Beim Mindestlohn wird gelogen und betrogen – auf dem Rücken der Beschäftigten

Bild: barockschloss/CC BY-2.0

 

In Deutschland wurde im Jahr 2015 der Mindestlohn eingeführt. Heute, 6 Jahre später, werden immer noch viele Beschäftigte um ihren Lohn geprellt und dem Staat entgehen Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben.

Die Umgehung der Zahlung des Mindestlohns ist in bestimmten Branchen besonders häufig anzutreffen, vor allem im Hotel- und Gaststättengewerbe, Einzelhandel und bei den privaten Haushalten. Dort sind besonders hohe Zahlen von Verfehlungen beobachtet worden und die Umgehung wird im Regelfall über die Gestaltung der Arbeitszeiten, konkret über unbezahlte Mehrarbeit erreicht. Die vielen unterbezahlten Menschen wissen genau, dass sie in der vorgegebenen bezahlten Zeit die geforderte Leistung nicht erbringen können. Sie müssen sich ihrem Schicksal ergeben, weil man das nur nachweisen und bekämpfen kann, wenn die Arbeitszeiten auch konkret kontrolliert werden.

Aktuell liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 9,60 Euro die Stunde. Nach dem noch gültigen Zeitplan soll er im Januar 2022 auf 9,82 Euro und im Juli auf 10,45 Euro steigen. Die neue Bundesregierung will den Mindestlohn früher als vorgesehen, auf 12 Euro pro Stunde erhöhen. Da ist es an der Zeit, eine kleine Bilanz zu ziehen.

Verstöße gegen den Mindestlohn

Bundesweit hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls (FKS) im vergangenen Jahr 44.702 Unternehmen aller Branchen geprüft. Das sind etwa 10.000 weniger, als im Jahr 2019, damals wurden noch 54.733 Betriebe kontrolliert. Insgesamt wurden 4220 Ermittlungsverfahren wegen Mindestlohn-Verstößen gegen Unternehmen eingeleitet. Rund 1000 Verstöße entfielen auf die Baubranche, 715 auf die Gastronomie und Hotellerie und 272 auf die Gebäudereinigung. Bei den meisten Vergehen wurde entweder der gesetzliche oder der branchenübliche Mindestlohn nicht ausgezahlt.

Die FKS verhängte Bußgelder in Höhe von knapp 27,2 Millionen Euro, davon allein 8,1 Millionen Euro bei den Baufirmen und 6,16 Millionen Euro gegen das Gastgewerbe. Das geht aus aktuellen Zahlen des Bundesfinanzministeriums hervor.

Die meisten Verstöße gab es mit 981 Fällen in Nordrhein-Westfalen. In Berlin wurden 201 Verstöße, in Niedersachsen 247 und in Hamburg 41 Fälle vom Zoll aufgedeckt.

Bei den oben genannten Fällen handelt es sich naturgemäß nur um die Verstöße, die bei Kontrollen festgestellt worden sind. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher sein.

Ob die vom Bundesfinanzministerium in Aussicht gestellte Personalaufstockung von 6000 Stellen für die nächsten Jahre eine Verbesserung bringen wird, ist fraglich. Auch weil eine Bundestagsanfrage der Grünen ergab, dass derzeit mehr als 3000 Planstellen nicht besetzt sind, da es keine geeigneten Bewerbungen gab. Außerdem werden bis 2030 mehr als 10.000 Beschäftigte in den Ruhestand gehen.

Bei Minijobs die meisten Verstöße

Die meisten Verstöße gegen den Mindestlohn gab es bei Minijobs. Die geringfügig Beschäftigten werden in der Regel nur bei Anwesenheit bezahlt. Obwohl sie Anspruch darauf haben, erhalten sie meistens keinen bezahlten Urlaub und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das kommt vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen vor, dort sind auch die meisten tätig.

Neue Zahlen, die die FKS nun veröffentlichte, zeigen, dass vor allem in Speditionen, Landwirtschaft, Pflegeheimen, Gastronomie- und Reinigungsgewerbe, also in den klassischen Minijob-Unternehmen gegen die Auszahlung des Mindestlohns verstoßen wird.

Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz fallen erst bei Kontrollen auf

Die Unternehmen werden aufgrund der personellen Ausstattung kaum vom Zoll behelligt, können ruhig schlafen und weiter von den Extra-Profiten träumen. Dreist wird die Auszahlung des Mindestlohns, die korrekte Aufzeichnung von Arbeitsstunden und das gesetzlich vorgeschriebene Bereithalten von Unterlagen in vielen Branchen unterlaufen.

Um prüfen zu können, ob ausreichender Mindestlohn gezahlt wird, müssen die Behörden erst einmal wissen, wie viele Stunden der Beschäftigte gearbeitet hat. Neben dem Zoll sollen auch die Länder prüfen, ob die Unternehmen Arbeitszeiten und Überstunden ordentlich erfassen. Obwohl Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit seit Jahren zunehmen, kontrollieren die Behörden aber immer seltener die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes.

Hier liegt auch der Grund dafür, warum einige Branchen, wie die Gastronomie, immer schwerere Geschütze gegen den Mindestlohn auffahren – nicht wegen der Höhe des Lohns, sondern weil durch die Kontrollen erstmals die Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz ans Tageslicht kommen.

Tricks, um den Mindestlohn zu unterlaufen

Besonders kreativ sind die Unternehmen, wenn es um die Erfindung von Möglichkeiten geht, um den Mindestlohn zu unterlaufen. In der alltäglichen Praxis gab es bisher solche Tricksereien:

