Geschenkte Wahl

Bild: A. Delesse (Prométhée)/CC BY-SA-3.0

Wenn ein Wähler, der nicht mehr wählen will, seine Stimme jemandem spendiert, der nicht wählen darf – Ein Kommentar.

 

„Jede Stimme zählt!“ Der Bundestagspräsident trommelt zur Teilnahme an der Bundestagswahl. Nur wer zur Wahl gehe, bestimme, wer künftig im Bundestag vertreten sei. Wahlaufrufe und Appelle, traditionelle Rituale in altbekannter Rhetorik. Vielleicht schwingt bei dem Berufspolitiker Schäuble aber doch auch Sorge mit, die Wahlbeteiligung könnte einen historischen Tiefststand erreichen. Schließlich haben die zwei Corona-Jahre begonnen, dem Land die Demokratie auszutreiben. Bei allzu niedriger Wahlbeteiligung könnte die Legitimität des Bundestags leiden, beziehungsweise was davon noch übrig ist.

Am 26. September können 60 Millionen Menschen den 20. Deutschen Bundestag wählen. Insgesamt 83 Millionen Menschen leben hier. Es stimmt deshalb nicht, wenn Bundestagspräsident Schäuble verlautbart: „Jede Stimme zählt!“ Zirka ein Viertel der Menschen in diesem Land hat kein Stimmrecht, ihre Stimmen zählen nicht, weil sie entweder unter 18 Jahre alt oder zugereist sind oder weil sie etwas verbrochen haben. Alles in allem eine Dreiviertel-Demokratie also.

„Wer seine Stimme abgibt, hat nichts mehr zu sagen.“ Die Welt der Wahlen ist voll von solchen Sponti-Sprüchen, Wort- und Gedankenspielen. Und deshalb sei gleich ein weiteres hinzugefügt: „Diese Wahl ist geschenkt!“ Und das im doppelten Sinne:

Seit mehreren Jahren verschenke ich meine Stimme. Ich verzichte auf die Wahl zugunsten von jemand, der in diesem Land lebt, Interessen und Bedürfnisse hat, Steuern zahlt und von den politischen Entscheidungen betroffen ist, aber nicht mitbestimmen darf, weil er zu jung oder zu „fremd“ ist. Er bekommt meinen Wahlzettel mit Erst- und Zweitstimme. Auch bei der jetzigen Bundestagswahl mache ich es wieder so. In den Parlamenten sitzen die immer gleichen Charaktermasken, hört man die dieselben Parolen, erlebt die gleichen durchsichtigen Lügen. Auch die einstigen Spontis sind längst eingemeindet und domestiziert. Mir reicht die Inszenierung. Die Wahl ist geschenkt – so oder so.

Zugegeben, es mag billig erscheinen, auf seine Stimme zu verzichten, wenn sowieso nichts zur Wahl steht. Dass der ein oder die andere doch einen Wert in der Veranstaltung sieht, sei ihnen unbenommen. Meine Stimme ist nicht verloren, sie soll nur jemand bekommen, der gar nicht abstimmen darf. Kein Wahlrecht, obwohl er mitten unter uns lebt und arbeitet, Nachbar ist oder Kollegin. Über 20 Millionen, die in Deutschland nicht wahlberechtigt sind, ein Viertel der Gesellschaft.

Zum Beispiel die Zugewanderten. Mehr als fünf Millionen Erwachsene. Wie etwa der türkische Busfahrer, dem Eltern jeden Morgen ihre Kinder anvertrauen und der sie sicher wieder nach Hause bringt, der dieselben Steuern zahlt wie sein deutscher Kollege – warum soll er nicht wählen und mitentscheiden dürfen, wie der Verkehr organisiert wird? Er kennt sich aus und kann das beurteilen. Doch er darf nicht, weil er keinen deutschen Pass besitzt. Er ist ein Kandidat für meine Stimme.

Die unter 18-Jährigen, viele Millionen, sind die größte Gruppe der nicht Stimmberechtigten. Zugleich sind sie am meisten und längsten von den politischen Entscheidungen, die heute gefällt werden, betroffen. Nebenbei und nicht zuletzt sind sie Verbraucher. Mit jedem Kaugummi, den Jugendliche kaufen, zahlen sie Steuern. Doch mitentscheiden, wie sie verwendet werden, dürfen sie nicht.

