Eurasiens Ring des Feuers

Kampf um die Kontrolle von Eurasien. Bild: Maphobbyist/CC BY-SA-2.5

Der epische Kampf um das Epizentrum der amerikanischen Weltmacht

Das ganze Jahr 2021 über waren die Amerikaner in Auseinandersetzungen über Maskenpflicht, Schulschließungen und die Bedeutung des Anschlags auf das Kapitol am 6. Januar vertieft. Währenddessen brachen in ganz Eurasien geopolitische Krisenherde aus und bildeten einen wahren Feuerring um diese riesige Landmasse.

Drehen wir eine Runde um diesen Kontinent, um nur einige dieser Krisenherde zu besuchen, von denen jeder einzelne für die Zukunft der globalen Macht der USA von großer Bedeutung ist.

An der Grenze zur Ukraine wurden 100.000 russische Soldaten mit Panzern und Raketenwerfern zusammengezogen, bereit für eine mögliche Invasion. In der Zwischenzeit unterzeichnete Peking ein 400-Milliarden-Dollar-Abkommen mit Teheran, um den Bau von Infrastrukturen gegen iranisches Öl einzutauschen. Ein solcher Tausch könnte dazu beitragen, dieses Land zum künftigen Eisenbahnknotenpunkt Zentralasiens zu machen und gleichzeitig Chinas Militärmacht in den Persischen Golf zu projizieren. Unmittelbar hinter der iranischen Grenze in Afghanistan stürmten Taliban-Guerillas Kabul und beendeten damit die 20-jährige amerikanische Besatzung, während mehr als 100.000 besiegte afghanische Verbündete in hektischen Pendelflügen ausgeflogen wurden.

Weiter östlich, hoch im Himalaya, gruben Ingenieure der indischen Armee Tunnel und brachten Artillerie in Stellung, um künftige Zusammenstöße mit China abzuwehren. Im Golf von Bengalen führten ein Dutzend Schiffe aus Australien, Indien, Japan und den Vereinigten Staaten unter der Führung des Superträgers USS Carl Vinson scharfe Schießübungen durch, um für einen möglichen künftigen Krieg mit China zu üben.

In der Zwischenzeit fuhren amerikanischer Marineschiffe kontinuierlich durch  das Südchinesische Meer, wobei an chinesischen Inselstützpunkte vorbeifuhren und ankündigten, dass Proteste aus Peking „uns nicht abschrecken werden“. Etwas weiter nördlich durchquerten US-Zerstörer, die von China angeprangert wurden, regelmäßig die Straße von Taiwan, während ein Schwarm von etwa 80 chinesischer Kampfjets in die Luftsicherheitszone der umstrittenen Insel eindrangen, was Washington als „provokative militärische Aktivität“ verurteilte.

Vor der Küste Japans drang eine Flottille von 10 chinesischen und russischen Kriegsschiffen aggressiv in die Gewässer ein, die einst praktisch der Siebten Flotte der USA gehörten. Und in den kalten arktischen Ozeanen weit im Norden manövrierte dank der radikalen Erwärmung des Planeten und des zurückweichenden Meereises eine wachsende Flotte chinesischer Eisbrecher zusammen mit ihren russischen Kollegen Gegenstücken, um eine „polare Seidenstraße“ zu eröffnen und damit möglicherweise das Dach der Welt in Besitz zu nehmen.

Während man in den amerikanischen Medien fast alles darüber lesen konnte, manchmal sogar sehr detailliert, hat hier niemand versucht, solche transkontinentalen Punkte zu verbinden, um ihre tiefere Bedeutung aufzudecken. Die führenden Politiker unserer Nation haben es offensichtlich nicht viel besser gemacht, und dafür gibt es einen Grund. Wie ich in meinem kürzlich erschienenen Buch To Govern the Globe erkläre, sind sowohl die liberalen als auch die konservativen politischen Eliten im Machtkorridor New York-Washington schon so lange an der Spitze der Welt, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können, wie sie dorthin gekommen sind.

In den späten 1940er Jahren, nach einem katastrophalen Weltkrieg, der etwa 70 Millionen Tote forderte, baute Washington einen mächtigen globalen Machtapparat auf, vor allem dank der Einkreisung Eurasiens durch Militärbasen und den globalen Handel. Außerdem schufen die USA ein neues System der globalen Ordnung, das von den Vereinten Nationen verkörpert wurde und nicht nur ihre Hegemonie sichern, sondern auch – so hoffte man damals – eine nie dagewesene Ära des Friedens und des Wohlstands herbeiführen sollte.

