Tunesien: Coup nach Plan

Präsident Kais Saied am Sonnt bei der Dringlichkeitssitzung mit Militärs, die sich eigentlich aus der Politik heraushalten wollten. Bild: carthage.tn

Der tunesische Präsident übernahm am Sonntag die Macht, setzte die Regierung ab, suspendierte das Parlament, hob die Immunität der Abgeordneten auf. Der Plan war schon im Mai geleakt worden.

 

Wie ein Coup von statten geht und Ergebnis einer Verschwörung ist, konnte man eben in Tunesien sehen. Dort hat Präsident Kais Saied, ein Verfassungsrechtler und politisch unabhängig, die Regierung mitsamt dem Ministerpräsidenten Hichem Mechichi am Sonntag abgesetzt. Er werde die Exekutive mit einem neuen Ministerpräsidenten übernehmen. Zudem wurde das vom Militär abgeriegelte Parlament für 30 Tage suspendiert, die Immunität der Abgeordneten der Abgeordneten wurde aufgehoben.

Rached Ghannouchi, Parteichef der islamischen Partei Ennahda, die von der Regierungs- zur Oppositionspartei wurde, und Parlamentspräsident, bezeichnete das Vorgehen des Präsidenten als „Staatsstreich“. Die Partei und das tunesische Volk würden die „Revolution“ verteidigen, sagte er. Anhänger von Ennahda protestierten am Parlament, das Militär verhinderte, dass sie in das Gebäude eindringen konnten. Hintergrund ist das Versagen der Regierung in der Covid19-Pandemie, eine anhaltende politische Krise und das weitere Versinken des Landes in Schulden, in dem die Revolutionen des „Arabischen Frühlings“ 2010 begonnen hatte.

Weiterhin geht es darum, ob das Land einen wie auch immer gemäßigten islamischen Kurs fährt oder eine westlich orientierte, säkulare und demokratische Regierungsform behält. Am Sonntag kam es jedenfalls zu Freudenkundgebungen über die Absetzung der Regierung, aber die Proteste gegen Coup, der auch von vielen Parteien und Gewerkschaften verurteilt wird, setzten sich auch am Montag vor dem Parlament fort. Am Montag stürmten auch Sicherheitskräfte das Redaktionsbüro von al-Jazeera, offenbar wird der Sender als gefährlich betrachtet, weil er die islamischen Kräfte unterstützt.

Der Präsident, der auch Oberkommandierender der Streitkräfte ist,  beansprucht, verfassungsgemäß gehandelt zu haben und berief sich auf Artikel 80 der Verfassung. Allerdings darf der Präsident nach dem Artikel nicht das Parlament auflösen, was Saeid einräumte, ob es suspendiert werden kann, ist allerdings auch fraglich. Zudem müsste er sich mit dem Regierungschef, dem Parlamentspräsidenten und  dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichts beraten haben, was wohl nicht geschehen ist. Nach der Verfassung hat der Präsident 30 Tage Zeit, bis der Parlamentspräsident oder 30 Abgeordnete das Verfassungsgericht auffordern können zu prüfen, ob die Bedingungen für den Ausnahmezustand weiter bestehen oder nicht: „Gemäß der Verfassung habe ich von der Lage erzwungene Entscheidungen getroffen, um Tunesien, den Staat und das tunesische Volk zu retten. Wir bewegen uns in sehr delikaten Zeiten in der Geschichte Tunesiens.“ Und er warnte, dass diejenigen, die zu Waffen greifen, von den Streitkräften bekämpft würden.  Saeid ging am Sonntagabend  auf die Habib-Bourguiba Avenue und ließ sich von Anhängern feiern.

