Vom Bauernprotest gegen die indische Regierung

Balbir Singh Rajewal, Präsident der Bhartiya Kisan Union, beim Protest der Bauern am 21. 1.2021. Bild: Harvinder Chandigarh/CC BY-SA-4.0

Seit mehreren Monaten protestieren Zehntausende von Bauern in Indien. Sie befürchten, durch neue Gesetze ihrer Lebensgrundlagen beraubt zu werden, und sind massiver staatlicher Gewalt ausgesetzt.

Der diesjährige indische Nationalfeiertag wurde in diesem Jahr von Protesten überschattet, wie sie die Republik schon lange nicht mehr erlebt hatte. Tausende von Bauern reisten aus den ländlichen Regionen des Punjab nach Neu-Delhi, teils zu Fuß, auf ihren Traktoren oder mittels Bussen, um gegen die neoliberalen Agrarreformen der Regierung Narendra Modis zu demonstrieren.

Die Polizei reagierte harsch. Barrikaden wurden errichtet, während Tränengas und Wasserwerfer zum Einsatz kamen. Brutale Auseinandersetzungen fanden statt. Zeugen zufolge wurde ein Demonstrant erschossen. Die Behörden widersprachen dieser Version. Laut ihnen wurde der Mann Opfer eines umstürzenden Traktors.

Seit mehreren Monaten protestieren Bauern aus Punjab, Haryana, Uttar Pradesh, Rajasthan, Madhya Pradesh und einigen anderen Bundesstaaten gegen drei Gesetzesbeschlüsse, die im September erlassen wurden. Sie befürchten den Verlust ihrer Lebensgrundlage und die massive Ausbeutung durch profitgierige Privatkonzerne. Im Fokus steht der Verlust garantierter Mindestpreise. Die Reform  sieht vor, dass Landwirte ihren Ertrag ohne Zwischenhändler direkt an private Firmen verkaufen können. Während die Regierung hierin einen Vorteil für die Erzeuger sehen möchte, befürchten Bauern einen endgültigen Kniefall vor den mächtigen Konzernen.

Diesen Kniefall wollen die Bauern verhindern. Zu ihren Hauptforderungen gehören deshalb die Rückwirkung der Reformen und die Wiederherstellung der Mindestpreise, die sie als ihr grundlegendes Recht betrachten.

Die Modi-Regierung will von all dem nichts wissen. Stattdessen werden die Demonstranten entmenschlicht und als politische Feinde und Separatisten diffamiert. Während behauptet wird, dass die Reform zugunsten der Landwirte sei, wird gleichzeitig betont, dass man keine Garantien übernehmen könne. Die Möglichkeit, dass Konzerne ein Kartell bilden, um die Bauern auszubeuten, besteht demnach weiterhin.

Laut Kritikern wird dies die Macht privater Konzerne stärken, während den meisten Landwirten Arbeitslosigkeit und Verschuldung drohen. Bei über 85 Prozent von ihnen handelt es sich um Kleinbauern. Konkret bedeutet dies, dass sie weniger als zwei Hektar Land besitzen und lediglich einen kleinen Ertrag gewinnbringend erwirtschaften können. Die meisten Kleinbauern stammen aus marginalisierten Gemeinschaften, denen das Wissen sowie die Bildung fehlt, um sich auf dem modernen Markt verteidigen zu können. Die Sorge vor der Ausbeutung seitens der Konzerne, die der Staat auf sie loslässt, ist deshalb mehr als berechtigt.

Die Situation der Bauern hat sich in den letzten Jahren stetig verschlechtert

Der Agrarbereich deckt lediglich 18 Prozent von Indiens BIP ab, doch gleichzeitig sind 60 Prozent der Arbeiterschaft von ebenjenem Bereich abhängig. Die indische Landwirtschaft ist stark abhängig vom Monsun-Regen und sobald dieser nachlässt, sind die Auswirkungen spürbar. Hinzu kommt, dass die Landwirtschaft seit Jahrzehnten von Armut, Unterentwicklung und Korruption geprägt ist. Kleinbauern sind die größten und schwächsten Opfer dieser Verhältnisse. Das Resultat ist unter anderem die extrem hohe Selbstmordrate unter indischen Bauern. Allein im Jahr 2019 nahmen sich mindestens 10.281 Landwirte das Leben.