Drei Generationen später jedoch, als Populismus, Nationalismus und Antiglobalismus den öffentlichen Diskurs beherrschten, machten sich erstaunlich wenige in Washington die Mühe, ihre Weltordnung auf sinnvolle Weise zu verteidigen. Und noch weniger von ihnen hatten ein wirkliches Verständnis für die Geopolitik – jene schlüpfrige Mischung aus Rüstung, besetzten Ländern, unterworfenen Herrschern und Logistik -, die für jeden imperialen Führer das unverzichtbare Instrumentarium für die effektive Ausübung globaler Macht darstellt.

Lassen Sie uns also das machen, was die Außenpolitikexperten unseres Landes, innerhalb und außerhalb der Regierung, nicht getan haben, und die jüngsten Entwicklungen in Eurasien durch das Prisma der Geopolitik und der Geschichte betrachten. Wenn Sie das tun, werden Sie begreifen, wie diese Entwicklungen und die tieferen Kräfte, die sie repräsentieren, Vorboten eines epochalen Rückgangs der amerikanischen Weltmacht sind.

Eurasien als das Epizentrum der Macht auf dem Planeten Erde

In den 500 Jahren, seit die europäische Entdeckung die Kontinente zum ersten Mal in ständigen Kontakt gebracht hat, war für den Aufstieg eines jeden globalen Hegemons vor allem eines erforderlich: die Vorherrschaft über Eurasien. Ebenso ging ihr Niedergang stets mit dem Verlust der Kontrolle über diese riesige Landmasse einher. Im 16. Jahrhundert kämpften die iberischen Mächte Portugal und Spanien gemeinsam gegen das mächtige Osmanische Reich, dessen Anführer damals der Kalif des Islam war, um die Kontrolle über den Seehandel Eurasiens. Im Jahr 1509 zerstörten geschickte portugiesische Kanoniere vor der Küste Nordostindiens eine muslimische Flotte mit tödlichen Breitseiten und begründeten damit die jahrhundertelange Vorherrschaft Portugals über den Indischen Ozean. In der Zwischenzeit nutzten die Spanier das Silber, das sie aus ihren neuen Kolonien in Amerika gewonnen hatten, für einen kostspieligen Feldzug, um die muslimische Expansion im Mittelmeer einzudämmen. Ihr Höhepunkt war die Zerstörung einer osmanischen Flotte von 278 Schiffen in der epischen Schlacht von Lepanto im Jahr 1571.

Als nächstes begann die Herrschaft Großbritanniens über die Weltmeere mit einem historischen Seesieg über eine kombinierte französisch-spanische Flotte vor dem spanischen Kap Trafalgar im Jahr 1805 und endete erst, als 1942 eine britische Garnison von 80.000 Mann ihre scheinbar uneinnehmbare Marinefestung in Singapur den Japanern überließ – eine Niederlage, die Winston Churchill als „die schlimmste Katastrophe und größte Kapitulation in der britischen Geschichte“ bezeichnete.

Wie alle imperialen Hegemone der Vergangenheit beruhte auch die globale Macht der USA auf der geopolitischen Vorherrschaft über Eurasien, wo heute 70 % der Weltbevölkerung und der Produktivität leben. Nachdem es dem Achsenbündnis aus Deutschland, Italien und Japan nicht gelungen war, diese riesige Landmasse zu erobern, ermöglichte es der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg Washington, wie es der Historiker John Darwin formulierte, sein „kolossales Imperium … in einem noch nie dagewesenen Ausmaß“ aufzubauen und als erste Macht in der Geschichte die strategischen Achsenpunkte „an beiden Enden Eurasiens“ zu kontrollieren.

In den frühen 1950er Jahren schmiedeten Josef Stalin und Mao Zedong ein chinesisch-sowjetisches Bündnis, das den Kontinent zu beherrschen drohte. Washington konterte jedoch mit einem geschickten geopolitischen Schachzug, mit dem es in den folgenden 40 Jahren gelang, diese beiden Mächte hinter einem „Eisernen Vorhang“ abzuschirmen, der sich 5000 Meilen über die riesige eurasische Landmasse erstreckte.