Gestern forderten in Tunis und in anderen Städten Demonstranten die Auflösung des Parlaments, das kaum mehr handlungsfähig war sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung unter Vorsitz des amtierenden Präsidenten. Die Unzufriedenheit wuchs mit der Pandemie-Krise, der Überlastung des Gesundheitssystems und eine der höchsten Todesraten, weil die Regierung nicht entschieden handelte. Es gab aber auch eine politische Krise. Der im Oktober 2019 mit 70 Prozent gewählte Kais Saied hat erst nach mehreren Anläufen und Verweigerungen der islamischen Partei Ennahda, die als größte Partei aus den Wahlen hervorging, eine Regierung unter Elyes Fakhfakh von der Partei Ettakatol im Februar 2020 bilden können. Sie hielt bis September, wurde dann abgelöst von der Regierung unter dem jetzt abgesetzten Ministerpräsidenten Hichem Mechichi, der im Januar eine Krise auslöste, weil er 13 neue Minister berief, die zwar vom Parlament, aber nicht vom Präsidenten bestätigt wurden, weil einige unter Verdacht der Korruption standen und Interessenkonflikte vorlagen. Das Kabinett bestand aus lauter unabhängigen Ministern, darunter 8 Frauen. Im Februar entließ 5 Minister und ersetzte sie durch amtierende Minister. Im April verweigerte der Präsident das Gesetz zur Einrichtung des Verfassungsgerichts zu unterzeichnen. Seit 2014 war das Verfassungsgericht nicht mehr besetzt worden.

Wie der Coup über die Bühne laufen sollte

Interessant ist, dass im Mai Berater des Präsidenten diesen dazu aufgefordert hatten, die Kontrolle des Landes unter Ausrufung des Notstands zu übernehmen. Vorgeschlagen wurde, sich dazu auf Artikel 80 der Verfassung zu berufen, was Kais Saied schließlich auch gemacht hat. Ende Mai hat Middle East Eye einen entsprechenden, „absolut streng geheimen“ Brief vom 13. Mai an den Stabschef des Präsidenten, der dem Medium geleakt worden war, veröffentlicht.

Der Präsident sollte in seinem Palast eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats wegen der Pandemie, der Sicherheitssituation und dem Zustand der öffentlichen Finanzen einberufen. Dann solle er eine „verfassungsgemäße Diktatur“ erklären, das sei im Falle eines Notstands  ein Mittel, „um alle Macht in den Händen des Präsidenten der Republik zu konzentrieren“. Er solle den Regierungschef Hichem Mechichi und den Parlamentspräsidenten Rached Ghannouchi absetzen und sie daran hindern, den Präsidentenpalast zu verlassen, der vom Internet und allen nach außen gehenden Verbindungen getrennt werden müsse. Schließlich solle der Präsident im Beisein von Mechichi und Ghannouchi eine Ansprache an das Volk im Fernsehen halten.

Vorgeschlagen wurde, dass ein General zum Innenministerernannt wird und dass Truppen zum Schutz wichtiger Orte und Institutionen eingesetzt werden. Vor allem Politiker der Ennahda-Partei, aber auch Geschäftsleute und Mitarbeiter des Ministerpräsidenten sollten unter Hausarrest gestellt werden. Und um die Machtergreifung für das Volk schmackhaft zu machen, sollten Rechnungen und Telefonkosten, Bankkredite und Steuern 30 Tage lang nicht erhoben werden, während die Preise von Grundnahrungsmitteln und Benzin um 20 Prozent reduziert würden.

Ende Mai musste der Präsident einräumen, den Brief gelesen zu haben. Vermutlich wurde der Plan erst einmal beiseite gestellt, weil das Militär öffentlich erklärte, sich nicht an politischen Prozessen zu beteiligen. Die Zurückhaltung scheint gefallen zu sein. Als Kais Saied die Absetzung der Regierung in einer Ansprache im Fernsehen am Sonntag verkündete, saßen um ihn Offiziere. Ob sie den Coup wirklich unterstützen ist fraglich, aber das Militär hat sich an der Machtübernahme schon allein durch die Präsenz am Parlament beteiligt. Der Präsident kündigte an, dass der Verteidigungs- und Justizminister ersetzt werden.

Der Plan zur Machtübernahme scheint bislang als Orientierung zu dienen. Am Sonntag hatte der Präsident zunächst eine Dringlichkeitssitzung des Nationalen Sicherheitsrats mit Vertretern des Militärs einberufen, wo er seine Entscheidung vorstellte. Das wurde demonstrativ als Video über die Website des Präsidenten verbreitet. Danach rief er den Notstand und die Entlassung der Regierung sowie die Suspendierung des Parlaments sowie die Aufhebung der Immunität  nach Artikel 80 aus.

Ähnliche Beiträge:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert