Alexander Rahr: „Die russische Militärführung erkennt die Notwendigkeit der asymmetrischen Kriegsführung an“

Kreml. Bild: Ana Paula Hirama/CC BY-SA-2.0

80 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Russland: Gazprom-Topberater Alexander Rahr im Interview mit Marcel Malachowski über verpasste Versöhnung, alte Ressentiments, neue Fronten und die russische Metropole Berlin.

 

Der deutsch-russische Historiker und Politologe Alexander Rahr ist Bevollmächtigter des russischen Staatskonzerns Gazprom für die EU und Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums (Mitglied ist u.a. Matthias Platzeck). Zuvor arbeitete er über zwanzig Jahre unter anderem in führenden Positionen für Behörden und Analysedienste, die der deutschen Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt nahestehen, sowie für das US-Radio Liberty und die global operierende Rand Corporation (Mitglieder sind/waren unter anderem Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld, David Schiller), die unter anderem die US Army berät. 2013 vermittelte er zusammen mit Hans-Dietrich Genscher im Kreml in der Chodorkowski-Affäre.

„Das russische Militär zu provozieren, verschärft nur die Spannungen“

Der Kreml bewertete den Gipfel von Präsident Putin mit US-Präsident Biden als sehr positiv. Ist denn jetzt alles wieder gut?

Alexander Rahr: Die Gefahr einer unaufhaltsamen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen konnte durch das Gipfeltreffen vorerst gestoppt werden. Die USA werden im Kampf gegen den Islamismus mit Moskau kooperieren, vielleicht gelingt auch eine Abrüstung im Cyber-Raum. Ein Erfolg aus westlicher Sicht ist, dass ein chinesisch-russisches Militärbündnis nicht zustande kommt. Auch diejenigen politischen Kräfte in Europa, die eine Normalisierung mit Moskau wollen, bekommen durch den Biden-Putin Gipfel Rückenwind.

Die Ereignisse rund um den Beschuss eines britischen Schiffes vor der Krim sprechen ja eine andere Sprache, oder?

Alexander Rahr: Großbritannien ist das westliche Land, das die Speerspitze bei der Konfrontation mit Moskau bildet. Die Gründe dafür sind nicht durchsichtig. Das russische Militär auf der Krim zu provozieren, verschärft nur die Spannungen und die Möglichkeit eines bewaffneten Konfliktes. Die Krim ist für die Ukraine verloren, auch wenn das viele im Westen nicht akzeptieren wollen. Genausowenig wie die Kosovaren nach Serbien zurück wollen, möchte die ethnisch mehrheitlich russische Bevölkerung auf der Krim bei Russland bleiben.

Der belarussische Präsident griff Deutschland wegen der neuen Sanktionen zum 22. Juni scharf an, die Bundesregierung bezeichnete dies als nicht kommentierbar. Wie bewerten Sie solche Vorgänge?

Alexander Rahr: Deutschland sollte sich, aufgrund der Nazi-Gräuel im Zweiten Weltkrieg, bei „Strafaktionen“ gegen Belarus nicht in die Frontreihe stellen. Die westlichen Strafaktionen, wie Flugverbote und Handelsembargos, treffen nicht Lukaschenko, sondern gerade die Teile der belorussischen Zivilbevölkerung, die mit dem Westen sympathisieren. Noch mehr Härte gegen Belarus wird das Land weiter Richtung Integration mit Russland treiben.

Anders als in der Ukraine, wird in Belarus von außen kein Regime-Change funktionieren. Auch wenn das schwierig ist: Auf Lukaschenko kann der Westen nur mit – und nicht gegen – Moskau einwirken. Eine NATO-Erweiterung auf Belarus wird jedoch Russland niemals akzeptieren.

„Der Aussöhnungsprozess erscheint den heutigen deutschen Eliten nicht mehr notwendig“

Wie präsent ist in Russland noch der Überfall Deutschlands? Die Opfer wurden von Deutschland bis heute nicht entschädigt, es gab nur „warme Worte“ …

Alexander Rahr: Deutschland hat in den letzten acht Jahrzehnten viel für die Aussöhnung mit der Sowjetunion und dann Russland getan. Dieser Aussöhnungsprozess erscheint den heutigen deutschen Eliten aber nicht mehr notwendig. Dass Deutschland vor 80 Jahren keinen „normalen“, sondern einen totalen Vernichtungskrieg gegen die ostslawischen Völker führte, ist in Deutschland mehrheitlich nicht bekannt. Stattdessen feiern Feindschaftsbilder aus dem Kalten Krieg eine erschreckende Renaissance. Wir im Westen verstehen nicht, welche Sicherheitsängste unsere engstirnige NATO-Osterweiterung auslöst. Die deutsch-französische Aussöhnung legte einmal das Fundament für die heutige EU und den europäischen Frieden. Das künftige Gesamteuropa kann ohne eine ähnlich historische Aussöhnung mit Russland nicht existieren.

