Türkis-Blau im Rückspiegel: Österreich ist längst das Land der Untersuchungsausschüsse

Screenshot aus dem Ibiza-Video mit Johann Gudenus und Heinz-Christian Strache

Die blaue FPÖ, aber auch die türkise ÖVP schaffen es, die Öffentlichkeit mit immer neuen Enthüllungen über die gemeinsame Regierungszeit in Atem zu halten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) ist dabei erneut in den Fokus gerückt und auch das Ibiza-Video ist immer wieder Thema.

Die Gerichte in Österreich werden nur allmählich mit der Aufarbeitung der skandalträchtigen Regierungsbeteiligung der FPÖ der Jahre 2000 bis 2007 fertig. Jüngst wurden die beiden ehemaligen FPÖ-Politiker, der Finanzminister Karl-Heinz Grasser und Walter „Meischi“ Meischberger, zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Letzterer war zu einer gewissen internationalen Prominenz gekommen, nachdem er in einem abgehörten Telefonat den bemerkenswerten Satz „Wos woa mei Leistung?“ fallen ließ. Er konnte sich einfach nicht mehr erinnern, wofür er stolze 700.000 Euro Provision erhalten hatte.

Eineinhalb Jahre erneute Regierungsbeteiligung der „Blauen“, diesmal unter dem „türkisen“ Kanzler der ÖVP Sebastian Kurz, haben der Republik zahlreiche neue Skandale beschert. Die FPÖ verfügt einfach über dieses gewisse „Je ne sais quoi“ und sie scheint wild entschlossen auch weiterhin dem Corona-Virus Konkurrenz machen, wenn es um die allgemeine Medienaufmerksamkeit geht. Die ÖVP hingegen hat alle Hände voll zu tun, in sämtliche Himmelsrichtungen zu zeigen.

Der Geheimdienst und die Wirecard 

Den beiden Österreichern Markus Braun und Jan Marsalek wird in Deutschland Milliarden-Betrug durch den Finanzdienstleister Wirecard vorgeworfen. Der frühere Wirecard-Manager Marsalek befindet sich auf der Flucht und hierbei haben ihm – möglicherweise – der österreichische Geheimdienst und der FPÖ-Nationalratsabgeordnete Thomas Schellenbacher geholfen.

Im österreichischen Hauptabendprogramm wird Schellenbacher mit ungewöhnlich deutlichen Worten zitiert: „Mir ist der Arsch schon auf Grund gegangen, wie man sagt, weil ich schon gedacht habe, da stimmt etwas nicht.“ Bedenken, die folgenlos blieben, denn Schellenbacher half Marsalek bei dessen Flucht mit dem Flugzeug von Bad Vöslau nach Minsk. Mitbeteiligt wohl auch das BVT, dessen Spitzenbeamter Martin W. sich von Marsalek angeblich für Informationen bezahlen ließ.

Die österreichischen Grünen stellen aktuell das Justizministerium und würden gerne das BVT umstrukturieren. Sie vermuten dort die in Österreich berüchtigte „Freunderlwirtschaft“ bei den Besetzungsverfahren. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung ist Österreichs wichtigster Geheimdienst und seit der türkis-blauen Koalition in einem ausufernden Skandal verstrickt.

Begonnen hatte es mit schillernden Vorwürfen („Sexparties“), die von der Wiener Staatsanwaltschaft untersucht wurden und sich als substanzlos erwiesen. Nachdem allerdings der neue FPÖ-Innenminister Herbert Kickl im Amt war, ließ er von einem mutmaßlichen getreuen FPÖ-Bezirksrat, der zugleich Leiter einer Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Straßenkriminalität ist, eine Hausdurchsuchung im BVT durchführen. Bei dieser höchst umstrittenen Durchsuchung wurden wichtige Dokumente beschlagnahmt. Seitdem rätselt die Republik, welche Intentionen hinter diesem schlechten Krimiplot gestanden haben könnten.

