. Man kann auch davon ausgehen, dass viele Wähler sauer waren, dass besonders populäre KPRF-Kandidaten wie der Agrarunternehmen Pawel Grudinin  und der ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin  nicht kandidieren durften, weshalb man nun erst recht KPRF wählte.

Die kleinen Parteien: Schirinowskis LDPR, „Gerechtes Russland“ und „Neue Leute“

Die Stimmenanteil der Liberaldemokraten (LDPR) von Wladimir Schirinowski schrumpfte von 13 Prozent im Jahre 2016 auf 7,55 Prozent bei den Wahlen in diesem September. Früher profitierte Ultrapatriot Schirinowski von Proteststimmen. Doch die Menschen erwarten heute mehr als den nationalen Populismus von Schirinowski. Sie erwarten eine grundlegende Wende zu einer sozialeren Politik, für die Schirinowski nicht steht.

Die Partei „Gerechtes Russland – für die Wahrheit“ konnte sich von sechs Prozent im Jahre 2016 auf 7,46 Prozent in diesem September verbessern. Zusammen mit der KPRF mobilisierte Gerechtes Russland 2018 für Demonstrationen gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Oleg Schein, der für Gerechtes Russland in der Duma sitzt, hielt 2018 eine vielbeachtete Rede  gegen die Rentenreform. Diese Position hat sich nun bei den Wahlen ausgezahlt.

Das erste Mal seit 2003 schaffte eine fünfte Partei den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde in die Duma. Die im März 2020 gegründete Partei „Neue Leute“ erreichte aus dem Stand 5,32 Prozent der Stimmen. Das Erfolgsgeheimnis der Partei ist neben guten Beziehungen zum Kreml vermutlich der Name „Neue Leute“. Das Ansehen der Duma in der Bevölkerung ist gering, denn das Parlament hat wenig Macht und zeigt kaum eigenes Profil.

Der Vorsitzende der Partei „Neue Leute“ ist der Unternehmer Aleksej Netschajew, der mit in Russland hergestellter „Faberlic“-Kosmetik reich wurde. Netschajew ist auch Mitglied der von Wladimir Putin initiierten Allgemeinrussischen Volksfront. Er hat angekündigt, sich für mehr finanzielle Selbstständigkeit der Regionen einzusetzen.

Protestdemonstration auf dem Moskauer Puschkin-Platz

Die Duma-Wahlen haben Nachwirkungen. Am Montagabend versammelten (Video) sich auf dem Moskauer Puschkin-Platz mehrere Hundert vor allem junger Menschen. Sie protestierten gegen Wahlfälschungen, die es ihrer Meinung nach bei der Duma-Wahl gab. Die Kundgebung lief als „Treffen mit Duma-Abgeordneten“. Solche Treffen unter freiem Himmel sind gesetzlich erlaubt. Die Polizei schritt nicht ein.

Hauptredner war der Duma-Abgeordnete Valeri Raschkin, der auch Leiter der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) in Moskau ist. Raschkin und andere Redner der Kommunistischen Partei sprachen über Wahlfälschungen, die es ihrer während der Duma-Wahl gab. Insbesondere geht es um zwei Direktkandidaten der KPRF, Michail Lobanow und Anastasija Udalzowa, die nach der Auszählung der Stimmen an den Wahlurnen gesiegt hatten. Doch nachdem auch die Stimmen, die über das Internet abgegeben wurden, ausgezählt waren, wurden aus den beiden Siegern Verlierer auf Platz zwei.

Michail Lobanow kandidiert als unabhaengiger Linker als KPRF-Direktkandidat. Bild: Ulrich Heyden

Schon Sonntagnacht hatten kritische Blogger sich gewundert, warum es mit der Veröffentlichung der Ergebnisse bei der Internet-Abstimmung so lange dauerte. Am Montag klärten  russische elektronische Medien dann auf, was die Verzögerung ausgelöst hat. Angeblich hat das Computersystem sehr lange gebraucht, um bei Personen, die mehrmals abgestimmt haben, die letzte Wählerentscheidung festzustellen. Was ist mit Mehrfachabstimmung gemeint? Damit ist gemeint, dass Wähler ihren Wahlvorgang im Internet aus verschiedenen Gründen ein- oder mehrmals unterbrochen haben. Angeblich brauchte das Computersystem einige Zeit, um die letzte Entscheidung des Wählers herauszufiltern.

Redner auf dem Moskauer Puschkin-Platz behaupteten die elektronische Abstimmung sei extra eingeführt worden, um der Opposition Stimmen zu stehlen. Sie forderten die Abschaffung der elektronischen Abstimmung.

Was passierte bei der Auszählung der Stimmen für Lobanow und Udalzowa?

Der unabhängige Linke Michail Lobanow ist Mathematiker, lehrt an der Moskauer Universität und kandidierte für den westlich vom Moskauer Stadtzentrum gelegenen Kunzewo-Bezirk auf der Liste der KPRF. Am Montagmorgen um neun Uhr Moskauer Zeit gab er via Facebook bekannt, er führe mit 41.859 Stimmen vor dem bekannten Fernsehjournalisten Jewgeni Popow, der für die Partei Einiges Russland kandidierte und 31.008 Stimmen erhielt. Lobanow schrieb weiter: „Es ist schon klar, auf wessen Seite die Sympathien der Wähler liegen. Was diesen Abstand ausgleichen kann, sind nur gigantische Fälschungen bei der elektronischen Abstimmung.“

Kurze Zeit nachdem Lobanow seine düstere Ahnung veröffentlicht hatte, wurde diese wahr. Nach offiziellen Angaben verfehlte Lobanow den Sieg knapp. Nach offizieller Mitteilung stimmten 31 Prozent für den kommunistischen Mathematiker und 34 Prozent für den TV-Journalisten Popow.

Das gleiche passierte mit Anastasija Udalzowa. Die Aktivistin der Linken Front kandidierte im proletarisch geprägten, südlich des Moskauer Stadtzentrums gelegenen Nagatinski-Bezirk auf der Liste der KPRF. Ihr Mann – Sergej Udalzow  – saß wegen Teilnahme an Straßenprotesten mehrmals für längere Zeit in Haft.

Am Montagmorgen nach der Auszählung aller Stimmen in den Wahllokalen meldete   die Nachrichtenagentur Interfax, Udalzowa habe in ihrem Wahlbezirk als Direktkandidatin mit 31 Prozent der Stimmen gesiegt. Doch wenige Stunden später nach der Auszählung der elektronisch abgegebenen Stimmen lag Udalzowa mit 25 Prozent nur noch auf Platz zwei.

Der Moskauer KPRF-Chef Valeri Raschkin hat für kommenden Sonnabend zu einem neuen „Treffen mit Wählern“ auf dem Moskauer Puschkin-Platz aufgerufen. Man darf gespannt sein, ob die Zentrale Wahlkommission bis Sonnabend die zahlreichen Vorwürfe wegen Wahlfälschungen im ganzen Land aufklärt. Sollte das nicht der Fall sein, könnte die Teilnehmerzahl auf dem Puschkin-Platz am Sonnabend steigen.

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