Schadet Lukaschenko nicht mit seiner Politik der Bevölkerung in Belarus?

Alexander Rahr: Auch wenn viele von uns es nicht wahrhaben wollen: Lukaschenko hat für die Weissrussen keine schlechte Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben. Kaum Arbeitslosigkeit, kein Raubtierkapitalismus, ein funktionierender Mittelstand, erfolgreiche Infrastrukturprojekte und wenig Kriminalität – hier genießt Lukaschenko in der Bevölkerung Sympathien. Dass vor allem die jüngere Generation immer mehr politische Freiheiten fordert, Lukaschenko aber mit massiven Repressalien gegen seine Kritiker vorgeht, ist der andere Teil der Wahrheit. Ich glaube, dass Lukaschenkos Zeit abgelaufen ist. Er wird das autoritäre Machtsystem in Belarus verändern und einen Nachfolger in den eigenen Reihen finden, der ihm persönlich Garantie vor strafrechtlicher Verfolgung geben wird. Das „Modell Jelzin“ kommt.

Im Westen wird ja oft behauptet, Putin stehe voll und ganz hinter Lukaschenko. Kann das stimmen?

Alexander Rahr: Putin misstraut der Schaukelpolitik von Lukaschenko. Wenn es zum Streit mit dem Westen kommt, rennt Lukaschenko immer hilfesuchend mach Moskau. Aber eine Angliederung seines Landes an Russland, was Putin seit 20 Jahren vorschwebt, will Lukaschenko nicht. Er hat sich schon oft um 180 Grad gedreht und ist dem Westen stets wieder in die Arme gefallen, wenn der Druck aus Russland zu stark wurde oder Lukaschenko die schleichende Übernahme der belorussischen Wirtschaft durch Russland aufhalten wollte.

„Die Legionäre der Wagner-Truppe sollen ruhig die „Drecksarbeit“ machen“

Welche Stellung nimmt Russland im Moment im Weltgeschehen ein?

Russland ist eine militärische Großmacht, wirtschaftlich aber noch Entwicklungsland. Russland streitet offen mit dem Westen für eine Umwandlung der globalen Weltordnung von einer unipolaren hin zu einer polyzentrischen. In dieser Frage ist Moskau mit Beijing verbunden. Russland fordert sowohl in Europa als auch in Asien eine führende Gestaltungsrolle. Da Europa heute der Westen ist, Russland aber nicht Teil des Westens werden kann, orientiert sich Russland heute wirtschaftlich und sicherheitspolitisch stärker nach Asien. Aus russischer Sicht befindet sich die europäische Sicherheitsarchitektur in einer schiefen Lage und muss unter Berücksichtigung russischer Interessen korrigiert werden.

Im russischen Militärapparat gibt es vor allem bei einflussreichen Veteranen Unmut über das Outsourcing nach US-Vorbild an die Gruppe Wagner, die unter anderem in Afrika agiert. Ist das nicht ein Problem?

Alexander Rahr: Ich denke nicht, dass die russischen Militärs nach dem Vorbild der Sowjetunion überall auf der Welt präsent sein wollen. Die Legionäre der Wagner-Truppe sollen ruhig die „Drecksarbeit“ gegen gute Bezahlung machen. Die oberste russische Militärführung erkennt die Notwendigkeit der Umstellung auf asymmetrische Kriegsführung an. Die russische Armeeführung war niemals politisch geprägt. Ich kenne kein Beispiel aus der jüngsten Geschichte, wo die Militärführung den Entscheidungsträgern im Kreml opponiert hat.

„Mit Israel hat Russland ein freundschaftliches Verhältnis“

Das Verhältnis zwischen Israel und Russland ist sehr gut. Wird Russland eine neue Ordnungsmacht in dieser Region?

Alexander Rahr: Anders als die Sowjetunion, hat Russland keine übergeordneten ideologischen Ziele hinsichtlich der einzelnen Weltregionen, mit Ausnahme der wirtschaftlichen (Waffen, Öl/Gas). Russlands Nahostpolitik stützt sich auf zwei Pfeiler: Eindämmung des Islamismus (der Russland selbst gefährlich werden könnte), sowie Unterbindung der westlichen Regime-Change-Politik. Mit Israel, wo Millionen Ex-Bürger der Sowjetunion leben, hat Moskau ein freundschaftliches Verhältnis, mit Ausnahme der Beziehungen zum Iran.

