Grenzüberschreitendes Kräftemessen im hybriden Krieg um Flüchtlinge

Auch Polen zieht sich wieder hinter einer „Mauer“ zurück. Screenshot aus Ruptly-YouTube-Video

Auch Polen hat nach Litauen und Lettland an der Grenze zu Weißrussland den Ausnahmezustand erklärt, NGOs und Journalisten den Zutritt verwehrt und Soldaten verlegt. Flüchtlinge werden zu Waffen, gegen die man sich mit Militär und Grenzzäunen verteidigen muss.

 

Seit Donnerstag herrscht in den grenznahen Regionen der Wojewodschaften Podlasien und Lublin der Ausnahmezustand. Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda hat einen entsprechenden Antrag der Regierung unterschrieben.

„Die Situation an der Grenze mit Weißrussland ist schwierig. (..) Polen muss eine solche Entscheidung treffen, um die Sicherheit des Landes und der Europäischen Union zu gewähren“, heißt es in der Erklärung.

„Wir müssen die aggressiven Hybrid-Aktionen stoppen, welche nach einem in Minsk und den Schirmherren von Herrn Lukaschenko geschriebenen Skript umgesetzt werden“, erklärte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki (dazu siehe auch: Von Mauern und dem “hybriden Krieg”). Die Verhängung des 30-tägigen Ausnahmezustands muss am Montag noch von einer Mehrheit des Sejms abgesegnet werden, was erwartet wird.

Seit Mai werden Asylsuchende aus dem Nahen Osten von belarussischen Beamten an die Grenze anfangs vor allem nach Litauen, später auch Lettland und Polen geführt.

Litauen ließ schon Anfang Juli in Grenznähe den sogenannten „Extremzustand“ ausrufen, Lettland folgte einen Monat später mit dem „Ausnahmezustand“. Litauen wirft dem belarussischen Staat Überschreitungen der Grenze vor. In Belarus beschuldigt man das EU- und NATO-Land, die Asylsuchenden zu misshandeln, ein Iraker starb in einem weißrussischen Krankenhaus.

Doch vor allem die Situation bei dem polnischen Dorf Usnarz Gory sorgt für internationales Aufsehen und Kontroversen. Dort wurden vor über drei Wochen etwa 50 afghanische und irakische Flüchtlinge fest gehalten. Die Grenzbeamten beider Länder lassen sie weder vor noch zurück. Die irakischen Flüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder, wurden mittlerweile wieder zurück nach Belarus gebracht.

Derzeit stecken noch 32 Flüchtlinge fest. Die polnische Regierung erklärt, die Asylsuchenden wären auf der belarussischen Seite und lässt zumeist auch keine medizinische Versorgung von Polen aus zu. Der Nachbarstaat behauptet hingegen, die Flüchtlinge wären bereits in Polen.

Durch den Regen und den Schlamm hätten bereits zehn Personen Erkältung und Fieber, so die polnische „Stiftung Rettung“, welche seit Beginn der Krise vor der Grenze ausharrte und nun durch den Ausnahmezustand nicht mehr in Sichtweite der Afghanen ist.

NGOs und Journalisten ist der Zugang verwehrt

Seit Donnerstag werden Straßen von Militärs gesperrt, NGOs und Journalisten von der Grenzregion abgehalten, Zugang haben nur noch Bewohner oder nachweislich dort beruflich Beschäftigte. Einem Journalisten (Onet, Ringier Axel Springer), der aus der verbotenen Zone berichtete, wurde von der Polizei angezeigt.

Die Frage, die im Raum steht, ist, ob die autoritär agierende Regierung in Warschau hier mit der Flüchtlingskrise eine Chance nutzt, um Freiheitsrechte einzuschränken.

Der „Polska Press Club“ beklagt, dass nun von der Krisensituation nicht mehr unabhängig berichtet werden kann.