Die Mehrheit hat beschlossen, das Wahlalter sei 18 plus. Aber warum sollen die Kinder von Bundeswehrsoldaten, die in Auslandseinsätze geschickt werden, nicht mitbestimmen dürfen, ob ihr Papa in den Krieg muss? Sie haben nur einen.

Auch den Wahlausschluss per Richterspruch gibt es, geregelt im Bundeswahlgesetz, Paragraf 13. Von den Wahlen zum Deutschen Bundestag ist demnach ausgeschlossen, wer wegen folgender Straftaten verurteilt wurde: „Vorbereitung eines Angriffskrieges und Hochverrat gegen den Bund; Landesverrat und Offenbarung von Staatsgeheimnissen; Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten; Wahlbehinderung und Fälschung von Wahlunterlagen; Abgeordnetenbestechung; Sabotagehandlungen an Verteidigungsmitteln oder sicherheitsgefährdender Nachrichtendienst.“ Außerdem kann das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht aberkennen, wenn jemand seine Grundrechte verwirkt hat.

Entrechtung qua Gerichtsurteil, Wahlverbot als Strafe. Eine Maßnahme wie aus dem Mittelalter, ohne praktischen Nutzen für die Allgemeinheit, nur in der Absicht verhängt zu erniedrigen und abzuschrecken. Bezogen auf das passive Wahlrecht obendrein eine Entmündigung der Wähler.

Bei der letzten Bundestagswahl waren außerdem noch ausgeschlossen die körperlich und geistig Behinderten, für die ein Betreuer bestellt war, sowie alle, die strafrechtlich in einem psychiatrischen Krankenhaus zwangsweise untergebracht waren. Bundesweit hochgerechnet eine fünfstellige Zahl von Personen. Ihre Diskriminierung hat das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 allerdings für verfassungswidrig erklärt. Die exklusive Demokratie wurde um diese Personengruppe etwas inklusiver.

Ein Meineid für einen guten Zweck?

Überhaupt: Warum nicht „One man one vote“? Jedem Mensch eine Stimme. Jedem, ohne Ausnahme, von Geburt an. Auch Babys und Kinder haben Bedürfnisse, Jugendliche sowieso, denen politisch Rechnung getragen werden müsste. Ausgeübt würde das Stimmrecht für Kinder und Kleinkinder natürlich von denjenigen, die für sie verantwortlich sind – die Eltern eben. Eine dreiköpfige Familie hätte demnach drei Stimmen. Und warum soll eine siebenköpfige Familie nicht sieben Stimmen haben? Schließlich muss die Infrastruktur für alle sieben organisiert sein und nicht nur für die zwei Erwachsenen. Bei einer der letzten Wahlen bekam mein Stimmzettel eine alleinerziehende Mutter.

Kommen wir zur Gebrauchsanleitung. Die Sache geht so: Man beantragt Briefwahl, bekommt den Stimmzettel zugeschickt und gibt ihn nun seinem persönlichen Kandidaten, der darauf ankreuzen kann, was er will. Allerdings gibt es einen Haken. Wer seine Stimme herschenken will, muss sich möglicherweise strafbar machen. Er müsste strenggenommen einen Meineid begehen. An Eides statt ist zu erklären, dass man den Stimmzettel selbst ausgefüllt hat. Das lässt ein bisschen Spielraum. Alternativ könnte auch auf das Wahlgeheimnis verzichtet werden. Seine Stimme offiziell einem registrierten Kandidaten und einer anerkannten Partei zu übergeben, die damit ermächtigt werden, Hunderte von Entscheidungen zu treffen – das ist gewollt und bleibt selbst bei Missbrauch straffrei. Nicht jedoch, sich gegen diese Enteignung durch die repräsentative parlamentarische Demokratie zu wehren und seine Stimme einfach jemandem zu spendieren. Ein Meineid für einen guten Zweck? Das könnte es wert sein. Und bei 20 Millionen Meineiden für die Entrechteten dieser Republik müssten sowieso alle Staatsanwaltschaften kapitulieren.

