Österreich: Schrecken ohne Ende

Innenminister Karl Nehammer. Bild: BMI / Pachauer

Die Koalition in Österreich steht inhaltlich vor dem Aus. Sie wurde vor gut einem Jahr mit dem windigen Versprechen gestartet, das „Beste aus beiden Welten“ abliefern zu wollen, nun teilen sich die rechtspopulistischen Türkisen und die nominelle linken Grünen nur mehr Gehässigkeiten über die Medien aus.

Böse Zungen – und davon gibt es in Wien nicht wenige – behaupten eine Koalition mit Sebastian Kurz dauere nie mehr als etwa 20 Monate. Längere Legislaturperioden passen einfach nicht in den Karriereplan des ehrgeizigen Kanzlers. Deswegen kursiert aktuell die Vermutung, dass die „neue ÖVP“ längst damit begonnen hat die Brücken zu den Grünen abzubrechen.

Für die ÖVP könnte sich der Koalitionsbruch durchaus bezahlt machen. Sollten im Sommer die Infektionszahlen deutlich sinken und die Impfungen wirken, dann könnte Kurz das Land mit Getöse wieder aufsperren und als Apotheose des Covid-Retters zu Neuwahlen rufen. Vielleicht bräuchte er danach keinen lästigen Koalitionspartner mehr und die Ehe mit den Grünen hätte etwa so lange gedauert wie zuvor jene mit der SPÖ und der FPÖ.

Die unglücklich in der Regierung agierenden Grünen konnten bislang mit der Umsetzung des Besten aus ihrem Teil der Welt nicht einmal beginnen, denn von mehr Umweltschutz, Transparenz oder gar Gerechtigkeit ist in Österreich nichts zu spüren. Nach eineinhalb Jahren „Ministrantentätigkeit in der Kirche Kurz“, wie es jüngst der Schriftsteller Robert Menasse ausdrückte, stünde die grüne Partei dann folglich mit leeren Händen in der eisigen Luft der Neuwahlen. Deswegen steigt jetzt wohl auch die grüne Nervosität.

Die falsche Dualität zwischen Gefühl und Recht

Der Koalitionsbruch muss natürlich von der „türkisen Bewegung“ um Sebastian Kurz vorbereitet werden – und es sieht danach aus, als arbeite er genau daran. Am 27. Januar ließ der österreichische Innenminister Karl Nehammer mehrere Familien abschieben. Dies geschah mit großem Polizeiaufgebot, Protestierende wurden von den Spezialeinheiten der „WEGA“ zur Seite geräumt.

Der Fall bewegt seitdem die Gemüter in Österreich, denn die Abschiebung einer 12jährigen Schülerin, die in Österreich geboren wurde und in Wien aufs Gymnasium geht, erscheint ihnen als unsinniger Gewaltakt. Gemeinsam mit ihrer Mutter und der fünfjährigen Schwester wurde sie nach Georgien verbracht, in ein fremdes Land somit, dessen Sprache sie nicht schreiben und lesen kann. Ihre Mitschüler*innen hatten sich der Polizei in den Weg gestellt, um ihre Klassenkameradin vor der Abschiebung zu bewahren. Es zeigt sich hierbei zunächst, wie hohl die Rede von der Integration und Integrationspflicht der Fremden ist, denn besser integriert als diese Wiener Schülerin kann ein Mensch kaum sein – genützt hat es ihr nichts.

Auch grüne Mandatare waren bei den Protesten zugegen und der ehemals grüne Bundespräsident Alexander van der Bellen bekundete seinen Unmut wegen dieser kaltherzigen Aktion des Innenministeriums. Genau an dieser Stelle schnappt die Falle der ÖVP zu. Überall im Land spitzen die fast ausnahmslos konservativen Leitartikler ihre Bleistifte und beteten die tausendfach durchgekaute Geschichte des Widerspruchs zwischen Gefühl und Recht herunter.

Alle, auch viele Mitglieder der ÖVP, betonen nämlich immer sogleich, dass sie nicht kaltherzig seien und ihnen die Schülerin sehr wohl Leid täte, die nun aus ihrer (wie sie selbst sagt) „Heimat Österreich“ deportiert wurde. Aber „Recht müsse eben Recht bleiben“. Hierbei wird dem politischen Gegner implizit vorgeworfen rührselig zu sein und man selbst hingegen blicke voll Vernunft und Rationalität auf den wahren Sachverhalt.

Das ist selbstverständlich Unsinn. In Wahrheit reagiert auch Innenminister Karl Nehammer in der Sache der Abschiebung emotional. Wer dessen Auftritt im Fernsehen verfolgte, konnte zwei durchaus irrational zu nennende Regungen bei dem ehemaligen Militärangehörigen Nehammer erkennen.

