Die Fragen des Lübcke-Prozesses führen zum NSU-Prozess

Vernehmung von Stephan Ernst. Screenshot von YouTube-Video von STRG_F

Über seltsame Parallelen zweier historischer Gerichtsverfahren – Gab es eine Operation Rettung des Angeklagten Markus H.?

Als das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt/M. nach über sieben Monaten Verhandlungsdauer am 28. Januar 2021 die Urteile im Prozess um den Mord an Walter Lübcke verkündete, war die lebenslange Haftstrafe für Stephan Ernst keine Überraschung. Mit seinem mehrfach wiederholten Geständnis, den Kasseler Regierungspräsidenten in der Nacht auf den 2. Juni 2019 erschossen zu haben, hat sich der Hauptangeklagte selber schwer belastet.

Die eigentliche Nachricht war der Freispruch des Mitangeklagten Markus H. in dem Fall. H. wurde lediglich wegen eines Waffendeliktes zu einer eineinhalb jährigen Bewährungsstrafe verurteilt.

H. ist ein langjähriger Neonazi-Kamerad von Ernst und soll nach dessen Aussage bei der Tat dabei gewesen sein. Wenn das stimmte, müsste er als Mittäter gelten, der dasselbe Strafmaß wie Ernst zu bekommen hätte.

Allerdings wollten die Anklagebehörde Bundesanwaltschaft wie der Frankfurter Strafsenat in den Beschuldigungen Ernsts gegenüber H. keinen Beweis erkennen. „In dubio pro reo“ also, jener fundamentale Rechtsgrundsatz, der im Zweifel eher weiter als enger ausgelegt werden sollte.

Die Familie Lübcke und ihr Anwalt sehen die Sache allerdings anders. Für Rechtsanwalt Holger Matt gibt es „keine Zweifel“, dass Markus H. bei der Tat dabei gewesen ist. Die Aussage von Stephan Ernst habe Beweiskraft, so Matt in seinem Plädoyer.

Tatsächlich müssen sich Gericht und Bundesanwaltschaft fragen lassen, warum sie Ernsts Geständnis glauben, die Bezichtigung seines Freundes H. aber nicht.

Angenommen, sie trifft zu, dann gäbe es noch eine zweite Deutungsmöglichkeit des Freispruchs und die hieße: „Operation Rettung von Markus H. erfolgreich abgeschlossen.“ Gab es ein solches Interesse? Wenn ja, was hätte es dann mit dem Angeklagten H. auf sich?

In einem solchen hintergründigen Szenario könnte man im Freispruch von Stephan Ernst im Fall des Mordversuches an dem irakischen Flüchtling Ahmad I. eine geradezu strategische Bedeutung erkennen. Denn mit ihm ist auch der Freispruch von Markus H. im Lübcke-Mord leichter vermittelbar und leichter akzeptierbar.

Das Rollenspiel funktioniert auch umgekehrt. Dadurch, dass die Bundesanwaltschaft H. nur indirekte und unbestimmte Beihilfe vorgeworfen hat, wurde es dem Staatsschutzsenat erleichtert, zum Urteil Freispruch zu greifen.

Ein Angeklagter, der von Strafverfolgung verschont werden soll – wie das?

Diese Frage aus dem Lübcke-Prozess führt zu einem anderen historisch zu nennenden Gerichtsverfahren, dem NSU-Prozess in München von 2013 bis 2018.

Auch das OLG München hat am 11. Juli 2018 Urteile gesprochen, die überrascht und irritiert haben. Ralf W., der zweite Hauptangeklagte neben Beate Zschäpe, bekam zehn Jahre Haft, was in der Konsequenz Haftverschonung bedeutete. Denn damit hatte er zwei Drittel der Strafe in der Untersuchungshaft abgesessen und konnte am 18. Juli 2018, eine Woche nach der Urteilsverkündigung, freigelassen werden. Der Angeklagte André E. wurde nur zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und kam daraufhin noch am selben Tag frei.

Wie der gesamte NSU-Komplex ist auch der NSU-Prozess ohne den Player Verfassungsschutz nicht zu denken. Darin liegt im Übrigen ein wesentlicher Teil des Skandals. Führende Neonazis im NSU-Umfeld standen im Dienst des Dienstes: Tino B., Ralf M., Carsten Sz., Mirko H., Stephan L., Thomas R., Michael S., Achim Sch., Marcel D., Kai D. und so weiter und so fort.

Diese Verknüpfung von rechtsextremer Szene und Verfassungsschutzämtern reichte – mutmaßlich – bis in den Prozess hinein. In André E.s Neonazi-Gruppe „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ befand sich ein V-Mann, was allerdings erst nach dem Prozess öffentlich bekannt wurde. Um wen es sich handelte, erfuhr man bisher nicht. Theoretisch könnte es auch E. selber gewesen sein.

Ein ähnlicher Verdacht existiert auch gegenüber dem Angeklagten Ralf W., fundierter noch als bei André E. „Kronzeuge“ für diesen Verdacht ist ein ehemaliger Bundesanwalt und Verfassungsschutzpräsident eines Bundeslandes. Er will den Namen W[…] auf einer Liste des Bundesamtes für Verfassungsschutz über V-Leute in Vorständen der NPD gesehen haben.

