Der Fall Kabuls: BND Insider Gerhard Conrad im Interview

BND-Zentrale in Berlin. Bild: Olaf Kosinsky/CC BY-SA-3.0.de

BND-Insider Gerhard Conrad im Interview mit Marcel Malachowski. Zum ersten Mal seit dem Fall von Kabul reagiert mit dem legendären Ex-Top-Spion („Mr. Hisbollah“) ein hochrangiger Protagonist des Geheimdienstes ausführlich auf die Vorwürfe der Politik

 

„Der mysteriöse BND-Mann“ (SZ) Gerhard Conrad, der laut unbestätigter Angaben von Wikipedia von Beruf Agent ist, ist ausgebildeter Islamwissenschaftler mit dem Spezialgebiet islamischer Rechtsgeschichte in der Levante (arabischer Ost-Mittelmeer-Raum) und war über dreißig Jahre operativ und in führenden Positionen für den deutschen Auslandsgeheimdienst BND tätig. Auch durch mehrere erfolgreiche Vermittlungen in komplexen Geisellagen in Verbindung mit dem Staat Israel gilt er in weltweiten Sicherheits- und Nachrichtendienstkreisen als „legendärer Agent“ (Jüdische Allgemeine).

„Der Mann, der in der geheimnisvollen Welt der Agenten als ‚Mister Hisbollah‘ bekannt ist“  (Spiegel), wurde unter anderem 2009 von Ministerpräsident „Bibi“ Netanyahu und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Verhandlungen im Fall des Zahal-Soldaten Gilad Shalit beauftragt, der von der Hamas entführt wurde.

Von 1998 bis 2002 war er Leiter der BND-Station Damaskus und später unter anderem auch für Residenturen im Libanon und in Israel tätig. 2011 wurde er von der US-Anti Defamation League für seinen Dienst gegen Antisemitismus ausgezeichnet. Von 2016 bis 2019 war er Direktor des neuen EU Intelligence Analysis Centre (INTCEN) der EU, das als „digitaler EU-Geheimdienst“ gilt. Heute arbeitet er unter anderem für das Bundeskanzleramt und die deutsche Bundesregierung, leitet den interdisziplinären Gesprächskreis Geheimdienste, ist in der Aus- und Weiterbildung für verschiedene Nachrichtendienste tätig und ist Gast-Professor für internationale Geheimdienst- und Politik-Studien am King´s College London.

„Es gibt viele Schnitt- und Bruchstellen zwischen Diensten und Politik“

Seit dem Fall Kabuls am Samstagnachmittag wird nun von vielen Seiten auf den BND eingeprügelt, er hätte versagt. Interessanterweise dient er auch verantwortlichen Politikern aus der Bundesregierung als Sündenbock, vor allem dem Auswärtigen Amt unter der SPD gegen das CDU-geführte Bundeskanzleramt, welches die Dienste befehligt. Ist das gerechtfertigt?

Gerhard Conrad: Dazu müsste man die eingestufte Berichterstattung des Dienstes im Detail kennen, das heißt: die Klassifikationen der entsprechenden Geheimhaltungsstufe sowie die auswertenden „Reinzeichnungen“ der Ursprungs-Berichte von „vor Ort“, denn erfahrungsgemäß folgt der Dienst jedoch aktuellen Ereignissen recht sorgfältig, auch tagesaktuell, und bewertet diese.

Generelle Übereinstimmung bestand ja auch bereits ausweislich internationaler Medien, dass die Lage spätestens ab Anfang August aufgrund von schwacher Logistik und spektakulär erodierender Loyalität der regulären Streit- und Sicherheitskräfte, wie auch kooptierter Milizen immer prekärer wurde, die Städte zunehmend auf dem Verhandlungswege an die Taliban übergeben wurden und damit Kabul Schritt für Schritt eingekreist wurde. Entscheidend im Hinblick auf den taktischen Entscheidungsprozess zur Evakuierung wird es darauf ankommen, wie der seit 07. August unübersehbare Domino-Effekt berichtet und in seinen operativen Auswirkungen auf die Lage in der Stadt analysiert worden ist.