Während Modi im Laufe seiner Wahlkampagnen eine Einkommenserhöhung für Landwirte versprochen hat, ist die Realität eine andere. Die Situation der Bauern hat sich in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Der Regierung gelang weder eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse noch die Schaffung neuer Beschäftigungsstellen jenseits des Agrarsektors. Innerhalb der ländlichen Bevölkerung stieg zwischen den Jahren 2017 und 2018 die Arbeitslosenrate um sechs Prozent – der höchste Anstieg in den letzten 45 Jahren. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren die Preise für Agrarmittel und damit auch die Kosten der Bauern massiv gestiegen sind. All diese Umstände haben dazu geführt, dass die neuen Reformen mitsamt der fortlaufenden Pandemie Indiens Landwirte besonders hart treffen werden.

Tatsächlich sind Bauernproteste in Indien allerdings keine neue Entwicklung. 2017 demonstrierten tamilische Bauern aus dem Süden des Landes einhundert Tage lang in Neu-Delhi. Im selben Jahr wurden sieben Bauern von Polizisten in Madhya Pradesh getötet. 2018 forderten Zehntausende von Landwirten in Mumbai ihre Rechte ein und verlangten Entschädigungsgelder für Ernteschäden.

Im Hintergrund steht der Konflikt zwischen der Sikh-Mindert und rechten Hindunationalisten

Die Bauernproteste nehmen allerdings auch eine identitätspolitische Ebene ein. Die meisten Demonstranten stammen nämlich aus Punjab und Haryan – jenen nördlichen Bundesstaaten, die bekannt sind als Indiens „Futtertopf“ – und sind Angehörige der Sikh-Minderheit, deren Männer bekannt sind für ihre langen Bärte und ihre farbigen Turbane. Die Identität der Sikhs, die in Punjab die Mehrheit darstellen, ist der hindunationalistischen BJP-Partei Modis ein Dorn im Auge. Ähnlich wie im Fall der muslimischen oder christlichen Minderheit werden Sikhs von rechten Hindunationalisten angefeindet und drangsaliert.

Nachdem Indiens Muslime im vergangenen Jahr en masse gegen die diskriminierenden Gesetze der BJP demonstrierten, sind es nun Bauern aus der Sikh-Gemeinschaft, die auf die Straßen gehen. Hierbei handelt es sich um keinen Zufall, denn in Punjab ist die Identität der Sikh eng mit der Agrikultur verstrickt. Die Sikhs wollen nicht, dass ihr Leben von der  Regierung in Neu-Delhi kontrolliert wird und schreien deshalb auch nach mehr Autonomie.

Doch sobald derartige Tendenzen deutlich werden, läuten in Neu-Delhi die Alarmglocken. Bereits in der Vergangenheit kämpften die Sikhs in Punjab für ihre Unabhängigkeit. In den 1980er-Jahren gab es im Bundesstaat eine gewalttätige Revolte, in der Separatisten „Khalistan“, einen unabhängigen Sikh-Staat ausriefen. Der Grund hierfür war die Tatsache, dass die Eliten in Neu-Delhi sich für die Belange der Sikhs kaum interessierten und diese zunehmend marginalisierten und unterdrückten.

Mit der damaligen militanten Bewegung haben die aktuellen Bauernproteste allerdings nichts zu tun. Tatsächlich geht es in erster Linie um grundlegende politische Freiheit und ein würdevolles Leben, das von der neoliberalen Agenda der Regierung, die im Interesse der Konzerne agiert, bedroht wird.

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