Zunächst muss er obsessiv Härte signalisieren, die so weit geht, dass er die Fragen der Moderatorin nicht zu verstehen scheint. Und zweitens erliegt er der Lust, den grünen Koalitionspartner zu erniedrigen, wenn er etwa sagt, die Abschiebung würde sicherlich zu keinerlei gesetzlichen Änderungen führen und außerdem habe man immer gewusst, wie schwer das Thema Asyl  für die Grünen werden würde. Hier lässt ein Minister längst seinen Gefühlen freien Lauf und pfeift auf den Koalitionsfrieden.

Darüber hinaus hat Nehammer nur vermeintlich das Recht auf seiner Seite. Vermutlich hat er es sogar gebrochen. Österreich hat vor 31 Jahren die UN-Konvention über die Rechte des Kindes unterzeichnet. Die Abschiebung verletzt nun eben diese Kinderrechte mehrfach. Wenn der Minister der Mutter des Kindes die Schuld an der Situation geben will, dann übersieht er dabei, dass der ganze Sinn einer staatlichen Sorgfaltspflicht und des besonderen Schutzes der Kinder eben genau darin liegt, die Kinder auch dann zu schützen, wenn ein Fehlverhalten der Eltern vorliegt.

Komplizierte Abwägungen zwischen unterschiedlichen Rechten sind nicht des Ministers Sache, lieber versteigt er sich in das rechtspopulistische Gerede vom „Asylmissbrauch“. Ein rührseliger Begriff der Rechten, der a) nicht erklären kann, wie man etwas missbraucht, das man ohnehin nicht hat, und b) wie ein Missbrauch in der wiederholten Antragsstellung liegen kann. Wer würde je von Bauantragsmissbrauch reden?

Zusätzlich sagt der Minister, der mit der Abschiebung den Rechtsstaat zu retten gedenkt, beharrlich die Unwahrheit, wenn er betont, er sei zu der Abschiebung gezwungen gewesen. Laut Auskunft der ehemaligen Justizministerin und Richterin am Europäischen Gerichtshof  Maria Berger, erlaube ein Gericht die Abschiebung, würde aber das Ministerium nicht dazu zwingen. Eine Auskunft, die das Ministerium des Inneren mit unzähligen Aussendungen zu bekämpfen versucht.

Nehammer verstieg sich sogar in die Aussage, ihm sei bei Nichtabschiebung Amtsmissbrauch vorzuhalten. Belege für diese Verpflichtung konnte er allerdings keine erbringen, weshalb er sich die Frage gefallen lassen muss, warum er ausgerechnet jetzt so medienwirksam und mit unverkennbarer Häme abschieben ließ. Einige der Exekutivbeamten riefen den protestierenden Mitschüler*innen bei der Abschiebung zu: „Jetzt könnt ihr nochmal nachwinken.“ So klingt die dumpfe Lust an der Härte.

Der grüne Gegenangriff

Für die Grünen ist die Situation jetzt hochgefährlich. Behaupten, dass die Abschiebung grundsätzlich unrechtgemäß war, können sie nicht, denn die Familie hielt sich illegal in Österreich auf und hatte sich mehrmals einer Ausreise entzogen. Sie müssen deshalb auf Gesetzesänderungen drängen, um humanitärere Lösungen für Fälle wie diese zu finden.

Nur die ÖVP weiß sehr genau, dass es in Österreich seit vielen Jahren stabile Mehrheiten für Verschärfungen des Asylrechts gibt, aber niemals welche für Erleichterungen. Die hochfahrenden Auftritte des Innenministers sind hierdurch erklärbar, denn er weiß eine gesellschaftliche und auch eine parlamentarische Mehrheit hinter sich. Von diesem Pfund gedenkt er zu wuchern.

Ein weiteres Faktum spielt der türkisen ÖVP in die Karten: die Natur des österreichischen Katholizismus. Katholiken echauffieren sich gerne über Papst und Kanzler, gehen aber sonntags immer wieder brav zur Kirche und machen auch am Wahlsonntag das Kreuz am gleichen Platz. Es geht ihnen mehr um eine deklamatorische Betonung der Moral, die dann in der Praxis im „Pragmatismus“ ersäuft wird.

Das genaue Gegenteil sind die Wähler der Grünen. Die Verletzung von hohen Prinzipien, wie denen der Menschenrechte (in diesem Fall der Kinderrechte), wird nicht verziehen. Folglich müssen die Grünen jetzt kämpfen, wenn sie bei der nächsten Wahl nicht baden gehen wollen. Die Nationalratswahl im Jahr 2017, bei der die Grünen nicht einmal mehr die Vier-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament geschafft hatten, bewies, dass sie über keine treue Basis verfügen. Die nächste Wahl könnte ähnlich für sie ausgehen.