Als entscheidenden ersten Schritt gründeten die USA 1949 das NATO-Bündnis und richteten große Militäreinrichtungen in Deutschland und Marinestützpunkte in Italien ein, um die Kontrolle über den westlichen Teil Eurasiens zu gewährleisten. Nach der Niederlage Japans diktierte Washington als neuer Herr über den Pazifik, den größten Ozean der Welt, die Bedingungen von vier wichtigen gegenseitigen Verteidigungsabkommen in der Region mit Japan, Südkorea, den Philippinen und Australien und erwarb so eine große Anzahl von Militärstützpunkten entlang der Pazifikküste, die das östliche Ende Eurasiens sichern sollten. Um die beiden axialen Enden dieser riesigen Landmasse zu einem strategischen Perimeter zu verbinden, umgab Washington den südlichen Rand des Kontinents mit aufeinander folgenden Stahlketten, darunter drei Marineflotten, Hunderte von Kampfflugzeugen und zuletzt eine Kette von 60 Drohnenbasen, die sich von Sizilien bis zur Pazifikinsel Guam erstrecken.

Als der kommunistische Block hinter dem Eisernen Vorhang eingeschlossen war, lehnte sich Washington zurück und wartete darauf, dass sich seine Feinde aus dem Kalten Krieg selbst zerstören würden – was sie auch taten. Zunächst zerbrach durch die chinesisch-sowjetische Spaltung in den 1960er Jahren ihre Macht über das eurasische Kernland. Dann verheerte die katastrophale sowjetische Intervention in Afghanistan in den 1980er Jahren die Rote Armee und leitete den Zusammenbruch der Sowjetunion ein.

Nach diesen ach so strategischen ersten Schritten zur Eroberung der axialen Enden Eurasiens stolperte Washington jedoch im Wesentlichen selbst durch den Rest des Kalten Krieges mit Fehlern wie der Schweinebucht-Katastrophe in Kuba und dem verheerenden Vietnamkrieg in Südostasien. Nichtsdestotrotz war das US-Militär bis zum Ende des Kalten Krieges 1991 zu einem globalen Giganten mit 800 Stützpunkten in Übersee, einer Luftwaffe mit 1763 Düsenjägern, mehr als tausend ballistischen Raketen und einer Marine mit fast 600 Schiffen, darunter 15 nukleare Flugzeugträger-Kampfflotten, herangewachsen – alles verbunden durch das weltweit einzige globale System von Kommunikationssatelliten.

In den nächsten 20 Jahren würde Washington das genießen, was der Verteidigungsminister der Trump-Ära, James Mattis, als „unbestrittene oder dominante Überlegenheit in jedem operativen Bereich“ bezeichnete: „Wir konnten unsere Streitkräfte im Allgemeinen verlegen, wenn wir das wollten, sie aufstellen, wo wir wollten, und operieren, wie wir wollten.

Die drei Säulen der globalen Macht der Vereinigten Staaten

In den späten 1990er Jahren, auf dem absoluten Höhepunkt der globalen Hegemonie der USA, sprach der nationale Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, der als Sesselanalytiker weitaus schlauer war als  ein wirklicher Praktiker der Geopolitik, eine klare Warnung über die drei Säulen der Macht aus, die notwendig sind, um die globale Kontrolle Washingtons zu erhalten. Erstens müssen die USA den Verlust ihres strategischen europäischen „Platzes an der westlichen Peripherie“ Eurasiens verhindern. Dann müssen sie den Aufstieg einer „einzigen selbstbewussten  Macht“ im riesigen „mittleren Raum“ Zentralasiens verhindern. Und schließlich müssen sie „die Vertreibung Amerikas von seinen Offshore-Stützpunkten“ entlang der Pazifikküste verhindern.

Berauscht vom zu Kopf steigenden Elixier grenzenloser globaler Macht nach der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 trafen Washingtons außenpolitische Eliten zunehmend zweifelhafte Entscheidungen, die zu einem raschen Niedergang der Vormachtstellung ihres Landes führten. In einem Akt höchster imperialer Hybris, der aus dem Glauben an das triumphale amerikanische „Ende der Geschichte“ geboren wurde, marschierten die republikanischen Neokonservativen in der Regierung von Präsident George W. Bush zunächst in Afghanistan und dann im Irak ein und besetzten diese Länder in der Überzeugung, sie könnten den gesamten Nahen Osten, die Wiege der islamischen Zivilisation, nach Amerikas säkularem, marktwirtschaftlichem Bild umgestalten (mit Öl als Rückzahlung).

Nach Ausgaben von fast 2 Billionen Dollar allein für die Operationen im Irak und fast 4598 getöteten Soldaten hinterließ Washington nur die Trümmer zerstörter Städte, mehr als 200.000 irakische Tote und eine Regierung in Bagdad, die dem Iran verpflichtet ist. Die offizielle Geschichte der US-Armee zu diesem Krieg kam zu dem Schluss, dass „ein ermutigter und expansionistischer Iran der einzige Sieger zu sein scheint“.

