Manifest gegen den Krieg

Zerstörung in Kramatorsk.

Es ist höchste Zeit, dass sich die Kriegsgegner aller Länder zusammenschließen, bevor es zu spät ist. Die Gefahr des Einsatzes nuklearer Waffen ist real. Wir müssen alles unternehmen, um das zu verhindern. Dies ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln!

 

Aktivistinnen und Aktivisten der sozialen Bewegungen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kulturschaffende aller Länder! Das Ungeheuerliche ist geschehen: Der Krieg ist endgültig in unseren Alltag in Europa zurückgekehrt. Derzeit werden die großen Städte in der Ukraine zu Schlachtfeldern. Friedliche Menschen werden von Granaten und Raketen zerfetzt oder unter den Trümmern ihrer Behausungen begraben. Wer die barbarischen Angriffe in den Kellern oder U-Bahnschächten überlebt, wird durch Hunger, Kälte, Wasserentzug und Dunkelheit in die Flucht getrieben. Die Barbarei hält wieder Einzug.

Seit mehr als 20 Jahren hat sich dieses Inferno angebahnt und immer mehr ausgebreitet: Zuerst in Tschetschenien und Jugoslawien, dann in Afghanistan, im Irak und bis heute in Jemen, Syrien und anderen Regionen des Nahen Ostens. Nun hat es erneut Europa erreicht und mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine katastrophale Ausmaße angenommen. Die überbauten und von Millionen Menschen bewohnten großstädtischen Agglomerationen wurden zur wichtigsten Kampfzone der beiden Armeen.

Die Brutalisierung der militärischen Konflikte hat vielfältige Ursachen. In ihr kam die wachsende Rivalität der imperialistischen Großmächte zum Ausdruck, die sich in den letzten Jahrzehnten hinter den Fassaden der weltwirtschaftlichen Globalisierung aufbaute. Das kapitalistische Weltsystem zeigte wieder einmal sein Janusgesicht.  Einerseits setzte es auf den renditeträchtigen Weltfrieden globalisierter Güterketten und Informationssysteme, um die Ausbeutung der arbeitenden Klassen neu abzustufen und bis in die letzten Winkel des Planeten voranzutreiben. Andererseits entfesselte es immer gewaltsamere Kämpfe um geostrategische Einflusszonen.

Typisch dafür ist China, das sein Projekt der Kontinente verbindenden „Neuen Seidenstraße“ mit territorialen Ansprüchen auf Taiwan und das Südchinesische Meer kombiniert hat. Typisch dafür sind aber auch die USA. Um seine Welthegemonie ökonomisch zu sichern, hat Washington seinen ostasiatischen Gegenspieler zur verlängerten Werkbank seines Produktionspotenzials gemacht. Gleichzeitig sabotiert Washington das chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ auf allen Ebenen und unternahm alles, um ein friedliches ökonomisches Verhältnis zwischen China, Russland und Europa zu untergraben.

Parallel dazu hat die US-Administration ihr militärisches Bündnissystem, die NATO, gegen die Russische Föderation in Stellung gebracht, um die Integration des Nachfolgers des untergegangenen Sowjet-Imperiums in ein erweitertes Europa mit stabiler Friedensordnung und gegenseitigen Sicherheitsgarantien zu verhindern. Dass der ökonomische Druck hier den gleichen Stellenwert hat wie in der Positionierung gegen China, zeigt die Sabotage von North Stream 2. Was den USA Russland gegenüber gelang, erwies sich im Fall China als Bumerang und begünstigte Chinas Aufstieg zur konkurrierenden Weltmacht.

Als dritter Faktor der Barbarisierung kam schließlich der islamistische Fundamentalismus ins Spiel, eine zutiefst regressive Variante des Anti-Imperialismus, die einen patriarchalen Gottesstaat anstrebt.

Menschheitsbedrohend wurden diese Entwicklungen dadurch, dass alle beteiligten Konfliktparteien auf Kriegsmaterial zurückgreifen konnten, in dem sich die technologischen Schübe der kapitalistischen Entwicklung zu einer immer größeren Vernichtungskraft der konventionellen Waffensysteme bündeln.