Entgegen der fast durchgängigen Berichterstattung gab es aber wohl durchaus, zuletzt in der letzten Woche, Hinweise aus der CIA und dem BND, dass Kabul innerhalb von Tagen vor dem Fall steht und zehntausende Menschenleben gefährdet sind, einige gut vernetzte NGOs in Kabul hatten nachweisbar ähnliche Informationen und evakuierten bereits in toto. Hat die Politik diese vielleicht bewusst ignoriert? Vertreter der US-Regierung deuteten dies gestern sogar offen an mit der nun nachgereichten Begründung, „um in Kabul noch größeres Chaos, als es jetzt da ist, zu vermeiden“ …

Dies wird bei einer sorgfältigen „post mortem“-Analyse zu klären sein. Erfahrungsgemäß gibt es jedoch viele Schnitt- und Bruchstellen zwischen Diensten und politischen Entscheidungsträgern, die im Übrigen ein wichtiges Forschungsprojekt insbesondere der anglo-amerikanischen Intelligence Studies sind. Ich verweise da nur auf Robert Jervis „Why Intelligence and Policy Makers clash“ im Magazin Political Science Quarterly im Jahr 2010 oder noch ausführlicher sein Buch aus dem gleichen Jahr „Why Intelligence Fails“. Da können wir uns alle in den verschiedenen Rollen und Konstellationen, natürlich jeweils in etwas unterschiedlichem nationalen Kontext, wiedererkennen.

„Es bedarf politischer Initiative, in einem strikten Verwaltungsrahmen Kompromisse umzusetzen“

Der Chef der Kirchenasyl-Organisation Matteo, Stephan Theo Reichel, politisch durchaus eher ein konservativ-liberaler Mann aus dem schönen Franken, sprach ja nun sogar davon, das politisch und medial gestreute Spin-Narrativ vom angeblichen Versagen der Geheimdienste sei „die große Lüge, die nun erzählt wird“. Gab es denn nach Ihrer Einschätzung derartige Interessenkonflikte zwischen dem BND und Teilen der Bundesregierung, welche nun fälschlicherweise zur eigenen Schuldabwehr die Geheimdienste verantwortlich machen?

Gerhard Conrad: Das kann in der Tat seriös nur im Rahmen eines „post mortems“ beantwortet werden. Das Verhältnis zwischen Dienst und Politik sollte idealtypisch dem Prinzip „Speaking Truth to Power“ folgen, dem sich ja auch der DNI in den USA offiziell verschrieben hat. Hieraus kann im Einzelfall auch ein Spannungsverhältnis bei unwillkommenen Nachrichten entstehen. Wie schon gesagt: Eine solche Konstellation sollte man nicht postulieren, sondern gegebenenfalls aufgrund ausreichender Faktenlage ermitteln.

Aber schon seit zwei, drei Jahren hatten sich ja ganz ungewohnte politische Koalitionen ergeben: Die Bundeswehr und wohl auch das Verteidigungsministerium unter der CDU wollten möglichst viele Ortskräfte nach Deutschland holen – auch aus dem operativen Bewusstsein, keine Verbündeten in Feindesland zurückzulassen -, so wie die USA … Unterstützung erfuhren sie dabei von Pro Asyl und der linken Berliner Sozialsenatorin Breitenbach. Dagegen verzögerte das AA unter Führung der SPD offenbar bis zum Samstag die Ausstellung von Visa und rechnete die Zahlen runter. Hat sich in den politischen Konstellationen etwas verschoben?

Gerhard Conrad: Das dürfte so wohl etwas zu vereinfacht sein, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass bei solchen Operationen auch das Innenministerium ein ganz entscheidendes Wort mitzureden hat. Immerhin geht es hier um Fragen des Ausländerrechts und der inneren Sicherheit, bei denen das Bundesministerium des Inneren (BMI) nun einmal unstreitig die Federführung hat.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die massiven fachlichen Vorbehalte der Sicherheitsbehörden gegenüber den Verfahrensweisen des Jahres 2015, die den etablierten Prozeduren von Sicherheitsüberprüfung und Antragsberechtigung diametral entgegenstanden. Es bedarf hier schon erheblicher Anstrengungen und politischer Initiative, in einem recht strikt geregelten Verwaltungsrahmen die erforderlichen weitreichenden Kompromisse schnell zu finden und umzusetzen. Erfahrungsgemäß kommt eine solche Energieleistung selten ohne die einhellige Perzeption zwingender Notwendigkeit zustande.

„Selbstverständlich ist hier zur Zeit nichts“

Das Patenschaftsnetzwerk von Bundeswehr-Soldaten für die Ortskräfte – unter der Schirmherrschaft hochrangiger Führungskräfte der Bundeswehr – sprach am Dienstag gar wörtlich davon, die Bundesregierung hätte die Ortskräfte faktisch „den Taliban ausgeliefert“. Ist dieser Vorwurf zu dramatisch?

Gerhard Conrad: Eine Evakuierung noch vor einer Besetzung Kabuls durch die Taliban wäre jedenfalls deutlich aussichtsreicher und sicherer gewesen. Jetzt ist das alles eben eine Frage von Verhandlungsführung und viel Glück, verbunden mit einer entsprechenden Interessenlage der Taliban sowie ihrem Willen und ihrer Fähigkeit, diese dann auch durchzusetzen. Selbstverständlich ist hier zur Zeit nichts.