Möglicherweise wollte Kickl schlicht „umfärben“. Die ÖVP führte das Ministerium für Inneres seit dem Jahr 2000. Einer in Österreich üblichen Praxis folgend, werden die Ministerien und die ihnen unterstellten Organisationen, wie in diesem Falle eben das BVT, „eingefärbt“. Also mit Personen aus der eigenen Partei besetzt, beziehungsweise mit Personen, die weltanschaulich der Partei nahe stehen.

Dies ist eine in Österreich so selbstverständliche Praxis, dass viele in den Ministerien sich gar nicht vorstellen können, mit Personen zusammenzuarbeiten, die anders „punziert“ sind. Der neue blaue Innenminister Kickl stand somit vor dem Problem, die ihm unterstellten Organisationen erst gefügig machen zu müssen und idealerweise mit eigenen Getreuen zu besetzen. Fachliche Qualifizierung ist hierbei eher ein glücklicher Nebeneffekt.

Die aktuell mitregierenden Grünen drohen gegenüber der medial weitaus geschickter agierenden „neuen ÖVP“ unter Kanzler Kurz unterzugehen. Beharrlich versuchen sie aber auf dem Feld „Transparenz“ zu punkten. Relativ unverblümt werfen sie dem Koalitionspartner ÖVP vor, an den chaotischen und tolldreisten Zuständen im Geheimdienst nicht unschuldig zu sein. Die Grünen möchten deshalb jetzt Senate einrichten, damit in Zukunft die Postenvergabe objektiver gestaltet werden kann.

Die ÖVP sieht hingegen ihre Personalpolitik völlig zu Unrecht gescholten. Alle Skandale des BVT, ob der mögliche Geheimnisverrat an Russland oder die mögliche Fluchthilfe des Wirecard-Managers Marsalek, münden laut ÖVP-Sicherheitssprecher Karl Mahrer „in eine Straße und die führe zur FPÖ“. Dass die ÖVP Spenden von Wirecard erhielt und der Wirecard-Chef Braun im Beraterstab von Kanzler Sebastian Kurz saß, sind laut ÖVP bedeutungslose Details und stehen in keinem Zusammenhang mit Korruption.

Immer wieder Ibiza 

Möglicherweise standen die skandalträchtigen Kämpfe und Hausdurchsuchungen im BVT bereits in Zusammenhang mit dem berüchtigten Ibiza-Video, das nun auch wieder von sich reden macht. Bei der „besoffenen Gschicht“ in Ibiza hatten der damalige FPÖ-Vizekanzler HC Strache und der FPÖ-Klubobmann Johann „Joschi“ Gudenus einer hübschen Fremden (einer angeblichen Oligarchentochter) die Welt erklärt. Befördert durch ausreichend Alkohol geriet dieser schwere Fall von Mansplaining zu einer Offenbarung, die die Karrieren der beiden Politiker beendete und die türkis-blaue Koalition gleich mit.

Der Macher des Videos Julian H. sitzt in Deutschland wegen Drogendelikten und Erpressung in Haft. Es mag sein, dass auch er an einem übersteigerten Mitteilungsbedürfnis  leidet, viele der von ihm gelieferten schier unglaublichen Details scheinen sich aber mit anderen Beobachtungen zu decken, über die in Österreich seit langem gerätselt wird.

Julian H. gesteht ein, dass der Videodreh äußerst dilettantisch verlaufen sei und er sich selbst  sehr gewundert habe, warum die Politiker sich überhaupt darauf einließen. Auch seien die beiden zuvor vor dem Vorhaben gewarnt worden. Pikanterweise ausgerechnet aus dem Umfeld von Sebastian Kurz, wo man vermutlich wusste, dass die beiden Blauen nicht sonderlich trinkfest sind und zur Redseligkeit neigen.

Vom Kanzleramt kommt ein energisches Dementi und der Hinweis, Julian H. sei ein unglaubwürdiger Krimineller. Sicherlich, aber gerade der Wahlkampf  im Jahr 2017 war selbst für österreichische Verhältnisse ungewöhnlich schmutzig. Der damalige SPÖ-Kanzler Christian Kern hatte als Politikberater Tal Silberstein eingestellt, dessen Praxis des Dirty Campaignings gegen Sebastian Kurz aufflog. Für Kurz erwiesen sich die erfundenen und falschen Behauptungen im Internet über ihn als kampagnentechnischer Glücksgriff.