Währenddessen verbrachte China dieselben Jahrzehnte mit dem Aufbau von Industrien, die es zur Werkstatt der Welt machen sollten. In einer großen strategischen Fehleinschätzung nahm Washington Peking 2001 in die Welthandelsorganisation (WTO) mit dem bizarren Vertrauen auf, dass ein willfähriges China, in dem fast 20 % der Menschheit leben und das historisch gesehen die mächtigste Nation der Welt ist, irgendwie der Weltwirtschaft beitreten würde, ohne die Machtverhältnisse zu verändern. „Über das gesamte ideologische Spektrum hinweg“, so schrieben zwei ehemalige Mitglieder der Obama-Regierung später, „teilten wir in der US-Außenpolitik die grundlegende Überzeugung, dass die Macht und die Hegemonie der USA China ohne weiteres nach dem Geschmack der Vereinigten Staaten formen könnten.“ Etwas unverblümter kam der ehemalige nationale Sicherheitsberater H.R. McMaster zu dem Schluss, dass Washington „eine Nation ermächtigt hat, deren Führer entschlossen sind, nicht nur die Vereinigten Staaten in Asien zu verdrängen, sondern auch weltweit ein rivalisierendes Wirtschafts- und Regierungsmodell zu propagieren“.

In den 15 Jahren nach seinem Beitritt zur WTO stiegen Pekings Exporte in die USA um fast das Fünffache auf 462 Mrd. USD, während seine Devisenreserven bis 2014 von 200 Mrd. USD auf beispiellose 4 Billionen USD anstiegen – ein riesiger Schatz, den China nutzte, um seine BillionenDollar teure „Belt and Road Initiative“ (BRI) zu starten, die darauf abzielt, Eurasien durch den Bau neuer Infrastrukturen wirtschaftlich zu vereinen. Dabei begann Peking mit der systematischen Zerstörung von Brzezinskis drei Säulen der geopolitischen Macht der USA.

Die erste Säule – Europa

Peking hat seinen bisher überraschendsten Erfolg in Europa erzielt, lange Zeit eine wichtige Bastion der amerikanischen Weltmacht. Als Teil einer Kette von 40 Handelshäfen, die es rund um Eurasien und Afrika errichtet oder wiederaufbaut, hat Peking wichtige Hafenanlagen in Europa gekauft, darunter den griechischen Hafen von Piräus und wichtige Anteile an den Häfen von Zeebrügge in Belgien, Rotterdam in den Niederlanden und Hamburg in Deutschland.

Nach einem Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping im Jahr 2019 trat Italien als erstes G-7-Mitglied offiziell dem BRI-Abkommen bei und übertrug anschließend einen Teil seiner Häfen in Genua und Triest. Trotz der heftigen Einwände Washingtons schlossen die Europäische Union und China 2020 auch den Entwurf eines Finanzdienstleistungsabkommens ab, das nach seiner Fertigstellung im Jahr 2023 eine stärkere Integration ihrer Bankensysteme vorsieht.

Während China Häfen, Schienen, Straßen und Kraftwerke auf dem gesamten Kontinent baut, dominiert sein russischer Verbündeter weiterhin den europäischen Energiemarkt und steht nur noch wenige Monate vor der Eröffnung der umstrittenen Erdgaspipeline Nord Stream 2 unter der Ostsee, die garantiert den wirtschaftlichen Einfluss Moskaus vergrößern wird. Als das gewaltige Pipelineprojekt im Dezember letzten Jahres kurz vor der Fertigstellung stand, verstärkte der russische Präsident Putin den Druck auf die NATO mit einer Reihe „extravaganter“ Forderungen, darunter eine formelle Garantie, dass die Ukraine nicht in das Bündnis aufgenommen wird, das die gesamten seit 1997 in Osteuropa installierte militärische Infrastruktur entfernt und künftige militärische Aktivitäten in Zentralasien verboten werden.

In einem Machtspiel, das es seit dem Zusammenschluss von Stalin und Mao in den 1950er Jahren nicht mehr gegeben hat, könnte die Allianz zwischen Putins roher militärischer Kraft und Xis unerbittlichem wirtschaftlichen Druck Europa tatsächlich langsam von Amerika wegziehen. Erschwerend für die Position der USA kommt hinzu, dass Washington durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union seinen stärksten Fürsprecher in den verschlungenen Brüsseler Machtkorridoren verloren hat.