Den grünen Gegenangriff bereitete ihre Klubobfrau Sigrid Maurer vor und schoss sich dabei auf den Innenminister ein – selbstverständlich geschah dies ebenso im Fernsehen. Der Angriff wird über zwei Flanken geführt. Einerseits wissen die Grünen, dass es nur eine Sache gibt, den der Medienboulevard in Österreich mehr liebt als den Strahlemann Sebastian Kurz und das sind kleine Kinder. Maurer fordert, gemeinsam mit vielen Personen des öffentlichen Lebens in Österreich, den besseren Schutz der Kinder.

Nicht nur der Schutz der abgeschobenen jungen Wienerinnen hat sie dabei im Sinn, sondern auch den der in den Elendslagern in Bosnien und Griechenland sitzenden Flüchtlinge. Hier wird auch über Kirchen und Wohlfahrtsverbände getrommelt und bereits nach Unterkünften gesucht. Diese Bewegung ist bereits seit der Weihnachtszeit in Gang und es gab auch schon mahnende Worte der Bischöfe.

Weil sich auch „schwarze“ ÖVP-Bürgermeister im ganzen Land aufnahmebereit zu Wort meldeten, also solche Konservative, denen die türkisen Buberl um Kurz ohnehin ein Dorn im Auge sind, kann diese Initiative durchaus gefährlich werden, droht sie doch zumindest zeitweilig die ÖVP zu spalten. Außerdem: Einen echten „Anti-Moral“-Wahlkampf ist die türkise ÖVP sicherlich auch nicht bereit zu führen.

Der zweite Angriff Maurers zielt unmittelbar auf Nehammer. Die grüne Klubfrau fragt aufgeregt im TV, was der Innenminister mit der Abschiebeaktion denn vertuschen wolle. Sie würde die Frage natürlich niemals stellen, wenn sie die Antwort nicht selbst geben könnte: sein eigenes Versagen.

Das ist tatsächlich beachtlich. In Wien fanden am letzten Wochenende – trotz Verbotes – riesige Anti-Corona-Demos statt. Von den Eindämmungsmaßnahmen genervte Bürger, Aluhutträger und ganz viele waschechte Rechtsradikale waren darunter, die jetzt ihr Chance gekommen sehen. Nehammers Polizei ließ sich bis in die Nacht von den teils gewaltsamen Ausschreitungen durch die Stadt jagen. Es waren für Wiener Verhältnisse ungewöhnlich schwere Demonstrationen. Die Schuld sieht Nehammer bei seinem Vorgänger von der FPÖ, Herbert Kickl, der die Massen dazu aufgestachelt habe.

Genüsslich wirft die grüne Maurer nun Nehammer vor, dass es sich für „starke Männer“ nicht geziemt, nicht stark zu sein. Und ein Zeichen von Stärke ist die Schuldzuweisung des Amtsvorgängers sicherlich nicht. Auch hat Nehammer, der jetzt bald so lange wie Kickl das Ministerium führt, dort immer noch nicht aufräumen können mit all den Skandalen, in die beispielsweise das dem Ministerium unterstellte Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) verwickelt ist.

Das BVT ist allerdings nur eine offene Flanke der türkisen Bewegung. Die ÖVP hat nahezu täglich mit neuen Enthüllungen aus der Zeit ihrer Koalition mit der FPÖ zu kämpfen. Gerade geriet der damalige ÖVP-Finanzminister Hartwig Löger in jenes bekannte schlechte Licht. Er war Vorstand der großen österreichischen Versicherung UNIQUA gewesen, deren Tochtergesellschaft, PremiQaMed, eine Betreiberin von Privatkliniken, 50 000 Euro an die ÖVP gespendete.

Während Löger das Finanzministerium innehatte, erhöhte er den Privatkrankenanstalten-Finanzierungsfonds, womit der PremiQaMed Millionen beschert wurden. Eine Erhöhung dieses Fonds hatte es zuvor lange nicht gegeben. Schlechte Optik, aber nichts Kriminelles, meint die ÖVP.

Die Grünen wollen dies nun alles nicht mehr hören. Sie gehen auch hier zum Angriff über und versuchen das eigene, „saubere“ Profil zu schärfen, indem sie den Koalitionspartner als in zahlreichen Skandalen verwickelt zeigen. Ein riskanter Versuch, denn Skandale dieser Art haben traditionell nur wenig Einfluss auf Wahlentscheidungen. Wer sich über Korruption aufregt, wählt die ÖVP ohnehin nicht.

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