Derzeit gibt es mehrere Umfragen zu der umstrittenen Entscheidung, dabei kann sich die Regierung auf eine leichte Mehrheit stützen. Bislang wurde der Ausnahmezustand seit der Wende noch nicht angewendet. Er erinnert an die Staatswillkür vor allem in den 1980er Jahren, an das Kriegsrecht von 1981 bis 1983 und ist eine heikle Entscheidung vor allem für ältere Polen.

„Am besten regiert es sich, wenn alle Rechte und Freiheiten aufgehoben werden“, kritisiert der regierungskritische Rechtsprofessor Marcin Matczak, der den neuen Rechtszustand an der Grenze eine „alte Nummer“ nennt. Die polnischen Linken befürchten zudem, dass die regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) den  Ausnahmezustand auch nutzen könne, um bei verlorenen Wahlen einzugreifen.

Die Regierung hat im Ausnahmezustand zudem das Recht, Militär  einzusetzen, wovon sie bereits Gebrauch gemacht hatte. 2000 Soldaten verstärken seit über eine Woche Grenzbeamte und Polizisten, allerdings haben sie nun die Berechtigung, gegebenenfalls die Schusswaffen einzusetzen. Die polnische Regierung ist zudem dabei, die über 400 Kilometer lange gesamte Grenze mit Stacheldraht abzusichern.

Polens harte Linie wird international unterschiedlich bewertet

EU-Innenkommissarin Ylva Johannsson gehört zu den Unterstützern. Sie kritisierte kürzlich den Transfer von Migranten an die Grenze der EU als „Teil der Aggression von Lukaschenko gegen Polen, Litauen und Lettland mit dem Ziel, die EU zu destabilisieren“.

Das UN-Flüchtlingswerk, das die Betroffenen zusammen mit dem Roten Kreuz von der belarussischen Seite versorgt, ruft Polen hingegen dazu auf, die Afghanen aufzunehmen und zu versorgen.

Premierminister Mateusz Morawiecki kündigte hingegen an, den Ausnahmezustand zu verlängern, und sprach von einer baldigen Verlegung von über 10.000 Soldaten. Dies wohl auch in Hinsicht auf das belarussisch-Großmanöver „Zapad 2021“, welches am zehnten September auch in Grenznähe der NATO-Staaten stattfindet, wo die Verteidigung gegen einen westlichen Angreifer geübt wird.

Im Vorfeld gibt es Unruhe wegen einer vermutlichen Fake-News, welche von der polnischen Zeitung Dziennik (Ringier Axel Springer) verbreitet und von anderen polnischen Medien, auch von der Presseagentur PAP, übernommen wurde.  Demnach würde die NATO mit einem groben Grenzübertritt weißrussischer Truppen während des Manövers rechnen und sich entsprechend darauf vorbereiten.

Dem widerspricht der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas und warnt vor einem Trend zur Desinformation.  Allerdings beklagt Anušauskas zusammen mit den beiden baltischen und dem polnischen Amtskollegen eine Hybridattacke gegen ihre Länder.

Nach dem weißrussischen Aussenminister Vladimir Makei sei die Krise „in den Köpfen westlicher Politiker“ geboren worden. Sein Land solle dämonisiert werden, um weitere Sanktionen zu rechtfertigen. Tatsächlich bereitet die EU-Kommission weitere Sanktionen gegen die ehemalige Sowjetrepublik vor. Unklar ist, wie Lukaschenko dann reagieren wird.

Nach Angaben des litauischen Verteidigungsministers Arvydas Anušauska hielten sich bis zu 5000 Menschen aus dem Nahen Osten im Westen Weißrusslands auf, denen das Geld ausgehe und die nun immer weniger erfolgreich über die Grenze gebracht werden können. Diese würden zunehmend zu einem Kostenfaktor für Minsk.

Stimmt dies, so kann es durchaus sein, dass Lukaschenko es aufgibt, immer mehr Menschen aus dem Nahen Osten anzulocken. Ob er auf weitere Maßnahmen gegen die Nachbarländer oder auf die Verhandlungsoption mit Brüssel und den Nachbarländern setzt, ist gerade nicht abzusehen.

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