Selbstentmachtung des Bundestags

Seit mehreren Wahlen verschenke ich also meine Wählerstimme. Aber in Zeiten von Corona ist diese Schenkaktion nun auf besondere Art fragwürdig geworden: Denn für was für einen Bundestag soll eigentlich gewählt werden? Er hat sich im März 2020 schließlich selbst entmachtet, als er im neuen Infektionsschutzgesetz den Bundesgesundheitsminister ermächtigt hat, selber Gesetze erlassen zu können und außerdem den Landesregierungen zu erlauben, ebenfalls ohne Rücksicht auf die Parlamente per Verordnungen zu regieren.

Doch damit nicht genug. Der jetzt zuende gehende Bundestag hat diese Selbstentmachtung dem neuen Bundestag gleich noch als Hypothek auferlegt. Bis mindestens 31. Dezember 2021 soll die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ gelten, die Bundestag, Bundesrat und Grundrechte aus dem Spiel nimmt und Grundlage für das fragwürdige Infektionsschutzgesetz ist. Nicht nur, dass von „Epidemie“ und „nationaler Tragweite“ bei zurückgehendem Infektions- und Krankheitsgeschehen (nicht mal zwei Krankenhauspatienten auf 100.000 Einwohner) nur schwer geredet werden kann, auch die Grundlage des „Gesetzes“ ist alles andere als belastbar. Als am 25. August über die Fortsetzung der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ abgestimmt wurde, erhielt der Gesetzentwurf nicht einmal eine einfache Mehrheit (50 +). Für die Veränderung der Grundrechte, wie sie mit den Corona-Gesetzen vorgenommen wurde, bräuchte es meiner Meinung nach sogar eine absolute Mehrheit (zwei Drittel). Das „beschlossene“ Epidemiegesetz erhielt stattdessen lediglich eine relative Mehrheit: 325 Stimmen von 709. Das sind gerade mal 46% der Abgeordneten.

Die Merkel-Regierung verfügte nicht einmal über eine eigene Mehrheit. Anscheinend stört es in diesen Zeiten aber niemanden mehr, wenn Grundrechte von einer Minderheit der Abgeordneten außer Kraft gesetzt werden. Es geht nicht mehr um Recht, sondern nur noch um Macht.

Meinen Stimmzettel für die Veranstaltung am Sonntag hat ein Schüler bekommen. Überall wurden die sogenannten „U 18-Wahlen“ inszeniert: „Wie würden die Jüngeren wählen?“ Ich habe ihn ernst genommen. Nun darf er echt abstimmen.

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Ein Kommentar

  1. Guter Artikel, er regt zum Nachdenken an. Fast alle in der Gesellschaft ist zur Mittelmäßigkeit verkommen, für nichts wird gekämpft. Ein bisschen erfrischend ist es zu lesen was die Jugend sich einfallen lässt. Im Grund zeigt es aber auch das alles zur Waren wird und käuflich ist. (Es muss nicht immer mit Geld gezahlt werden)
    Auch das verschieben von „Notwendigkeiten“ bei der Virusgegenwehr ist erstaunlich, war es vor einem halben Jahr noch so das die Umbauten in Gastronomie-Gewerbe das wichtigste war, aber nicht geholfen hat, so sind es jetzt die 3G,2G usw.
    Was ist für die Schüler an den Schulen gemacht worden? Ist dort baulich Luftaustausch installiert worden. Da bei wird die Körpertemperatur mit zu heizen benutzt, insgesamt jede Wärmequelle wird benutzt. Absaugen reinigen bei Bedarf zu heizen. Oder werden am Boden Geräte Installiert die von der Decke die Luft herunter saugen müssen um sie zu reinigen?
    Sind überhaupt Maßnahmen installiert worden die auch für die Dauerhaft vorhanden sind. Darüber sollten die Jugendlichen Ihren Eltern helfen darüber in den Schulen Druck zu machen. Eventuell auch in den Klassen Arbeitskreis dazu installieren.

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