Regierungskrise in Österreich: SPÖ Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch im Interview

Christian Deutsch. Bild: SPÖ/CC BY-2.0

 

Der Bundesgeschäftsführer der SPÖ, Christian Deutsch, im krass & konkret-Interview mit Marcel Malachowski über die Skandale der ÖVP, den Fall Julian H., die SPD und die soziale Frage.

In aktuellen Umfragen liegt die SPD-Schwesterpartei SPÖ wieder gleichauf mit der Regierungspartei ÖVP/Die Türkisen von Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz. Der Bundesgeschäftsführer (Generalsekretär) der SPÖ, Christian Deutsch, arbeitete zuvor Jahrzehnte im Mieterschutz und war unter anderem über zehn Jahre im Vorstand der Mietervereinigung und fast zwanzig Jahre Vorsitzender der Volkshochschulen Wien, deren Aufsichtsrats-Chef er nun ist. Von 2006 bis 2008 war er Geschäftsführer des Wohnservice Wien und arbeitete später unter anderem im Präsidium des Nationalrats. Seit 2019 ist er Bundesgeschäftsführer der SPÖ.

Die SPÖ gehört zu den großen Traditionsparteien Europas, stellte über Jahrzehnte Bundeskanzler und Bundespräsidenten und entstand auch aus der SDAP, die anarchistisch beeinflusst war und bereits vor hundert Jahren die „Abschaffung der Lohnarbeit“ im Programm hatte.

„Der Austausch des Kanzlers reicht nicht“

Der neue Bundeskanzler ist nun angelobt. Ist die SPÖ denn damit erst mal zufrieden?

Christian Deutsch: Die ÖVP hat Österreich zum wiederholten Mal in eine schwere Regierungskrise gestürzt. Es haben Hausdurchsuchungen im Kanzleramt und der ÖVP-Zentrale stattgefunden. Es geht um strafrechtliche Ermittlungen, um schwerste Vorwürfe wie Bestechlichkeit und Untreue gegen den ÖVP-Obmann und engste Vertraute. Es geht um Machtmissbrauch, mutmaßliche Korruption und den völligen Verfall von Anstand und Moral. Die Chatnachrichten in seinem engsten Umfeld, die jetzt ans Licht gekommen sind, sind niederträchtig. All das wiegt so schwer, dass der Austausch des Kanzlers nicht reicht.

Manche kritisieren, nun gehe aber eigentlich im türkisen System alles weiter bis bisher?

Christian Deutsch: Ein paar Türschilder wurden ausgetauscht. Kurz bleibt aber ÖVP-Chef und wird Klubobmann. Er hat sein Büro ein paar hundert Meter vom Kanzleramt bezogen. Die engsten Vertrauten von Kurz, viele werden von der Justiz als Beschuldigte geführt, sitzen weiter an den Schaltstellen der Republik. Das türkise System regiert weiter – und damit bleiben Chaos, Instabilität und Angriffe auf Justiz und Rechtsstaat auf der Tagesordnung. Vom neuen ÖVP-Kanzler Schallenberg kommt fast täglich eine Unterstützungsgeste in Richtung Kurz, nötig wäre eine klare Trennlinie zu Kurz.

„Die Türkisen haben keinen Anstand, keine Moral und keinen Respekt“

Kurz ist durch seinen Rücktritt ja entmachtet. Hat er wirklich keine Macht mehr?

Christian Deutsch: Die Regierungsumbildung ist eine Farce. Kurz ist jetzt Schattenkanzler und wird weiter die Fäden ziehen. Er hat sich bei seiner Übernahme der ÖVP das Durchgriffsrecht in seiner Partei gesichert. Dieses wird er auch nutzen. Die Frage ist, ob sich die Anständigen in der ÖVP endlich gegen die türkisen Umtriebe wehren. Oder ob sie gemeinsam mit Kurz im türkisen Sumpf untergehen.

In der Politik in Österreich kommt es öfter zu Untergriffen, also Beleidigungen „unter der Gürtellinie“? Woran liegt das?

Christian Deutsch: Kurz ist 2017 an die Macht gekommen. Seither hat er zwei Koalitionen mit der SPÖ und der FPÖ und jetzt fast eine dritte mit den Grünen gesprengt. Damit gehen enorme Polarisierung und viel Streit einher. Die Türkisen haben keinen Anstand, keine Moral und keinen Respekt. Das sehen wir auch in den veröffentlichten Chat-Nachrichten, wo Kurz den ehemaligen ÖVP-Vizekanzler einen „Arsch“ genannt hat. Seit Kurz am Ruder sitzt, kommt das Land nicht zur Ruhe.

„Die Brutalität der Kurz-Truppe ist erschreckend“

Hat sich durch dieses Kurz-System Österreich fast schon zum Mafia-Staat entwickelt, überspitzt gesagt?

Christian Deutsch: Die Brutalität der türkisen Truppe ist erschreckend. Vieles, was jetzt ans Licht kommt, wirkt tatsächlich mafiös. Chatnachrichten wie „Du bekommst eh alles, was du willst“, „Du bist Familie“ oder „Wer zahlt, schafft an“ sprechen eine eindeutige Sprache. Hinzu kommt, dass die höchsten Vertreter der ÖVP seit über einem Jahr die Justiz massiv attackieren. All das hat in einer Demokratie und einem Rechtsstaat nichts verloren!

Und warum machen die Grünen das in der Koalition alles mit?

Christian Deutsch: Die Grünen haben es sich in den Regierungsämtern gemütlich gemacht. Dass sie bereit sind, dem türkisen Koalitionspartner bis weit über die Schmerzgrenze die Stange zu halten, haben sie mehrmals bewiesen. Österreich hat aus dem Flüchtlingslager Moria kein einziges Kind aufgenommen. Und der Untersuchungsausschuss im Parlament, der genau das untersucht hat, was jetzt ans Licht kommt, wurde von ÖVP und Grünen gemeinsam abgedreht. Klar ist jetzt jedenfalls, dass der türkise Sumpf schonungslos trockengelegt werden muss.

„Die aktuelle Teuerungswelle macht den Menschen enorm zu schaffen“

Welche Chancen hat denn das linke Lager in Zukunft?

Christian Deutsch: Die türkisen Affären, Umtriebe und Skandale erschüttern das Land seit Monaten. Was dabei völlig untergeht, ist die so wichtige Arbeit für die Menschen. In Österreich droht ein Pflegenotstand. Und die aktuelle Teuerungswelle macht den Menschen enorm zu schaffen. Gerade jetzt ist es wichtig, für Arbeitsplätze zu kämpfen, das Gesundheitssystem zu stärken und die Pflege zu sichern. Die SPÖ kümmert sich um genau diese Themen und bietet Lösungen.

In Deutschland sieht es nach Ampel aus … Bedeutet das auch Aufwind für die SPÖ?

Christian Deutsch: Olaf Scholz hat eine fulminante Aufholjagd gestartet und konnte bei der Bundestagswahl große Zugewinne erzielen. Der Wahlerfolg zeigt, dass ein langer Atem und lösungsorientierte Sachpolitik belohnt werden. Ein sozialdemokratisch geführtes Deutschland hätte positive Auswirkungen auf die gesamte EU und bedeutet Aufwind für alle, die sich für ein gerechtes, soziales und demokratisches Europa starkmachen.

Hat die Politik die Menschen „am Land und am Berg“ vergessen … und auch die Ärmeren in den Städten?

Christian Deutsch: Die Türkisen auf jeden Fall! Ihnen geht es nur um sich selbst – die eigene „Familie“. Ein Beispiel zeigt das besonders deutlich: Um an die Macht zu kommen, hat Kurz als Außenminister die eigene rot-schwarze Koalition sabotiert. Sie durfte keinen Erfolg haben. Wichtige Projekte wie die Abschaffung der kalten Progression und den Ausbau der Kinderbetreuungsplätze um 1,2 Mrd. Euro hat er sabotiert. Dafür war ihm jedes Mittel recht. In Chats schreibt er an Vertraute, dass er sogar Bundesländer dagegen „aufhetzen“ will. Dabei wäre die kostenlose Nachmittagsbetreuung gerade am Land enorm wichtig, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Wir werden auch weiterhin mit aller Kraft für diese Projekte kämpfen.

Wie bewerten Sie den Fall Julian H.?

Christian Deutsch: Die ÖVP hat nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos alles dafür getan, wieder das Innenministerium zu übernehmen. Die Sonderkommission der Polizei, die damals ermittelt hat, wurde von einem engen Vertrauensmanns der ÖVP geführt. Anstatt die Vorwürfe um Korruption und Amtsmissbrauch während der türkis-blauen Koalition aufzuklären, hat die Soko fast ihre ganzen Ressourcen in die Verfolgung von Julian H., den Macher des Ibiza-Videos, gesteckt. Das Resultat ist eine Anklage, die nichts mit dem Video zu tun hat. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sehen diese Entwicklung kritisch.

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