Und während sich Brüssel und Washington immer weiter voneinander entfernen, kommen sich Peking und Moskau immer näher. Durch gemeinsame Energieprojekte, militärische Manöver und regelmäßige Gipfeltreffen lassen Putin und Xi die Stalin-Mao-Allianz wieder aufleben, eine strategische Partnerschaft im Herzen Eurasiens, die am Ende Washingtons Stahlketten durchbrechen könnte, die lange Zeit von Osteuropa bis zum Pazifik reichten.

Die zweite Säule – Zentralasien

Im Rahmen seines kühnen BRI-Plans, Europa und Asien zu einem einheitlichen eurasischen Wirtschaftsblock zu verschmelzen, hat Peking Zentralasien mit einer stählernen Wiege aus Eisenbahnen und Ölpipelines durchzogen und damit Brzezinskis zweite Säule der geopolitischen Macht effektiv zu Fall gebracht – nämlich dass die USA den Aufstieg einer „einzigen durchsetzungsfähigen Macht“ im riesigen „mittleren Raum“ des Kontinents verhindern müssen. Als Präsident Xi im September 2013 an der Nasarbajew-Universität in Kasachstan zum ersten Mal die Gürtel- und Straßeninitiative ankündigte, sprach er ausladend davon, „den Pazifik und die Ostsee zu verbinden“ und gleichzeitig „den größten Markt der Welt mit einem unvergleichlichen Potenzial“ zu schaffen.

In den vergangenen zehn Jahren hat Peking ein kühnes Konzept zur Überwindung der riesigen Entfernungen entwickelt, die Asien und Europa historisch trennten. Seit 2008 arbeitet die China National Petroleum Corporation mit Turkmenistan, Kasachstan und Usbekistan zusammen, um eine zentralasiatisch-chinesische Gaspipeline in Betrieb zu nehmen, die schließlich mehr als 4000 Meilen lang sein wird. Bis zum Jahr 2025 soll ein integriertes Energie-Binnennetz entstehen, das das umfangreiche russische Gasleitungsnetz einschließt und sich über 6000 Meilen von der Ostsee bis zum Pazifik erstreckt.

Das einzige wirkliche Hindernis für Chinas Bestreben, den riesigen „mittleren Raum“ Eurasiens zu erobern, war die inzwischen beendete US-Besetzung Afghanistans. Um die Gasfelder Zentralasiens mit den energiehungrigen Märkten Südasiens zu verbinden, wurde 2018 die TAPI-Pipeline (Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien) angekündigt, aber der Fortschritt durch den kritischen afghanischen Sektor wurde durch den dortigen Krieg verlangsamt. In den Monaten vor der Einnahme Kabuls tauchten jedoch Taliban-Diplomaten in Turkmenistan und China auf, um Zusicherungen über die Zukunft des Projekts zu geben. Seitdem wurde das Projekt wiederbelebt (Afghanistan: Taliban wollen altes Pipeline-Projekt umsetzen) und öffnete den Weg für chinesische Investitionen, die die Eroberung Zentralasiens vervollständigen könnten.

Die dritte Säule – die pazifischen Küstenregionen

Das brisanteste Gebiet in Pekings großer Strategie, um Washingtons geopolitischen Einfluss auf Eurasien zu brechen, liegt in den umstrittenen Gewässern zwischen Chinas Küste und dem pazifischen Küstenstreifen, den die Chinesen als „erste Inselkette“ bezeichnen. Peking hat seit 2014 ein halbes Dutzend eigener Inselstützpunkte im Südchinesischen Meer errichtet, Taiwan und das Ostchinesische Meer mit wiederholten Vorstößen von Kampfflugzeugen umschwärmt und gemeinsame Manöver mit der russischen Marine abgehalten, um eine unerbittliche Kampagne zu starten, die Brzezinski als „die Vertreibung Amerikas von seinen Offshore-Stützpunkten“ entlang der Pazifikküste bezeichnete.