  •     In manchen Betrieben wurde ohne Begründung der Mindestlohn nicht gezahlt oder behauptet, für bestimmte Tätigkeiten, Anstellungsverhältnisse wie Minijobs oder Betriebsgrößen gelte er nicht.
  •     Es wurden den Beschäftigten neue Verträge mit reduzierter Arbeitszeit vorgelegt, aber die Arbeit im alten Umfang erwartet.
  •     Im Einzelhandel haben Beschäftigte in Minijobs mit ihrem Vertrag übers Jahr gesehen eine feste Summe bekommen – ohne Berücksichtigung des Mindestlohns pro Zeitstunde.
  •     Beschäftigte erhielten nur für eine geringe Stundenzahl den Mindestlohn, der Rest wurde „schwarz“ ausgezahlt.
  •     In der Gastronomie wurden Trinkgelder verrechnet, indem das Trinkgeld in einen Topf geworfen wurde, um daraus die Lohnerhöhung zu finanzieren.
  •     Zuschläge wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld wurden gestrichen, um damit formell den Stundenlohn anzuheben. Bei anderen Beschäftigten fiel der bisher gezahlte Sonn- und Feiertagszuschlag plötzlich weg.
  •     Urlaubstage wurden auf das gesetzlich vorgeschriebene Minimum von 24 Tagen reduziert, um die Mindestlohnkosten wieder „reinzuholen“.
  •     Minijobber wurden angehalten, Familienangehörige unter 18 Jahren bei ihrem Betrieb anzumelden, um die Ausnahmeregelung für Minderjährige zur Umgehung des Mindestlohnes zu nutzen.
  •     Beschäftigte durchliefen ein mehrmonatiges Praktikum und bekamen dafür kein Geld. Laut Mindestlohngesetz ist ein freiwilliges Praktikum nach Studium oder Berufsausbildung ab dem ersten Tag der Beschäftigung mit dem Mindestlohn zu vergüten. Ausnahmen gibt es nur für bestimmte Pflicht- oder Orientierungspraktika. Reguläre Arbeit wurde so als Praktikum deklariert, obwohl es sich nicht um Lernverhältnisse handelte.
  •     Die Unternehmen reduzierten formell die Arbeitszeit, um so bei gleichbleibendem Monatsentgelt auf Mindestlohnniveau zu kommen. So etwas bedarf einer Vertragsänderung, der beide Seiten zustimmen müssen.
  •     Beschäftigte erhielten den Mindestlohn, mussten aber eine „Umsatzabgabe“ zahlen.
  •     Ein Teil der Arbeit wurde zwar zum Mindestlohn abgerechnet, Überstunden tauchten aber auf dem Lohnzettel nicht auf. In einigen Betrieben wurden bis zu 200 Überstunden nicht bezahlt. Wenn nach den Belegen gefragt wurde, gab es die gar nicht.
  •     Saisonarbeiter wurden während der Ernte nach Kilo und nicht nach abgeleisteten Stunden bezahlt.
  •     Einige Unternehmen machten sich dagegen nicht einmal die Mühe, die Nichteinhaltung des Mindestlohns zu vertuschen. Sie weigerten sich ganz offen, den Mindestlohn zu zahlen.
  •     Als Teil des zustehenden Lohns wurde den Beschäftigten im Sonnenstudio Solarium-Gutscheine, im Kino Gutscheine für Popcorn oder in der Sauna Wellness-Gutscheine überreicht.
  •     In Nagelstudios wurde nur für die Zeit bezahlt, in der die Angestellten auch Kunden behandelten.
  •     Manche Gastronomen oder Friseure ließen ihre Angestellten als Selbstständige für sich arbeiten.
  •     Frührentner, die als Busfahrer Kinder zur Schule fuhren, sollten nur dann bezahlt werden, wenn die Busse auch besetzt waren.
  •     In Bäckereien wurde die Vorbereitungszeit vor der Geschäftsöffnung unter den Tisch fallen gelassen.
  •     Beschäftigte im Dienstleistungssektor haben eine Kundenpauschale erhalten, unabhängig von der Dauer ihrer Anwesenheit im Betrieb.
  •     Eigentlich reguläre Arbeit, wie vor allem im Bereich Soziale Dienste, wurde als Ehrenamt deklariert und Minijobs mit dem Ehrenamt gekoppelt.
  •     Die Zeitvorgaben wurden so kurz bemessen, dass sie nichts mehr mit dem realistischen Zeitaufwand zu tun hatten und man bezahlte nur die vorgegebene Zeit und nicht die tatsächliche.
  •     Auch im Taxigewerbe ist das Mindestlohngesetz in besonderem Maße verletzt worden. Neun von zehn Taxifahrern arbeiteten für niedrigere Löhne. Von den mehr als 39.000 Vollzeitbeschäftigten der Branche verdienten zuletzt 87,7 Prozent weniger als die Niedriglohnschwelle von 2.056 Euro brutto im Monat.
  •     Im Reinigungsgewerbe sind Arbeitsverträge mit 20 Wochenstunden verbreitet, doch in dieser Zeit kann die geforderte Zahl an Zimmern und Quadratmetern gar nicht gereinigt werden. Die Beschäftigten mussten 5 oder auch 10 Stunden mehr arbeiten, um ihr Soll zu schaffen, aber es wurden nur 20 Stunden bezahlt.

Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro wäre auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll

Nach der neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung

 

  •     verdienen Beschäftigte in etwa 8,6 Millionen Arbeitsverhältnissen aktuell weniger als 12 Euro brutto pro Stunde.
  •     Rund zwei Drittel der gut achteinhalb Millionen Menschen, die dementsprechend direkt von einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro profitieren würden, sind Frauen.
  •     Für die Mehrzahl der Berufsgruppen, in denen aktuell weniger als 12 Euro bezahlt werden, wird eine abgeschlossene Ausbildung erfordert.
  •     Von der Anhebung des Mindestlohns würde vor allem die Entlohnung von Beschäftigten ohne Tarifvertrag profitieren. Sie sind rund dreimal so häufig von Löhnen unter 12 Euro betroffen wie Beschäftigte, die nach Tarif bezahlt werden.
  •     Die große Mehrheit der Arbeitsverhältnisse, in denen der höhere Mindestlohn direkt zu einer Lohnanhebung führen müsste, wird im Hauptberuf ausgeführt. Das sind derzeit 7,3 Millionen Arbeitsverhältnisse, rund 1,3 Millionen sind Nebentätigkeiten. Von den Hauptjobs sind rund 3 Millionen Vollzeit- und knapp 4,3 Millionen Teilzeitstellen.
  •     Rund 30 Prozent der Beschäftigten, die in ihrer Haupttätigkeit nicht nach einem Tarifvertrag bezahlt werden, arbeiten aktuell für weniger als 12 Euro pro Stunde. Mit Tarifvertrag sind es lediglich 9,5 Prozent.
  •     Die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro würde in der Gesamtgruppe der Beschäftigten, die nach Tarifvertrag bezahlt werden, eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 1,0 Prozent bewirken. Unter den Beschäftigten ohne Tarif steigen die Löhne um durchschnittlich 4,1 Prozent. Die Zahlen zeigen, dass der höhere Mindestlohn vor allem eine wirksame Stütze zur Stabilisierung der Löhne von Beschäftigten ohne Tarifvertrag ist.

Langfristig würde die Wirtschaftsleistung von einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um etwa 50 Milliarden Euro im Jahr steigen und die Einnahmen des Staates sich um rund 20 Milliarden Euro jährlich erhöhen.

Die Gesamtbeschäftigung würde von einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auch langfristig nicht negativ beeinflusst. Im Gegenteil, die Anhebung der Lohnuntergrenze über die unmittelbar betroffenen Arbeitsverhältnisse hinaus strahlt auch auf Löhne über 12 Euro aus.

Der Artikel von Laurenz Nurk erschien zuerst auf dem Gewerkschaftsforum.de.

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2 Kommentare

  1. Ich durfte 40 Jahre auf dem Bau arbeiten.
    Was die Sozialdemokratie mithilfe der Gewerkschaft geschafft haben ist Leiharbeit und Werkverträge. Inwieweit die im Artikel Berücksichtigung gefunden haben ist nicht zu lesen. Von Tönnies und Meyer Werft ist in letzter Zeit bekannt geworden das die Leute wie Vieh gehalten wurden und das auch noch bezahlen mussten. Vieh übrigens auch, mit dem Leben.
    Die Einführung des Mindestlohns auf dem Bau hat dazu geführt, dass der Durchschnittslohn gesenkt wurde und Facharbeiter mit Mindestlohn vergütet wurden. Das Arbeitsamt hat den Kapitalisten zugearbeitet, indem es Sperrzeiten gab, wenn jemand deswegen die Arbeit nicht angenommen hat. Das Reinigungsgewerbe ist auch bei der IG Bau organisiert, hier wurde massiv mit Werkverträgen gearbeitet.
    Ich halte es für Augenauswischerei einen Lohn zu fordert, wenn der bestehende nicht einmal bezahlt wird.
    Es gibt viel Dokus bei ARD und ZDF die aufzeigen wie mit Leiharbeitern und Werkvertaglern umgegangen wird. Das interessiert weder SPD noch Gewerkschaft.
    Auf dem Bau ist leicht zu prüfen, ohne aus dem Büro zu gehen, die sollen die Kalkulation offen legen, aus der hervorgeht, wie viel Stunden zu welchem Preis kalkuliert worden sind, das kann dann abgeglichen werden, ob es möglich ist. Was will der Zoll bei denen prüfen, wenn die aus Polen oder Rumänien kommen? Betriebsräte ist es untersagt sich für die Kollegen einzusetzen.

  2. Vielleicht sollte man rechtliche Grundlagen schaffen, um die Lohndumping-Kriminellen von Staatsseite aus, über den Hebel des Wettbewerbsrechts anpacken zu können. Aktuell ist das ja, wenn ich mich nicht täusche, nur durch andere Wettbewerber möglich. Nur… eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Wettbewerbsverzerrungen sind im Kapitalismus quasi Kapitalverbrechen, Arbeiter:innen ausbeuten ein Kavaliersdelikt. Nur mal so am Rande: In Deutschland leben etwa 1,5 mio Millionär:innen wovon ca. 220 Milliardär:innen sind. Das kommt nicht von irgendwo. Geld arbeitet nicht. Menschen arbeiten.

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