… in Tel Aviv sind manche Stadtteile nur auf Kyrillisch beschildert, man fühlt sich wie in St. Petersburg …

Alexander Rahr: Nach dem Abzug der NATO aus Afghanistan könnte Russland in der Tat eine größere Gestaltungsrolle im Mittleren Osten übernehmen, aber eher im Verbund mit der neuen Supermacht China.

Ist Nawalny in Russland nach Ihrer Einschätzung wirklich so beliebt, wie es hier oft dargestellt wird?

Alexander Rahr: Nawalny genießt in Russland viele Sympathien als mutiger Kämpfer gegen die Korruption. Ein Oppositionsführer in Russland, wie er im Westen genannt wird, ist er dagegen nicht. In den Großstädten des Landes, wo die Bürgerrechte als wichtig erachtet werden, genießt Nawalny die größte Unterstützung. Wenn man das ganze Land nimmt, liegt sein Rating aber nur bei 5 Prozent (Putin 35 Prozent). Um Putin wirklich herauszufordern, muss Nawalny alle liberalen Kräfte einen, wie es Boris Jelzin im Machtkampf mit dem Kreml vor 30 Jahren erfolgreich gemacht. Dazu fehlt Nawalny die Kraft.

„Russland pflegt traditionelle Werte“

In den 1980ern gab es den sehr amüsanten US-Spielfilm „Hilfe, die Russen kommen!“, ironisch zitiert auch in neueren Hollywood-Filmen wie „Beim ersten Mal“ … Das Russland-Bild ist im Westen ja bis heute sehr kurios und ambivalent, Bewunderung mischt sich mit diffuser Furcht vor den „Barbaren des Ostens“, durchmischt mit subtilem anti-slawischem Rassismus. Warum ist Russland bis heute solch ein Fixpunkt in der westlichen Wahrnehmung?

Alexander Rahr: Die Gegnerschaft Russlands und des Westens hat permanenten Charakter. Russland hat sich viel später als andere europäische Nationen zum Imperium entwickelt, im Grunde erst seit Peter dem Grossen. Russlands imperiale Größe wuchs in stetiger Konkurrenz zu den anderen europäischen Großmächten. Russland trachtete nie danach, Teil der europäischen Werteordnung zu sein. Es war orthodox, nicht katholisch. Reformation und Aufklärung gingen an Russland vorbei. Russland entwickelte sich zum Hauptgegner der Ideen der Französischen Revolution.

Das gesamte 20. Jahrhundert fühlten sich alle Staaten Europas vom russisch-sowjetischen Bolschewismus bedroht. Den Zerfall der UdSSR empfand der Westen wie einen großen historischen Triumph, in Russland wird er heute als Katastrophe empfunden. Heute eskaliert wieder der Wertekonflikt. Russland baut einen starken Nationalstaat auf, pflegt traditionelle Werte, lehnt den westlichen Postmodernismus und Transhumanismus ab und sagt, es sei ein „anderes Europa“. Der Westen will nur ein demokratisches und liberales Russland akzeptieren.

Den Wertekonfikt werden wir auch noch im 22. Jahrhundert sehen. Es gibt Staaten wie Deutschland, die ein gemeinsames Europa mit Russland für wünschenswert halten. Es gibt aber auch andere Staaten, vor allem in Ostmitteleuropa, die ihre nationale Identität auf dem Status des „Opfers russischer Aggression“ pflegen.

Aber eigentlich ist ganz Osteuropa von Polen bis zum Balkan und Bulgarien oder gar über den Ural bis nach Asien hinaus für den Westdeutschen immer noch sehr fremd, es gilt geradezu als Anti-Bild der „Aufklärung“, heute kommt dieses Heraufbeschwören einer Gefahr von dort sogar eher aus linksliberalen Kreisen … Dabei war der anti-östliche Rassismus immer sehr verwandt mit dem Antisemitismus in seinen Bildern. Auch das Konstrukt multikultureller Vielvölkerstaaten, wie es Jugoslawien sehr fortschrittlich war oder vor allem Bulgarien und Russland es in einzigartiger Weise sind, rief Ablehnung hervor. Ist Russland also realiter Symbol der Moderne oder einer reaktionären Vergangenheit, wie einige von oben herab meinen?

Alexander Rahr: Ich sehe es so: Der Westen will sich weiter konsolidieren auf der Basis der Transatlantischen Gemeinschaft und der politischen Europäischen Union. Wir sehen den historischen Versuch, das einstige Imperium Karl des Grossen wiederherzustellen. Russland opponiert einer solchen europäischen Ordnung aufgrund seiner Andersartigkeit und wegen eigener, unterschiedlicher Interessen. Für fortschrittliche Linksliberale in Europa besitzt Russland die „falsche Zivilisation“. Russland ist ein Barbar. Ein Versuch, sich intensiver mit dem Wesen Russlands zu beschäftigen, gilt hierzulande als verpönt. Russland hat gefälligst die westlichen Werte zu teilen.

Die Tatsache, dass europäische Traditionalisten, Querdenker, Eurogegner und Nationalisten mit Russland sympathisieren, führt bei den Linksliberalen zu permanenten Wutausbrüchen. Was nicht sein darf, kann nicht sein! Kommt es zum Kräftemessen oder modernen Kulturkampf in Europa?

Die Stadt Berlin war schon vor hundert Jahren stark russisch-polnisch, jüdisch und osteuropäisch geprägt, Charlottenburg wurde Charlottengrad genannt, heute ist es wieder so, rund um den Stuttgarter Platz und den Grunewald. Es gibt ein sehr lebendiges russisches Nachtleben in Berlin, zum Beispiel mit dem großartigen „Cozy Club“. So wie München oft als nördlichste Stadt Italiens bezeichnet wird, wird Berlin wieder zur westlichen Stadt Russlands. „Was kostet Berlin?“, so heißt ein russischer Schlager …

 

Alexander Rahr: Berlin sehe ich eher als Zentrum des postmodernen Europas, noch sehr stark transatlantisch geprägt, obwohl diese Prägung aufgrund der Mentalität der Ostdeutschen langsam nachlässt. Mich erinnert Deutschland an die alte Bonner Republik, aber in den zwanziger Jahren wird Berlin mehr zum Fenster Russlands nach Westen und gleichzeitig das westliche Tor nach Russland und Eurasien. Nicht zuletzt wird Sputnik V über Deutschland nach Europa kommen und Deutschland sich für Visumerleichterungen für Russen einsetzen. Der russische kulturelle Einfluss in Berlin bleibt stark. Dazu tragen die ca. 250.000 russisch sprechenden Menschen in Berlin bei.

In keinem anderen europäischen Land und in keiner europäischen Metropole gibt es so viele Sympathien und so viel Verständnis für Russland, auch wenn dieser Tatsache in den Eliten Deutschlands nicht Rechnung getragen wird. Allerdings laufen die Deutschen, aufgrund ihrer teils hochmütigen Dauerkritik an Russland, Gefahr, die Sympathien bei den Russen zu verspielen. Ich mag auch nicht, wenn unsere Politiker sagen, Polen, Ukraine und die Balten seien uns Deutschen näher als Russland. Nein, mit einer solch großen und bedeutenden Nation wie Russland braucht Deutschland gute, mehr als nur verlässliche Beziehungen – und eine strategische Partnerschaft.

„Niemand regt sich darüber auf, das Assange im britischen Gefängnis sitzt“

Hinter den Kulissen der Geheimdienste arbeitet ja jeder mit jedem multikulturell zusammen, wenn es allen Beteiligten nützt. Sind manche Konflikte also insgeheim gar nicht so groß, wie es in der offiziellen Tagespolitik dargestellt wird? Es war ja kaum so, dass der „Tiergarten-Mord“ an einem antisemitischen Ex-Terroristen bei der CIA oder dem Mossad jemanden menschlich erschütterte, verständlicherweise …

Alexander Rahr: Oftmals beschleicht mich das Gefühl, vor allem, wenn ich Meinungsumfragen lese, dass die Deutschen mit den Russen gute und stabile Beziehungen unterhalten wollen. Die Scharmützel finden in den Eliten der Länder statt. Viele einfache Bürger sprechen heute immer öfter von der Doppelmoral unserer Politiker Richtung Russland. Wegen Nawalny werden Sanktionen gegen Russland verhängt – aber niemand regt sich darüber auf, dass Assange im britischen Gefängnis sitzt. Das den Serben entrissene Kosovo soll unabhängig sein dürfen, die von mehrheitlich ethnischen Russen besiedelte Krim darf nicht nach Russland. Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass der amerikanische Leitsatz „we have to do the right thing“ in einer multipolaren Welt nur über Kompromisse und Respekt für die andere Seite gilt.

In jeder seiner jährlichen großen Reden weist Putin auch auf das Problem der Armut im eigenen Land hin, aber passiert ist noch nicht so viel. Woran liegt das?

Alexander Rahr: Lesen Sie nicht nur die Überschriften in den Leitmedien. Diese schreiben seit Jahren, dass Russland zusammenkrachen wird.