In dem Maße, wie Chinas Wirtschaft und seine Seestreitkräfte wachsen, könnte das Ende der jahrzehntelangen Vorherrschaft Washingtons über diese riesige Meeresfläche bevorstehen. Zum einen könnte China irgendwann die Vorherrschaft bei bestimmten kritischen Militärtechnologien erlangen, darunter die supersichere „Quantenverschränkung“ in der Satellitenkommunikation und Hyperschallraketen. Im Oktober letzten Jahres bezeichnete der Vorsitzende der U.S. Joint Chiefs, General Mark Milley, den jüngsten Start einer Hyperschallrakete durch China als „sehr nahe an einem Sputnik-Moment“. Während die US-Tests solcher Waffen, die schneller als 6000 km/h fliegen können, wiederholt gescheitert sind, hat China erfolgreich einen Prototyp in die Umlaufbahn gebracht, dessen Geschwindigkeit und Stealth-Flugbahn die Verteidigung von US-Flugzeugträgern plötzlich erheblich erschweren würde.

Doch Chinas klarer Vorteil in einem Kampf um diese erste Inselkette im Pazifik ist schlicht die Entfernung. Eine Kampfflotte aus zwei US-Superflugzeugträgern, die 5000 Meilen von Pearl Harbor entfernt operiert, könnte bestenfalls 150 Düsenjäger einsetzen. In einem Konflikt innerhalb von 200 Meilen vor Chinas Küste könnte Peking bis zu 2200 Kampfflugzeuge sowie DF-21D „Flugzeugträger-Killer“-Raketen einsetzen, deren Reichweite von 900 Meilen sie nach Angaben der US-Marine „zu einer ernsthaften Bedrohung für die Operationen der US-amerikanischen und verbündeten Marinestreitkräfte im westlichen Pazifik“ macht.

Die Tyrannei der Entfernung bedeutet mit anderen Worten, dass der Verlust dieser ersten Inselkette und ihrer axialen Verankerung an der eurasischen Pazifikküste für die USA nur eine Frage der Zeit sein dürfte.

In den kommenden Jahren, wenn weitere derartige Ereignisse rund um den eurasischen Feuerring ausbrechen, können die Leser sie in ihr eigenes geopolitisches Modell einfügen – ein nützliches, ja sogar unverzichtbares Mittel zum Verständnis einer sich schnell verändernden Welt. Und während Sie das tun, denken Sie daran, dass die Geschichte nie zu Ende ist, während die Position der USA in ihr vor unseren Augen neu gestaltet wird.

 

Der Artikel ist im englischen Original zuerst auf TomDispatch.com erschienen, das Copyright liegt bei Alfred W. McCoy. 

McCoy ist Geschichtsprofessor an der University of Wisconsin-Madison. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u.a. „In the Shadows of the American Century: The Rise and Decline of U.S. Global Power“ (Dispatch Books) und „Die CIA und das Heroin“. Gerade erschienen ist sein neuen Buch: „To Govern the Globe: World Orders and Catastrophic Change“.

 

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Ein Kommentar

  1. Eine gewisse tendenziöse Schlampigkeit in der Detailwahrnehmung kombiniert mit der imperial grundierten und damit verzerrenden Sicht eines u.s.-Amerikaners, dazu die komplette Vernachlässigung ökonomischer und ökologischer Aspekte, machen McCoys Text zu einer zweifelhaften Lektüre. Die geopolitische Logik wird den historischen Fakten post festum eingebrannt, so dass aus den Wirren von fünf Jahrhunderten ein scheinbar kohärentes Ganzes wird.
    Absurd ist es, wenn der Autor von der ‚Tyrannei der Entfernung‘ redet, wenn er den Umstand umschreiben will, dass die u.s.-amerikanischen Kräfte sehr weit weg von eignen Gestaden operieren. Andere hätten das schlicht Überdehnung genannt.
    Es versteht sich von selbst, dass McCoy die u.s.-amerikanischen Bestrebungen zur Welthegemonie auf China überträgt, diesem Land mit seinen sehr anders gearteten Traditionen diesselben Motive und Ziele unterstellt.
    Insgesamt wird ein hermetisches Narrativ präsentiert, das sich als Endkampf-Folie eignet, entsprechend ca. den abschliessenden 20 Minuten eines Hollywoodstreifens, in dem schliesslich unweigerlich die Guten siegen. Und für McCoy kann kein Zweifel bestehen, wer das ist.

    Dagegen zu halten ist, dass die Weltherrschaft einer einzelnen Macht eine megalomane Wahnvorstellung ist, die nie eingelöst werden konnte und in alle Zukunft nicht einlösbar sein wird. Und dass vielmehr der verzweifelte Zustand des Kapitalismus wieder einmal nach einem grossen Krieg schreit. Und sollte dieses Unglück wirklich über die Welt kommen, wird die Menschheit sehr, sehr weit zurückgeworfen werden, wenn sie dann überhaupt noch in der Lage ist langfristig zu überleben.

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