Im Zweifel saß also mindestens ein V-Mann des Verfassungsschutzes auf der Anklagebank in München, was den Prozess zu einer doppelbödigen Angelegenheit gemacht hätte.

Nähen zum Verfassungsschutz?

Und mit dieser Perspektive nun zurück zum Lübcke-Prozess in Frankfurt und dem Angeklagten Markus H. Auch bei ihm finden sich wiederholt Berührungspunkte mit dem Verfassungsschutz (VS), seien es Anwerbeversuche, sei es die Zurückhaltung von Informationen des VS gegenüber der Waffenbehörde, oder seien es Fotografien aus VS-Besitz in der Ermittlungsakte zu Markus H.

Zu den Auffälligkeiten zählt auch das Auftreten des Angeklagten im Gerichtssaal. Immer wieder ergriff er ohne Rücksprache mit seinen Verteidigern das Wort und trat in verbale Auseinandersetzungen mit dem Vorsitzenden Richter oder beispielsweise einem Waffenexperten des Landeskriminalamtes. Ein strafprozessual äußerst riskantes Verhalten, weil jedes Wort möglicherweise als Beweis gegen ihn verwendet werden könnte.

Ein ungewöhnliches, selbständiges und selbstbewusstes Auftreten, das man auch bei bestimmten Zeugen im NSU-Prozess erlebte. So von dem Ex-V-Mann Kai D., der in der rechtsextremen Szene eine herausragende Rolle spielte. D. vermittelte vor dem OLG München den Eindruck, dass er eher ein hauptamtlicher Nachrichtendienstler als ein angeheuerter Spitzel war oder noch ist.

Beide Prozesse sind nicht abgeschlossen. Auch das Urteil im NSU-Prozess vom 11. Juli 2018 ist noch nicht rechtskräftig. Es ist derzeit gefangen im Dickicht der Revisionen, die nach dem Urteilsspruch eingelegt wurden. Zunächst galt es, auf die schriftliche Begründung des Münchner Strafsenates zu warten. Das geschah am 21. April 2020, exakt einen Tag vor Ablauf der Frist, die die Richter dafür hatten. Nun erst konnte die Phase der Revisionsbegründungen sowie der Gegenvorstellungen beginnen. Konkret: Die vier Verurteilten Beate Zschäpe, Ralf W., André E. und Holger G. legten gegen ihre Urteile Revision ein, denen jeweils die Bundesanwaltschaft entgegen trat. Die Bundesanwaltschaft legte Revision gegen das Urteil für André E. ein, der wiederum diesr entgegen trat. Lediglich Carsten Sch. akzeptierte seine Strafe und hat sie inzwischen abgesessen.

Das Prozedere der Revisionsbegründungen hat neun Monate gedauert. Am 19. Januar 2021 gingen die Schriftstücke beim Bundesgerichtshof (BGH) ein.

Dort findet nun die Überprüfung statt, ob es bei dem fünfjährigen Prozess in München Verfahrensfehler gegeben hat. Wie lange diese rechtliche Prüfung dauert, kann nicht verbindlich mitgeteilt werden. Juristen gehen davon aus, dass sie das ganze Jahr 2021 in Anspruch nimmt.

Damit wären wir bereits dreieinhalb Jahre nach der Urteilsverkündung angekommen. Am Ende der BGH-Prüfung können verschiedene Ergebnisse stehen: Sie reichen von Verwerfung der Revision, weil unbegründet, bis zur Aufhebung der Urteile und einer Neuverhandlung der Anklage.

Wann die NSU-Urteile Rechtskraft erlangen, kann also noch nicht prophezeit werden. Möglicher Nebeneffekt: Bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe werden unverändert neun konkrete Ermittlungsverfahren gegen neun Personen aus dem Umfeld des NSU wegen Unterstützung des Trios geführt. Man kann davon ausgehen, dass während der Dauer des Revisionsverfahrens diese Verfahren oder einzelne von ihnen nicht eingestellt werden und der juristische Schlussstrich also nicht gezogen werden kann.

Warten auf den Untersuchungsausschuss

Auch im Strafprozess um die Ermordung Walter Lübckes hat nach der Urteilsverkündung von Ende Januar nun das Revisionsprozedere begonnen. Vier Parteien haben Revision eingelegt: der Angeklagte Stephan Ernst, der Angeklagte Markus H., die Bundesanwaltschaft wegen des Freispruchs von H. sowie die Familie Lübcke als Nebenkläger ebenfalls wegen des Freispruchs für H. Einzig der Nebenkläger Ahmad I. verzichtet auf eine Revision.

Nun heißt es zunächst wieder warten auf die schriftliche Urteilsbegründung durch das OLG Frankfurt/M. Die soll Mitte Mai 2021 vorliegen. Danach läuft die Frist für die Revisionsbegründungen, die in diesem Fall einen Monat dauert. Und dann geht alles zum BGH nach Karlsruhe zur Überprüfung.

Zwischenzeitlich dürfte der parlamentarische Untersuchungsausschuss in Hessen zum Mordfall Lübcke seine Arbeit aufgenommen haben. Er sitzt seit langem in den Startlöchern, musste aber das Ende der Hauptverhandlung in Frankfurt abwarten, weil der dortige Staatsschutzsenat die Unterlagen erst nach Prozessende der Legislative überlassen wollte.

Die Causa Markus H. wird auf der Tagesordnung in diesem Untersuchungsausschuss stehen.

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