Nur vor diesem Hintergrund ist der am 24. Februar entfesselte Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine zu verstehen. Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich auch die Vorgeschichte. Als das Sowjetimperium zusammenbrach, erkauften sich die USA die russische Zustimmung zur Einbeziehung des geeinten Deutschlands in die NATO gegen die Zusage, die NATO nicht weiter nach Osteuropa auszudehnen. Zu dieser Zeit standen die Chancen zur Demokratisierung und Öffnung Russlands in Richtung Europa recht günstig. Diese Chance wurde jedoch nach wenigen Jahren vertan. Seit 1997 begann die unterschwellige und schließlich auch offen vorangetriebene Osterweiterung der NATO sowie in ihrem Schlepptau der Europäischen Union.

Von der russischen Machtelite und der Mehrheit der Bevölkerung wurde diese Exklusion als Demütigung empfunden. Es gab auch gegenläufige Tendenzen zur Verständigung, insbesondere in Frankreich und Deutschland; sie wurden jedoch durch das neue Sonderbündnis der USA mit den osteuropäischen Staaten zunichte gemacht. Durch diese Hybris wurden in Russland die äußeren Bedingungen für die Durchsetzung einer imperialistischen Revisionsstrategie geschaffen, die von Teilen der Machtelite seit dem Untergang der  Sowjetunion propagiert wurde und dann in der Putin-Ära gipfelte.

Auch die von diesem Revisionskurs ausgehenden Warnsignale – Georgien-Krieg 2008 und Krim-Annexion 2014 – wurden missachtet. Stattdessen wurde in der Ukraine der Aufbau der NATO-Infrastruktur vorangetrieben, obwohl sich das Land seit 2014 im Bürgerkrieg mit indirekter Beteiligung Russlands befand. Die gemeinsamen Manöver der ukrainischen Streitkräfte mit der NATO im September 2021 markierten dann das Überschreiten der roten Linie. Das direkte Vorrücken der NATO in 1.200 km Länge an die russische Westgrenze war für die russische Macht- und Militärelite unerträglich, und sie entschied sich zum Angriffskrieg gegen die Ukraine vor deren formellem Eintritt in die NATO.

Bei diesen Überlegungen geht es nicht etwa um eine rechtfertigende Apologetik. Der Aggressionskrieg gegen die Ukraine kann durch nichts legitimiert werden. Es geht nur um die Klarstellung, dass diesem katastrophalen Angriffskrieg imperialistische Aggressionsakte auch von Seiten des Westens voraufgingen, die in Putin-Russland eine allen imperialistischen Machteliten gemeinsame geostrategische Logik provozierten. Man stelle sich vor, die Russische Föderation hätte mit Kuba und Mexiko einen Militärpakt geschlossen und würde in der Karibik und direkt vor der Südgrenze der USA eine gegen sie gerichtete militärische Infrastruktur aufbauen! Dieser Vergleich macht deutlich, dass wir in diesem katastrophalen Poker der imperialistischen Mächte nicht Partei sein können.

Wir verurteilen die russische Aggression aufs Schärfste. Wir lehnen aber auch die Machteliten des Westens mit aller Entschiedenheit ab. Statt sich das Scheitern ihrer maßlosen Expansionsziele einzugestehen, drehen sie jetzt an der Eskalationsschraube und machen sich für einen umfassenden Wirtschaftskrieg sowie für weit reichende militärische Hilfsaktionen und Waffenlieferungen stark.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir mit dieser Positionierung gegen alle direkten wie indirekten Parteien und Akteure des Ukraine-Kriegs gegenwärtig nur eine verschwindende Minderheit darstellen. Aber wir dürfen unsere Identität, unsere Orientierung an den sozialen und emanzipatorischen Kämpfen für Gleichheit und Selbstbestimmung nicht an die Logik des imperialistischen Kriegs und den Zynismus  der Kriegshetzer auf allen Seiten abtreten.

Wir sind dafür mitverantwortlich, dass das militärische Gemetzel, das Töten von Zivilisten, die Bombardierungen, die Aushungerung und die Massenvertreibung der ukrainischen Bevölkerung sofort aufhören und die Zerstörung der sozialen Infrastrukturen gestoppt wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass die NATO und der Westen die Ukraine bis zum letzten wehrfähigen Ukrainer verteidigen lassen und der russische Generalstab das Sterben zigtausender Soldaten – überwiegend Wehrpflichtige – in Kauf nimmt.