Spitzenkandidat und Partei konnten sich fortan als Opfer krimineller Machenschaften darstellen und in der ÖVP sprach man fortan gern von den „Silbersteins“ in der SPÖ, denn eine Prise Antisemitismus ist stets wirksam. In der SPÖ hingegen war man weniger an der Aufarbeitung des eigenen Fehlverhaltens interessiert als daran, einen Spin zu suchen, der aus der Silberstein-Affäre einen Angriff auf die Sozialdemokraten macht.

Genau den liefert nun Julian H., der aussagt, man habe ihm nie Geld für das Ibiza-Video gegeben, sondern Millionen geboten, wenn er behaupten würde, die SPÖ (und deren „Silbersteins“) hätten den Dreh initiiert. Schließlich sind in Affären wie diesen immer die Opfer die medialen Gewinner.

Echte Belege dafür, wer Auftraggeber des Videos war, gibt es keine. Weshalb durchaus schlüssig erscheint, dass der Dreh einer Aneinanderreihung von Zufällen geschuldet war. Schließlich fand Julian H. letztlich auch keine Abnehmer für das brisante Video. Weil aber FPÖ, ÖVP und SPÖ geflissentlich versuchen, sich die Opferrolle im Ibiza-Skandal zu reservieren, ist die Löchrigkeit der Argumentation von Julian H. hochwillkommen.

Tatsächlich muss die SPÖ gegen die ÖVP-Erzählung kämpfen, die Sozialdemokraten hätten nach Silberstein-Manier das Video initiiert oder zumindest davon gewusst, wenn die ÖVP sich beispielsweise öffentlich fragt, warum Christian Kern 2018 mit HC Strache gewettet habe, er sei noch länger Parteichef als dieser.

Die SPÖ sieht wiederum großes Vertuschungspotenzial bei der ÖVP und liefert dem Untersuchungsausschuss neues Material in der Schredder-Affäre. Unmittelbar nach dem Auffliegen des Ibiza-Videos im Mai 2019 bestellte die ÖVP den Reißwolf ins Haus. Pikanterweise geschah dies unter falschem Namen und so wurden – angeblich aufgrund einer Eigeninitiative eines Kanzleramtsmitarbeiters – fünf Festplatten zur Sicherheit gleich dreifach geschreddert.

Kanzler Kurz sprach von einem „normalen Vorgang“ und es seien doch schließlich nur Festplatten aus einem Drucker gewesen. Die SPÖ will nun aber Beweise haben, dass die Festplatten aus dem PC des damaligen Bundesministers im Bundeskanzleramt und heutigen Finanzminister Gernot Blümel stammen.

Cui bono?

 Die skandalträchtige Situation darf füglich als unübersichtlich bezeichnet werden. Einen unmittelbaren Vorteil daraus haben eigentlich nur die Medien, denn es wird zumindest nie langweilig in Österreich. Die politischen Würdenträger stehen hingegen durch die laufend neuen und zuweilen höchst eigentümlichen Details blamiert da. Stehsätze wie „das Ansehen der Politik wird geschädigt“ verfallen allmählich zu Staub.

Offenbar versuchen alle Akteure, möglichst viel Material den jeweiligen Gegnern vor die Haustür zu kehren. Vieles ist hier Spekulation und wird es vielleicht auch für immer bleiben. Ein paar Fakten sind allerdings unwiderlegbar und daraus erwachsen dann schon gewisse Fragen, die sich die regierende ÖVP wird stellen müssen. Die erneute Koalition mit der FPÖ in den Jahren 2017 bis 2019 kann unmöglich geleugnet werden. Welchen Hinweis hatte die ÖVP damals, dass sich die „Blauen“ seit dem Jahr 2007 (Meischberger, Grasser und Co.) gewandelt hätten? Warum war man bereit, mit der FPÖ zu koalieren, wenn man doch eigentlich mit dem blauen Sumpf nichts zu tun haben will, in dem zuverlässig schillernde Personen der Halbwelt auftauchen und man sein grundverschiedenes Staats- und Amtsverständnis gerne hervorkehrt?

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