Aber Putin thematisiert es selber in seinen Reden …

Alexander Rahr: Wenn Sie sich im heutigen Russland umschauen, so finden Sie natürlich noch zahlreiche Probleme vor: Korruption, Übermacht der Oligarchen. Aber viel ist auch erreicht worden. Ich nenne nur einige Stichpunkte: kaum Arbeitslosigkeit, ein funktionierendes Sozialsystem, gelungene Infrastrukturprojekte (vor allem im Transportwesen), ein Reservefonds von über 500 Milliarden US-Dollar, Abbau der Rohstoffexportabhängigkeiten, Fortschritte bei der Digitalisierung. Die russische Wirtschaft gehört zu den 10 größten der Welt.

„Ich wünsche mir, dass ein Europa mit Russland die Herzen erobert“

Gibt es nach Ihrer Einschätzung russische Einflussnahme auf den deutschen Wahlkampf?

Alexander Rahr: Wie soll es denn ablaufen, dieser Einfluss auf die Wahlen? Die Bild-Zeitung schreibt, die russischen Medien wollen kritisch über die Grünen berichten und so ihren Aufstieg verhindern. Ja, werden jetzt die Millionen grüner Wähler kein Kreuz mehr hinter dieser Partei machen, weil russische Propaganda sie davon überzeugt, dass die Grünen schlecht sind? Oder werden russische Trolle und Hacker das Bewusstsein und Verhalten der deutschen Wähler in den Wahlkabinen manipulieren? Ich frage mich, wer hierzulande den Unsinn glauben soll.

Deutsche Medien haben im US-Wahlkampf euphorisch über Biden berichtet und Trump schlecht gemacht. War das bösartige Einmischung von außen? Ich habe den Verdacht, dass bestimmte politische Kräfte in Deutschland absichtlich das russische Feindbild pflegen, weil sie sich dadurch Pluspunkte in der Öffentlichkeit erhoffen. Grün wählen, damit der böse Russe keinen Einfluss in Deutschland bekommt! Im Übrigen finden viele Russen Frau Baerbock sympathisch. Sie sei eine junge Mutter, würde eine gute Familienpolitik betreiben. Auch glauben viele Russen, dass man mit Frau Baerbock gemeinsame Umwelt-und Klimaprojekte auf die Beine stellen kann. In unseren Medien steht, der Kreml würde die AfD hofieren. Dabei reden russische Politiker mit den politischen Kräften in Deutschland, die das Feindbild beseitigen wollen. Dazu gehören vor allem die Linke und die SPD. Wieso sollte das nicht legitim sein?

Bundeskanzlerin Merkel hat ja zusammen mit Macron nun einen EU-Gipfel mit Putin vorgeschlagen. Die Niederländer und andere reagierten sehr negativ. Wird es nun zu einem Dreiertreffen kommen?

Alexander Rahr: Europa ist bezüglich Russland tief gespalten. Deutschland und Frankreich, aber auch Österreich, haben sich nach dem Ende des Kalten Krieges mit den Russen vertragen. Die ostmitteleuropäischen Staaten kämpfen dagegen die Gefechte des vergangenen Kalten Krieges gegen Moskau noch aus. Sie werden von Großbritannien und den Niederlanden unterstützt. Dass die Ostmitteleuropäer den Russen, die Nachfolger der Sowjetunion geworden sind, die 45jährige kommunistische Okkupation anlasten, ist nachvollziehbar. Doch was sollen die Russen machen?

Russland hat, anders als Deutschland 1945, nicht vor dem Westen kapituliert. Erinnern wir uns – vor 30 Jahren kamen Reform und Demokratie aus Moskau (Perestroika, Glasnost) in die Ostblockländer. Statt den Amerikanern ständig für die NATO-Osterweiterung zu danken, sollten sich die Ostmitteleuropäer gerade im 30. Jubiläumsjahr des Endes des Kalten Krieges auch bei Russland für die Freiheitsgewinnung bedanken. Inzwischen leben wir in ganz anderen Zeiten und Narrativen. Ich wünsche mir trotzdem, dass die Idee eines Europas mit Russland vom Atlantik bis zum Pazifik eines Tages wieder auferweckt wird und die Herzen der Europäer erobert. Ein Europa mit Russland ist stärker als ein Europa gegen Russland.

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Ein Kommentar

  1. Die Bezeichnung „liberal“ oder gar „linksliberal“ im Text wirkt sehr befremdlich. Ich würde das ganz klar neoliberal nennen, oder wegen der Kriegsgeilheit und teilweisen Abkoppelung von der Realität dieser Personen auch präfaschistisch.

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