Wir wollen aber auch nicht später von unseren Kindern und Enkeln gefragt werden, warum wir nichts gegen die Ausweitung des Ukraine-Konflikts zu einem europäischen Großkrieg oder gar zu einem nuklearen Armageddon unternommen haben. Diese Gefahr ist aufgrund der massiven militärischen Unterstützung seitens der USA und der NATO sowie der umfassenden Wirtschaftssanktionen ständig gewachsen. Wir sind keine passiven Zuschauer. Wenn noch weiter an der Eskalationsschraube gedreht wird, könnten wir in den nächsten Wochen genauso mit den Schrecken des Kriegs konfrontiert sein wie gegenwärtig der ukrainischen Zivilbevölkerung.

Wir fordern:

(1) Einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug aller Kampftruppen aus allen städtischen Agglomerationen

(2) Den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Die Entwaffnung und Auflösung aller paramilitärischen Verbände auf dem Staatsgebiet der Ukraine

(3) Die sofortige Beendigung der Waffenlieferungen und der verdeckten Beteiligung der NATO am Krieg

(4) Die sofortige Aufhebung der Sanktionen und die Beendigung des Wirtschaftskriegs

(5) Die Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter der Aufsicht der OSZE. Zusicherung der unbefristeten Neutralität der Ukraine und Abbau der NATO-Infrastruktur in der Ukraine als Gegenleistung für umfassende und international abgesicherte russische Sicherheitsgarantien.

(6) Die Etablierung der Ukraine als unabhängiger Brückenstaat zwischen NATO/EU und Russland unter dem Dach der OSZE. Bilaterale Wiederaufbau- und Wirtschaftsverträge der Ukraine mit der EU und der post-sowjetischen Zollunion.

Wir sind uns sehr wohl darüber im Klaren, dass diese Forderungen so lange in der Luft hängen, wie sie nicht von den sozialen Bewegungen, den arbeitenden Klassen und den kritischen Intelligenzschichten in einer international koordinierten Kraftanstrengung erzwungen werden.

Es ist deshalb höchste Zeit zur Mobilisierung eines breiten antimilitaristischen Widerstands, der umfassend und transnational in die sozialen Kämpfe integriert wird. Dieses Vorgehen ist keineswegs chancenlos, wie die Einbeziehung des Widerstands gegen den Vietnamkrieg in die globale Sozialrevolte der späten 1960er Jahre gezeigt hat.

Wir schlagen deshalb als erste Schritte zur Mobilisierung des Widerstands vor:

(1) Den Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine und die übrigen Kriegsgebiete der Welt durch Boykottaktionen

(2) Den Start einer Kampagne zur Verweigerung des Militärdiensts in allen Armeen, die direkt oder indirekt am Ukraine-Krieg beteiligt sind: Missachtung der Einberufungsbefehle, Befehlsverweigerung, Desertion aus den Kampftruppen und Nachschubeinheiten Russlands, der Ukraine und der NATO. Aufbau einer breiten Solidaritätsbewegung für die Kriegsdienstverweigerer

(3) Die Beteiligung an den Hilfsaktionen für unterschiedslos alle Geflüchteten aus der Ukraine und den anderen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten

(4) Es ist höchste Zeit, gegen die Desorientierung der Friedens- und Protestbewegung Position zu beziehen. Die Massendemonstrationen auf der ganzen Welt und die Interessen der arbeitenden Klassen sind gegen alle imperialistischen Mächte gerichtet und dürfen nicht einseitig Partei ergreifen. Ihr Ziel war und ist die Überwindung von Ausbeutung, patriarchaler Unterdrückung, Rassismus, Nationalismus, Naturzerstörung und die Durchsetzung der individuellen und sozialen  Menschenrechte. Nun ist der Kampf gegen die wieder aufgelebte Barbarei  hinzugekommen.

Es ist höchste Zeit, dass sich die Kriegsgegner aller Länder zusammenschließen, bevor es zu spät ist. Die Gefahr des Einsatzes nuklearer Waffen ist real. Wir müssen alles unternehmen, um das zu verhindern. Dies ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln!

14.3.2022

Erstunterzeichner:

Sergio Bologna, Historiker und Logistikberater, Milano

Rüdiger Hachtmann, Historiker, Berlin

Erik Merks, Gewerkschaftsfunktionär i.R., Hamburg

Karl Heinz Roth, Historiker und Mediziner, Bremen

Bernd Schrader, Soziologe, Hannover

Hans Schulz, Arzt, Hamburg-Harburg

Zum Manifest siehe auch Telepolis. Mittlerweile gibt es eine Unterschriftenliste.

 

 

 

 

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16 Kommentare

  1. Das Bewusstsein des einzelnen Menschen muss sich ändern,das leben ist für niemand verhandelbar und muss den höchsten Wert einnehmen dürfen,unverhandelbar,nicht dem Wert von zahlen und Logarithmen gleichgestellt.abbruch sämtlicher Waffenproduktionen und ihren verwandten Bereichen, bedeutend eine Umorganisation in der Industrie.

  2. Wo kann man das Manifest unterzeichnen?
    Merkwürdig, dass ihr das nicht veröffentlicht zum Unterzeichnen!
    Bitte dringend ändern!!!!

  3. “If I were you, I would think about the lives of my people and take the offer,” das ist es, was der israelische Premier Naftali Bennett seinem ukrainischen Kollegen Selenskyj in Bezug auf Putins Forderungen geraten hat, und es ist das absolut Vernünftigste, was bisher in diesem Konflikt gesagt wurde.

    Selenskyj zwingt alle Männer seines Landes, ihr Leben zu riskieren und gegen die russischen Truppen zu kämpfen und droht allen, die Russland helfen. Das Geld aus seiner TV-Produktionsfirma hat er allerdings „aus Sicherheitsgründen“ Off-Shore angelegt, wie die Panama-Papers entüllten. Selenskyj ist nicht nur bereit, die eigene Bevölkerung in verlustreichen Kämpfen mit wenig Aussicht auf Erfolg zu opfern, nein, er scheut auch nicht davor zurück, einen 3. Weltkrieg heraufzubeschwören, und einen in Westeuropa überkommenen Heldenmythos vom opferreichen Kampf für Volk und Nation zu predigen.

    Die schnellste und erfolgversprechendste Möglichkeit, den Konflikt zu beenden, besteht darin, Selenskyj die Unterstützung zu entziehen und ihn zum Einlenken zu bewegen. Hierzu haben wir den Hebel, indem wir unsere westlichen Politiker und Mainstream-Medien unter Druck setzen!

    In Afghanistan und Jemen setzt sich die Hungerkatastrophe fort, wir hätten sinnvolleres zu tun, als für den verletzten Nationalstolz der Ukrainer in den Krieg zu ziehen!

  4. Auch ich würde gern das Manifest unterzeichnen, da ich Förderer der Friedensbewegung bin. Frieden schaffen ohne Waffen oder Schwerter zu Pflugscharen, das waren unsere
    Slogans. Heute bin ich Rentner und sie haben immer noch ihre volle Gültigkeit. Wir dürfen den Typen vom militärisch-industriellen Komplex nicht das Feld überlassen.

  5. Diesen Aufruf kann man nur befürworten, wir sind in der Welt wieder in den 80er Jahren angekommen, wo auf beiden Seiten ein wahnsinniges Wettrüsten forciert wurde und Raketen aufgestellt wurden. Jetzt geht es um Bodenschätze und deren Transit und die Herrschaft in der Weltwirtschaft. Herr Selenskyj möchte uns in den 3. Weltkrieg treiben, was eine totale Zerstörung Europas bedeuten würde.
    k&k macht weiter so mit Eurer objektiven Berichterstattung. Danke dafür, sie hebt sich positiv ab in den Medien.

  6. Ich unterzeichne auch!
    Hier kann man auch unterschreiben:

    Den Kriegstreibern in den Arm fallen
    Neuer “Krefelder Appell”, November 2021
    https://peaceappeal21.de/

    Zu den Erstunterzeichnern gehört auch John Shipton der Vater des Wikileaks-Gründers Julian Assange.

  7. So ist es – ich unterschreibe definitiv und aus tiefster Überzeugung, sobald eine Unterschrift technisch möglich sein wird !

  8. Unterstütze dieses Manifest + halte Umschau, wo/wann namentliche Beteiligung möglich ist. Vielen Dank für die Berichterstattung + freundliche Grüsse – B. L.

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