Sowohl Bundesinnenminister Seehofer als auch Dietmar Bartsch von der Linkspartei bezeichneten den Afghanistan-Einsatz seit 2001 am Wochenende wörtlich als „Desaster“, eine ungewohnte Einigkeit. Sehen Sie das auch so, als Desaster?

Gerhard Conrad: Bekanntlich ist das alles eine Frage der gewählten Maßstabs und der gesetzten politischen Ziele. Hierzu hat die Bundeskanzlerin am Dienstag alles Nötige gesagt.

Der Fog of War täuscht öfter darüber hinweg, dass manche Ursachen in Wirklichkeit ganz einfach sind … Hat man nicht schlicht versäumt, Afghanistan auch wirtschaftlich zu entwickeln und die Menschen so quasi monetär zu überzeugen? Wie US-Präsident Clinton einmal neomarxistisch sagte: „It’s the economy, stupid!“ …

Gerhard Conrad: Ganz so einfach sind die Dinge leider nicht. Es wurden über die Jahre ganz erhebliche Investitionen in Afghanistan getätigt, nicht nur im Bereich der Streit- und Sicherheitskräfte. Denken wir nur an die Vielzahl nationaler wie internationaler Hilfs- und Aufbauprojekte in vielen Teilen des Landes. Kritik hat es immer schon dahingehend gegeben, dass Projekte an den Realitäten des Landes vorbei konzipiert und umgesetzt worden seien, dass man häufig mit den Counterparts den Bock zum Gärtner gemacht habe, und dass viele Gelder in der allseits bekannten, verbreiteten Korruption auf allen Ebenen und in allen Milieus hängen geblieben seien.

Es handelt sich hier um die immerwährende Problematik von Entwicklungszusammenarbeit ohne ein ausreichendes Maß an good governance im Zielland, schlimmstenfalls dann auch noch einem Land, das sich traditionell als ebenso heterogen wie konfliktgeneigt präsentiert. Wo etwas Gemeinsames hat aufgebaut werden können, sehen wir die sehr erfreulichen Resultate, die ja nun – zur Verzweiflung der Menschen, die davon haben profitieren können – zumindest teilweise wieder zur Disposition stehen.

„Der pakistanische Geheimdienst ISI spielt eine wesentliche Rolle“

Welche Rolle spielt der pakistanische Geheimdienst ISI, er ist ein „Staat im Staate“ und in ganz Greater Middle East eine Macht?

Gerhard Conrad: Traditionell spielt er eine wesentliche Rolle, allein schon aufgrund geographischer und ethnischer Nähe, darüber hinaus aber auch aufgrund elementarer Sicherheitsinteressen gegenüber dem nördlichen Nachbarn. Dem Dienst wird seit jeher erheblicher Einfluss auf die Taliban zugeschrieben, als deren früher „Ziehvater“ und Protektor er ja immer wieder bezeichnet worden ist. Wie stets sind die Dinge auch hier nicht so einfach und holzschnittartig zu sehen, doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass es vielfältige, im Übrigen keinesfalls immer harmonische grenzüberschreitende Beziehungen gibt, geben muss, von denen zu hoffen wäre, dass sie auch im Sinne von Befriedung, Stabilität und Menschlichkeit eingesetzt werden mögen.

In Israel ist die Angst in diesen nachtdunklen Tagen sehr groß, dass sich Afghanistan stärker als vor 9/11 zu einem Zentrum globalen Terrors entwickeln könnte, verlautete inoffiziell aus den IDF und den dortigen Diensten. Das dürfte nicht völlig unrealistisch sein?

Gerhard Conrad: Israel steht mit der Sorge nicht allein, wie ja schon die jüngsten Äußerungen des NATO-Generalsekretärs haben deutlich werden lassen. Vergleichbare Perzeptionen finden wir ja auch in der US-Administration oder auch im Vereinigten Königreich und zahlreichen anderen Staaten im regionalen wie internationalen Kontext. Auch hier bleibt grundsätzlich nichts anderes übrig als international koordinierte Wachsamkeit und eine konsequente Terrorismusprävention und Bekämpfung auf allen Ebenen, verbunden mit dem Versuch einer politischen Einbindung der neuen Ordnung in internationale Zusammenarbeit und Verantwortung.

„Die eigentlichen Herausforderungen für die Taliban stehen erst noch an“

Die USA verhandeln seit Donnerstag vor einer Woche mit den Taliban über die Evakuierung, seit kurzem auch die Deutschen. Kann das gutgehen?

Gerhard Conrad: Das wollen wir hoffen! Selbstverständlich ist so ein Projekt keineswegs. Gleichwohl scheinen Ansatzpunkte für eine zumindest taktisch motivierte Mäßigung der Taliban im Interesse einer Konsolidierung der eigenen Macht im Lande gegeben zu sein. Ein militärischer Durchmarsch allein präkludiert …

… die Sprache der Dienste ist oft kunstvoll und feinstziseliert …

Gerhard Conrad: … bekanntlich nicht schon stabile Herrschaft, schon gar nicht in einem durchaus heterogenen Vielvölkerstaat wie Afghanistan. Die eigentlichen Herausforderungen für die Taliban stehen hier erst einmal noch an, was diesen – im Gegensatz zur ersten Generation in den neunziger Jahren – durchaus bewusst ist. Internationale Hilfe und Zusammenarbeit sind schon Kategorien, deren Opportunität zumindest der politischen Führung der Taliban durchaus bewusst ist. Auch hier stellt sich aktuell jeweils die Frage des „Preises“ und anschließend der Durchsetzbarkeit gegenüber möglichen militanteren Teilen der bekanntlich ebenfalls heterogenen Bewegung.

Dagegen gab es in den letzten Tagen in Deutschland aber Statements verschiedenster Regierungspolitiker, die sehr lebensfremd und teils sehr zynisch wirken, was die Details der Evakuierung on the ground angeht. Noch am Montag wurde vom AA tatsächlich erklärt, die Ortskräfte sollten schlicht auf eine SMS warten und dann einfach zum Flughafen fahren. Zu dieser Zeit war bereits halb Kabul durch Checkpoints der Taliban gesichert. Finden Sie dafür noch Worte? Kein Profi würde derart eine Evakuierungsoperation sondieren …

Gerhard Conrad: In unvorhergesehenen, dynamischen und prekären Situationen kommt es immer wieder zu solchen Ausreißern, zumal es ja auch nicht banal ist, in einer solchen Lage vernünftig zu raten. Sollten keine wirksamen Arrangements mit den Taliban getroffen werden können, bleiben ja angesichts der Kräfteverhältnisse on the ground nicht sehr viele Optionen übrig, schon gar keine guten!

Evakuierung: „Sofern die Möglichkeiten am Boden lange genug aufrecht erhalten werden können“

Mehrere tausend Menschen irgendwo auf der Welt „rauszuholen“, ist aber kein Problem, nur eine Frage des Aufwandes, das hat Israel früher durch die Rettung äthiopischer Juden bewiesen … Die USA möchten nun tatsächlich über 30.000 Menschen ausfliegen. Wird es funktionieren?

Gerhard Conrad: Auch die geheime „Operation Moses“ war ja nun sowohl politisch als auch operativ und logistisch alles andere als banal, letztlich aber in ihrer Ausgangssituation auch nicht mit der gegenwärtigen Lage zu vergleichen. Dazu betraf sie eine deutlich geringere Zahl an Schutzbedürftigen, als dies aktuell der Fall sein dürfte. Das werden alle noch lebenden Zeitzeugen mit Sicherheit bestätigen.

Der Überraschungsmoment out of the dark war mit das Entscheidende, der fehlt in Kabul …

Gerhard Conrad: Sofern die Möglichkeiten am Boden geschaffen und lange genug aufrecht erhalten werden können, würden einem solchen Exodus allerdings keine unüberwindbaren Hindernisse entgegenstehen müssen. Wie schon gesagt, unproblematisch ist das allerdings keineswegs.

ZDF-Chefredakteur Peter Frey, der ja eher der CDU nahesteht, konstatierte in seinem Kommentar am Sonntagabend im heute journal ungewohnt konsterniert und wörtlich: „Der Westen hat alle verraten, die an Demokratie und Freiheit glaubten.“ Stimmen Sie dem zu?

Gerhard Conrad: Anspruch und Wirklichkeit klaffen nach 20 Jahren schmerzlicher denn je auseinander. Insoweit ist diese Aussage Teil einer in vielerlei Hinsicht traurigen Bilanz, die es bekanntlich immer dann zu ziehen gilt, wenn westliche Intervention mit ihren selbst gesetzten, meist idealistisch formulierten Zielsetzungen trotz vielfältiger, nicht notwendig immer konsequenter, zielgerichteter und uneigennütziger Bemühungen an „den Verhältnissen“ scheitert. Afghanistan ist hier leider nur ein Fall, wenngleich aufgrund von Dauer und Ausmaß des allseitigen Engagements ein besonders tragischer.

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